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Anna Seghers: Das siebte Kreuz

von Hans Berkessel

Vor 70 Jahren entstand der Roman „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers – Mainzer Weltliteratur

Dieser Titelholzschnitt zierte die deutschsprachige Erstausgabe des Romans "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers 1942.

"Alles, was das Alleinsein aufhebt, kann einen trösten. Nicht nur was von andern gleichzeitig durchgelitten wird, kann einen trösten, sondern auch was von andern früher durchlitten wurde." Solche Gedanken gehen Georg Heisler, dem Protagonisten in Anna Seghers zeitgeschichtlichem Roman "Das siebte Kreuz" durch den Kopf, als er in der abendlichen Dämmerung die Bilder der Passionsgeschichte Jesu im Martinsdom betrachtet, in den er sich vor den Schergen des KZ-Systems des "Dritten Reiches" geflüchtet hat. "Ist er nicht wie das Kind in der Krippe, für das es ebenfalls 'keinen Raum' gab? Ist er nicht wie der Nazarener beim Abendmahl, der ebenfalls 'verraten' wurde und dem Soldaten den Todesstoß versetzen wollen? Ist er nicht auf dem besten Wege, gekreuzigt zu werden, wie der Mann aus Nazaret, da droben im KZ das Kreuz schon auf ihn wartet? Im Roman vom Siebten Kreuz erzählt Anna Seghers also eine neue Passionsgeschichte, freilich in umgekehrter Bewegung: nicht zum Kreuz hin, sondern vom Kreuz weg." Mit diesen Reflexionen geht der Tübinger Theologe und Literaturwissenschaftler PROF. DR. KARL-JOSEF KUSCHEL, Schüler von HANS KÜNG und WALTER JENS, in seinem überzeugenden Vortrag "Das leer gebliebene Kreuz. Zur Funktion jüdisch-christlicher Motive im Werk von Anna Seghers" beim wissenschaftlichen Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages der Schriftstellerin [vgl. Argonautenschiff 10/2001, S. 108 ff.], der Frage nach, warum die "kommunistische" Autorin jüdischer Herkunft ausgerechnet ein christliches Gotteshaus als einen der wichtigen Schauplätze des Romans gewählt habe. Und er stellt dabei – bei aller Distanz zur Katholischen Kirche als Institution, zu den Herrschertypen und Machtfiguren – auch eine Identifikation mit Teilen der Geschichte des Christentums fest. Der Verweis auf früheres Leid solle dabei Kraft und Trost spenden für die Kämpfe von heute, eine neue Solidaritätsgemeinschaft begründen – wie sie dann ja in einer Art "Volksfrontperspektive" des Romans durch die Hilfe sichtbar wird, die der Flüchtling Heisler von Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit unterschiedlichen Einstellungen zum NS-Regime erfährt.


"Nirgendwo zitiert man mit mehr Berechtigung ROLF SCHNEIDERS 20 Jahre alte Feststellung, dass die 'eigentliche, die tiefste Identität der großen deutschen Schriftstellerin Anna Seghers die des jüdischen Mädchens Netty Reiling aus dem katholischen Mainz' ist, als hier im Mainzer Dom." So hatte der Mainzer Kulturdezernent PETER KRAWIETZ in seinem Grußwort zur Lesung der Dom-Szene durch die Staatsschauspielerin GABY REICHARDT, die mit überwältigender Beteiligung der Mainzer Bevölkerung als Auftakt der Jahrestagung der Seghers-Gesellschaft am 23. November 2000 im vollständig gefüllten Mainzer Dom stattfand, eine weitere Begründung für die Wahl dieses Handlungsortes gefunden. Und PRÄLAT DR. WALTER SEIDEL, der für das Domkapitel mit der Begrüßung der Familie Seghers-Radvanyi und der Berliner und Mainzer Gäste die Veranstaltung eröffnet hatte, fügte hinzu: "Wie hätte sie [Anna Seghers] sonst in ihrem großen Romanwerk 'Das siebte Kreuz' […] mit der ganzen Wucht ihrer erzählenden Kraft den alten und durch die Jahrhunderte jung gebliebenen Dom so eindrucksvoll und lebendig zur Sprache bringen können. Dieser Text ist ja unbestritten das bedeutendste literarische Zeugnis, das mit unserem Mainzer Dom verbunden ist." Schon der Schriftstellerkollege und Zeitgenosse CARL ZUCKMAYER hatte in seinem Grußwort zum Band "Anna Seghers aus Mainz" (1973) den Roman "als überragendes Denkmal, Mahnmal" gewürdigt, das „aus dem Zeitschaffen herausragt und Bestand haben wird: Es ist das einzige epische Werk der gesamten deutschen Exilliteratur, in dem nicht nur mit gerechtem Zorn Partei genommen wird, sondern – aus der Ferne – ein menschlich glaubhaftes Bild des verfinsterten Deutschland gelungen ist. Es ist nicht sine ira et studio geschrieben, ja es stürmt in heißer Empörung gegen die Makel der Zeit an und erhebt sich dennoch zur Zeitlosigkeit. Da lebt unsere alte Stadt, die Gassen, der Dom von Mainz, schon im Sog der Verhältnisse, doch unvergänglich durch das Wort. Da entschleiert sich die Rheinebene, das wellige Land zwischen Worms und Mainz, zu einer geschichtsträchtigen Landschaft vor europäischer Weltsicht. Da tönt, im nächtlichen Gespräch der Frauen, mitten aus Dumpfheit und Gleichgültigkeit, die ahnende Angst an und das hilflose Erbarmen. Da steht der Schäfer am Taunushang, wie von Dürer gezeichnet. Ich grüße Netty Reiling in Bewunderung für die Dichterin Anna Seghers."

