„Also wird hoffentlich unser, was zu gleicher Zeit Eurer Wunsch ist, im Jahr 1941 in Erfüllung gehen u. wir feiern dann Weihnachten u. Neujahr bei Euch.“
Brief von Heinrich und Selma Wolff am 3.1.1941 an ihre Söhne Herbert und Helmut
Die Lebenssituation jüdischer Menschen im Nationalsozialismus war geprägt von Entrechtung, Verfolgung und schließlich Ermordung. Nachdem sie einen Großteil ihres Lebens im rheinhessischen Nackenheim verbracht hatten, war das Ehepaar Selma und Heinrich Wolff durch die zunehmende Ausgrenzung gezwungen im Sommer 1937 im nahegelegenen Mainz vermeintliche Anonymität und Schutz zu suchen. Die Wolffs schickten ihren jüngeren Sohn Helmut im April des Jahres in die USA. Auch Sohn Herbert begann bereits mit den Vorbereitungen für seine Auswanderung. Nachdem beide Söhne Zuflucht in den USA gefunden hatten, schreiben die Eltern fast wöchentlich Briefe, aus denen die zunehmende Verschlechterung ihrer Lebenssituation deutlich wird und die – trotz der oftmals versteckten Schreibweise und Selbstzensur – einen Einblick in ihren Alltag unter der NS-Diktatur geben. Zu den seltenen Zeitdokumenten aus erster Hand gehören Briefe, die den Wandel der Lebensumstände und das Erlebte schildern. Die nahezu vollständig erhaltenen Briefe, die Selma und Heinrich Wolff aus Nackenheim mit ihren Kindern in den USA austauschten, sind solch seltene authentische Zeugnisse. Die knapp 190 Briefe und Postkarten – zusammengetragen und bearbeitet von den Herausgebern Raymond Wolff, Hans Berkessel, Hans-Dieter und Martina Graf – werden mit dem Buch erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Als Projektmitarbeiter des IGL darf ich mich seit rund zwei Jahren bei der Konzeption von Ausstellungen und Publikationen mit der jüdischen Geschichte und der Zeit des Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz befassen. Meine Aufgabe bei der Bearbeitung der Briefedition lag u.a. in der Recherche von Ereignissen und Beschaffung von historischem Bildmaterial, das die geschilderten Geschehnisse in den Briefen ergänzen sollte.
Hier nun ein Auszug aus dem Buch und den Briefen, in denen auch die Weihnachtszeit im Jahr 1939 thematisiert wird:
Die Postverbindungen waren kriegsbedingt Anfang des Jahres 1940 noch schlechter geworden, und Briefe waren oft monatelang unterwegs: eine schwere Zeit für Selma und Heinrich, waren doch die Briefe das Einzige, was die Verbindung zu den Söhnen aufrecht erhielt und der Gang zum Briefkasten, um nach Post zu schauen, oftmals der einzige Lichtblick im tristen Tageseinerlei der beiden. […] Immer wieder wurde die Sehnsucht, die die Eltern nach den Kindern hatten, thematisiert und der Wunsch geäußert, in die USA ausreisen zu können und wieder eine Familie um sich zu haben. Noch waren Selma und Heinrich zwar optimistisch, dass die Auswanderung auf irgendeine Weise bald möglich sein würde, dennoch wurden die Söhne inständig gebeten, schnell mit den Verwandten zu reden und um die Ausstellung der Zusatzbürgschaft zu bitten. Wie stark die Frage der notwendigen Bürgschaften und anderen Ausreisepapiere inzwischen im Zentrum stand, mag auch die Tatsache zeigen, dass die Söhne sogar ermahnt wurden, an alle formalen Einzelheiten zu denken und das Formular gut durchzulesen, damit die Vorladung in das amerikanische Konsulat in Stuttgart und die Erteilung der Ausreisepapiere nicht letztlich an formalen Fehlern scheitere.
Selma und Heinrich bedauerten, dass sie aus finanziellen Gründen und wegen der Schwierigkeiten des postalischen Verkehrs den Söhnen keine Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag machen konnten.
Lieber Herbert & lb. Helmut!
Auch diese Woche hatten wir leider noch keinen Brief von Euch lb. Kinder und sind wir auf Eure Post sehr spannend. Hoffentlich seid Ihr gesund u. habt die Weihnachten u. Neujahr gut verbracht.
Auch der l. Mutter u. mir selbst geht es gottlob gesundheitlich ganz ordentlich u. sind wir auch ganz gut in das Jahr 1941 hineingerutscht u. erzählten uns von den vergangnen Silvesterabenden früherer Zeiten, wo wir so schön beisammen waren. Traditionsgemäß wie bei früheren Silvesterabenden haben wir das alte Jahr 1940 beschlossen u. haben der letzten Flasche Sekt (Henkell trocken) den Hals gebrochen u. dieselbe in Gedanken bei Euch auf Euer Wohl u. Gesundheit getrunken. Auch ein paar gute Weihnachtsplätzjen [!] hatte lb. Mutter dazu gebacken u. war es ein schöner Abend so mancher alten Erinnerung. Nun schlossen wir das alte Jahr in der Hoffnung u. Bitte zum l. Gott, dass er uns alle weiter Gesundheit schenkt u. dass wir nächstes Neujahr zusammen dorten bei Euch feiern können. Die l. Mutter ist ganz mit dem Wunsch beseelt u. freut sich, nächste Weihnachten wieder für ihre guten Buben alles Gute zu kochen, was sie gerne essen, gerade wie in N[ackenheim]. Also wird hoffentlich unser, was zu gleicher Zeit auch Eurer Wunsch ist, im Jahr 1941 in Erfüllung gehen u. wir feiern dann Weihnachten u. Neujahr bei Euch. Leider wird es mit der Einwanderung nach U.S.A. immer erschwerter u. kommen z. Zt. in Stuttgart wenig Leute zu ihrem Vorhaben. Auch das J[üdische] Nachrichtenblatt bringt als neu heute, dass jetzt jeder Auswanderer nach U.S.A. eine Einwanderungsgenehmigung erforderlich hat, welche von den dortigen Verwandten bezw. Kindern zu beschaffen wäre. Am besten erkundigt Ihr l. Kinder Euch mal ganz genau dorten beim Hilfskomitee, und lasset uns wissen, was Ihr dorten alles in dieser Angelegenheit erfahren habt. Als Neuigkeit lasse Euch wissen, dass uns die Tante Dina von der Brück besucht hat, dieselbe lässt Euch herzl. grüßen ebenso Fritzjen. Auch Bruder Sauer erkundigte sich nach Euch u. lässt Euch grüßen. Nun l. Kinder schließe ich für heute u. hoffe, recht bald wieder von Euch zu hören mit vielen
herzl. Grüßen u. Küssen an Euch Euer Euchlieb. Vater
An alle l. Verwandte dorten beste Grüße.
Trotz aller Bemühungen der Kinder und der Eheleute Wolff schafften diese es nicht mehr, rechtzeitig aus dem Deutschen Reich zu fliehen, und wurden im März 1942 über Darmstadt in das Ghetto Piaski bei Lublin deportiert, wo sie kurze Zeit später starben. Die Briefe an ihre Söhne blieben lange Zeit unentdeckt, bis sie ihr Enkel Raymond Wolff an sich nahm und bis zu seinem Tod im April 2021 an deren Veröffentlichung mitwirkte.
Verfasser: Henrik Drechsler
Redaktionelle Bearbeitung: Jasmin Gröninger