Zur Geschichte des Romans

Der Roman "Das siebte Kreuz" entstand in den Jahren 1937 bis 1939 in Paris, wohin Anna Seghers, als Kommunistin und Jüdin doppelt bedroht, 1933 geflohen war. Hier war die Schriftstellerin bei der Gestaltung des Themas auf Informationen der antifaschistischen Presse sowie auf Berichte neu ankommender Exilanten angewiesen. Als Handlungsraum wählte die in Mainz geborene Autorin das Rhein-Main-Gebiet, dessen Bewohner und Topografie sie aus ihrer Jugendzeit genau kannte. Der Roman erschien zuerst in englischer Sprache 1942 beim Bostoner Verlag Little, Brown & Company. Er hatte als Buch des Monats, dann als Comic-Strip-Version, die in 35 amerikanischen Tageszeitungen erschien, als Taschenbuchausgabe für amerikanische Soldaten und als Hollywood-Verfilmung unter dem Titel "The Seventh Cross" (1944) einen spektakulären Erfolg in den USA. 1942 erschien im Exil-Verlag "El Libro Libre" in Mexiko, der letzten Exilstation von Anna Seghers, eine erste deutschsprachige Ausgabe. Sein deutsches Publikum erreichte der Roman aber erst nach dem Krieg: Er erschien 1946 beim Aufbau-Verlag in Berlin, 1947 in München (Desch-Verlag) und 1948 als Rotationsroman bei Rowohlt in Hamburg. Gleichzeitig wurde und wird der Roman in zahlreichen verschiedenen Ausgaben beim (Ost-)Berliner Aufbau-Verlag publiziert, der das Gesamtwerk von Anna Seghers und seit 2000 eine neue, auf 21 Bände angelegte Werkausgabe betreut. Seit 1962 erschien zusätzlich eine Lizenzausgabe des westdeutschen Luchterhand Verlages.

Die Handlung des Romans

Im Zentrum der Romanhandlung, die im Jahre 1937 spielt, steht eine spannende Fluchtgeschichte: Sieben Häftlingen gelingt der Ausbruch aus dem (fiktiven) rheinhessischen Konzentrationslager "Westhofen". In gezielter Verfremdung spielt die Autorin hier an auf das real existierende KZ Osthofen bei Worms, das im März 1933 zur Ausschaltung und "Umerziehung" politscher Gegner und zur Einschüchterung der Bevölkerung auf dem Gelände einer ehemaligen Papierfabrik, direkt an der Bahnlinie Mainz-Worms, errichtet und schon im Juli 1934 im Zuge der Zentralisierung des KZ-Systems aufgelöst wurde. Der im Roman geschilderte Lageralltag lässt allerdings eher an ein KZ der späteren Zeit wie Dachau oder Buchenwald denken, in denen die Häftlinge nicht nur gedemütigt und geprügelt, sondern auch bereits systematisch ermordet wurden.

Lagerkommandant Fahrenberg lässt sieben Kreuze für die Flüchtlinge errichten, die er binnen einer Woche wieder einfangen will. Trotz des übermächtigen Verfolgungsapparates des NS-Regimes, der nacheinander sechs der Flüchtlinge zur Strecke bringt, gelingt dem siebten, Georg Heisler, die Flucht ins benachbarte Ausland. Das leer bleibende siebte Kreuz symbolisiert einerseits die Verletzbarkeit des NS-Systems durch die Solidarität der "anständigen" Deutschen, die aus den unterschiedlichsten Motiven den Flüchtling nicht nur nicht verraten, sondern ihm Unterschlupf oder andere Hilfe zukommen lassen. Andererseits wird durch die Flucht - nur eines von sieben Häftlingen - nicht wie in anderen Deutschland-Romanen des Exils eine Perspektive der Überwindung des NS-Regimes, sondern lediglich die des Exils ins sichere Ausland eröffnet.

Eine Schlüsselszene: Zuflucht im Mainzer Dom

Wir dokumentieren hier in leicht gekürzter Fassung die Szene, in der der Flüchtling Georg Heisler in höchster Not für eine Nacht Zuflucht im Mainzer Dom findet.

Als der Küster fortgegangen und die Haupttür verschlossen und auch der letzte Schall in einem Gewölbe zersplittert war, da begriff Georg, dass er jetzt eine Gnadenfrist hatte, einen so gewaltigen Aufschub, dass er ihn fast mit Rettung verwechselte. Ein heißes Gefühl von Sicherheit erfüllte ihn zum ersten Mal seit seiner Flucht,  ja seit seiner Gefangenschaft. So heftig dieses Gefühl war, so kurz war es. In diesem Loch, sagte er sich, ist es aber verdammt kalt.
Die Dämmerung war so tief, dass die Farben in den Fenstern erloschen. Sie hatten inzwischen den Grad erreicht, wo die Mauern zurückweichen, die Gewölbe sich heben und die Pfeiler sich endlos aneinanderreihen und hochwachsen ins Ungewisse, dass vielleicht nichts ist, vielleicht die Unendlichkeit. Georg fühlte sich plötzlich beobachtet. Er kämpfte mit diesem Gefühl, das ihm Körper und Seele lähmte. Er streckte den Kopf unter dem Taufbecken heraus. Fünf Meter von ihm entfernt, vom nächsten Pfeiler, traf ihn der Blick eines Mannes, der dort mit Stab und Mitra an seiner Grabplatte lehnte. Die Dämmerung löste den Prunk seiner Kleider auf, die von ihm wegflossen, aber nicht seine Züge, die klar, einfach und böse waren. Seine Augen verfolgten Georg, der an ihm vorbeikroch.
Die Dämmerung drang nicht von außen ein wie an gewöhnlichen Abenden. Der Dom selbst schien sich aufzulösen und zu entsteinern. Die paar Weinranken an den Pfeilern und die Fratzengesichter und dort ein zerstochener nackter Fuß waren Einbildungen und Rauch, alles Steinerne war am Verdunsten, und nur Georg war vor Schreck versteinert. Er schloss die Augen. Er tat ein paar Atemzüge, dann war es vorbei, oder die Dämmerung war noch ein wenig dichter geworden und dadurch beruhigender. Er suchte sich ein Versteck. Er sprang von einem Pfeiler zum andern. Er duckte sich, als sei er noch immer beobachtet. An dem Pfeiler, vor dem er jetzt hockte, lehnte, gleichmütig aus seiner Grabplatte über ihn hinwegsehend, ein runder gesunder Mann, auf seinem vollen Gesicht das dreiste Lächeln der Macht. In jeder Hand eine Krone, unbemerkt von Georg, krönte er unablässig zwei Zwerge, die Gegenkönige des Interregnums. Georg sprang in einem Satz, als seien die Zwischenräume belauert, zu dem nächsten Pfeiler. Er sah an dem Mann hinauf, dessen Kleider so reich waren, dass er sich hätte hineinwickeln können. Er fuhr zusammen. Ein menschliches Angesicht, das sich über ihn beugte voller Trauer und Besorgnis. Was willst du denn noch, mein Sohn, gib auf, du bist schon am Anfang zu Ende. Dein Herz klopft, deine kranke Hand klopft. Georg entdeckte einen geeigneten Ort, eine Mauernische. Er rutschte quer durch das Seitenschiff, unter den Blicken von sechs Erzkanzlern des Heiligen Reichs, mit einer abgespreizten Hand wie ein Hund, der sich eine Pfote geklemmt hat. Er setzte sich zurecht. Er rieb das Gelenk seiner kranken Hand, das sich versteift hatte. Er rieb seine Kniegelenke, seine Knöchel und Zehen. […]
Er konnte noch immer von seinem Platz aus den Mann am Eckpfeiler erkennen. Trotz der Dunkelheit war das Gesicht von weitem eher noch klarer. Auf den gekrümmten Lippen das, letzte, das äußerste Angebot Friede statt Todesangst, Gnade statt Gerechtigkeit. [...]
Er musste im Einschlafen gewesen sein. Er erwachte vor Schreck. Der Dom dröhnte. Ein heller Lichtschein flog quer durch den ganzen Dom über seinen vorgestreckten Fuß weg. Sollte er fliehen? War noch Zeit? Wohin? Die Tore waren alle verschlossen bis auf eines, aus dem das Licht fiel. Er konnte vielleicht noch unbemerkt in eine der Seitenkapellen entkommen. Er stemmte sich auf seine kranke Hand, schrie auf und knickte zusammen. Er wagte jetzt nicht mehr, über das Lichtband wegzukriechen. Die Stimme des Küsters erschallte: „Ihr Schlampen, ihr Weibsbilder, jeden Tag was andres!“ Die Worte dröhnten wie Urteilsverkündigungen des Jüngsten Gerichts. Eine alte Frau, die Mutter des Küsters, rief: „Da steht sie ja, deine Tasche.“ Die Stimme der Küstersfrau setzte ein, von Mauern und Pfeilern zurückgeworfen, ein wahres Triumphgeheul: „Ich hab ja gewusst, dass ich sie beim Putzen zwischen die Bänke gestellt hab.“ Die beiden Frauen zogen ab. Es klang, als ob Riesinnen schlurften. Das Tor wurde abermals abgeschlossen. Von allem blieb bloß noch Schall zurück, zerschlug sich und dröhnte noch einmal laut, als wollte er gar nicht versiegen, verhallte im entferntesten Teil und zitterte immer noch, als Georg schon zu zittern aufgehört hatte.
Er lehnte sich wieder an seine Wand. Die Lider waren ihm schwer. Jetzt war es vollkommen dunkel. So schwach war der Schimmer der einzelnen Lampe, die irgendwo in der Dunkelheit schwebte, dass er kein Gewölbe mehr erhellte, sondern einem nur zeigte, dass diese Finsternis schlechthin undurchdringlich war. Und Georg, der sich vorhin nichts anderes gewünscht hatte, atmete schwer und beklommen. [...]
Die Dunkelheit war jetzt für seine Augen nicht mehr zu dicht. Der Kalk auf der Mauer schimmerte schwach wie frisch gefallener Schnee. Er spürte am ganzen Körper, dass er sich dunkel abhob. Sollte er seinen Ort nochmals wechseln? Wann wird man hier vor der Messe aufschließen? Bis zum Morgen gibt es noch unzählbar viele Minuten der Sicherheit. So viele Minuten hat er noch vor sich, wie zum Beispiel der Küster Wochen. Denn auch der Küster ist schließlich nicht für ewig gesichert.
Weit von ihm weg, gegen den Hauptaltar zu, erhob sich ein einzelner Pfeiler hell sichtbar, weil das Licht in seinen Riefen entlanglief. Dieser einzelne helle Pfeiler schien jetzt das ganze Gewölbe zu tragen. Aber wie das alles kalt war! Eine eisige Welt, als hätte sie nie eine menschliche Hand berührt, nie ein menschlicher Gedanke. Als sei er in einen Gletscher verschlagen. Er rieb seine Füße und alle seine Gelenke mit der gesunden Hand. Das ist eine Zuflucht, in der man erfrieren kann. [...]
Georg stockte der Atem. Quer durch das Seitenschiff fiel der Widerschein eines Glasfensters, das vielleicht von einer Lampe erhellt wurde aus einem der Häuser jenseits des Domplatzes oder von einer Wagenlaterne, ein ungeheurer, in allen Farben glühender Teppich, jäh in der Finsternis aufgerollt, Nacht für Nacht umsonst und für niemand über die Fliesen des leeren Doms geworfen, denn solche Gäste wie Georg gab es auch hier nur alle tausend Jahre.
Jenes äußere Licht, mit dem man vielleicht ein krankes Kind beruhigt, einen Mann verabschiedet hatte, schüttete auch, solang es brannte, alle Bilder des Lebens aus. Ja, das müssen die beiden sein, dachte Georg, die aus dem Paradies verjagt wurden. Ja, das müssen die Köpfe der Kühe sein, die in die Krippe sehen, in der das Kind liegt, für das es sonst keinen Raum gab. Ja, das muss das Abendmahl sein, als er schon wusste, dass er verraten wurde, ja, das muss der Soldat sein, der mit dem Speer stieß, als er schon am Kreuz hing. . . Er, Georg, kannte längst nicht mehr alle Bilder. Viele hatte er nie gekannt, denn bei ihm daheim hat es das alles nicht mehr gegeben. Alles, was das Alleinsein aufhebt, kann einen trösten. Nicht nur was von andern gleichzeitig durchgelitten wird, kann einen trösten, sondern auch was von andern früher durchlitten wurde.
Dann erlosch das äußere Licht. Es war noch finsterer als vorher. Georg dachte an seine Brüder, besonders an seinen kleinsten, den er selbst aufgezogen hatte, mit einer Zärtlichkeit, die eher einer Art Kätzchen als einem Kind galt. Er dachte an sein eigenes Kind, das er nur einmal kurz gesehen hatte. Dann dachte er an nichts Bestimmtes mehr. Gesichter kamen und gingen, bald verschwommen, bald überdeutlich. Manche brachten Stücke von Gassen mit, manche Schulhöfe und Sportplätze, manche den Fluss und manche Wolken und Wälder. Sie strömten von selbst auf ihn ein, dass er sich festhalten möge an dem, was ihm lieb gewesen war. Dann wurde alles gestaltloser, er konnte sich weder das Gesicht seiner Mutter noch sonst ein Gesicht zurückrufen. Seine Augen waren ihm wund, als hätte er all das wirklich betrachtet. Weit weg, wo er längst keinen Dom mehr vermutet hatte, leuchtete etwas Buntes auf. Draußen fuhr ein Auto vorbei. Traf sein Licht auf eines der Fenster, schlug der Widerschein auf den Boden. Dunkelheit folgte, wenn sein Licht auf ein Mauerstück traf.
Georg horchte. Der Motor lief weiter. Er hörte das Gequietsche und Gelächter von Männern und Frauen, die in ein offenbar viel zu kleines Auto gezwängt wurden. Sie fuhren ab. Ganz rasch wurden die Fensterfarben zwischen die Pfeiler geworfen, zurückgezogen, immer weiter von Georg weg, Georg fiel der Kopf auf die Brust. Er schlief ein. Er kippte über auf seine kranke Hand. Er wachte vor Schmerz auf. Die tiefste Nacht war schon überschritten. Vor ihm auf dem Mauerstück begann der Kalk zu schimmern. In umgekehrter Folge als am Abend begann zuerst die Dunkelheit zu verdunsten, dann wurden Pfeiler und Wände von einem unaufhörlichen Rieseln ergriffen, als sei dieser Dom aus Sand gebaut. Vom schwächsten äußersten Frühlicht getroffen, entstanden die Bilder in den Fenstern, aber nicht leuchtend, sondern in dumpfen trüben Farben. Zugleich hörte das Rieseln auf, und alles fing an zu erstarren. Das ungeheure Gewölbe des Hauptschiffs erstarrte in dem Gesetz, nach dem es unter dem Kaisergeschlecht der Staufer erbaut worden war, aus der Vernunft einzelner Baumeister und der unerschöpflichen Kraft des Volkes. Das Gewölbe erstarrte, in das sich Georg verkrochen hatte, jenes Gewölbe, das schon zu den Zeiten der Staufer ehrwürdig gewesen war. Die Pfeiler erstarrten, und all die Fratzen und Tierköpfe in den Kapitälen der Pfeiler, die Bischöfe auf den Grabplatten vor den Pfeilern erstarrten von neuem in ihrer stolzen Todeswachheit, mitsamt den Königen, auf deren Krönung sie bis zum Übermaß stolz waren.
Höchste Zeit für mich, dachte Georg. Er kroch hinaus. Er zog das Bändelchen mit den Zähnen und seiner gesunden Hand zusammen. Er schob es zwischen eine Platte und einen Pfeiler. Am ganzen Körper gespannt, mit glühenden Augen, wartete er auf den Augenblick, da der Küster aufschließen möge.

Nachweise

Verfasser: Hans Berkessel

Bearbeiter: Rebecca Mellone

Erstellt am: 21.10.2009

Geändert am: 05.11.2009

  • Literatur: Argonautenschiff, Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft: Bände  1/1992 – 18/2009, hrsg. v. d. Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V., Redaktion: Hans Berkessel, Margrid Bircken, Ursula Elsner u. a.m.
  • Berkessel, Hans:  „Das siebte Kreuz“ - „... an einem Ereignis die ganze Struktur des Volkes aufrollen“. Überlegungen zu einem Unterrichtsprojekt. In: Mainzer Geschichtsblätter 6 (1991) Mainz.
  • Elsner, Ursula: Anna Seghers. Das siebte Kreuz. München 1999 (Oldenbourg Interpretationen Bd. 76).
  • Seghers, Anna: Das siebte Kreuz. Roman. 23. Auflage Berlin 2004.
  • Stephan, Alexander: Anna Seghers. Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung eines Romans. Berlin 1996.
  • Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1993.