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Binger Weg - Binger Schlag - Binger Brücke - Binger Grube

Überlegungen zu Flurnamen im unteren Nahegebiet

von Hans-Christian Brandenburg (ehem. Pfarrer in Bretzenheim/Nahe)

Bei meinen vielfältigen Forschungen über das Dorf Bretzenheim an der Nahe und seine Geschichte fiel mir vor einigen Jahren auf, dass es auf der Gemarkung des Dorfes Bretzenheim den Flurnamen „Binger Weg“ an einer Stelle gibt, wo ich diesen niemals vermutet hatte. Dieser Binger Weg führt nämlich nicht von dem Dorf Bretzenheim in Richtung Bingen, sondern läuft am Fuß der Weinberge (Kronenberg) entlang nordwestlich an der Dorflage von Bretzenheim vorbei von Winzenheim in Richtung auf Bingen. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass es sich hierbei nicht um einen innerhalb der Gemarkung Bretzenheim entstandenen Flurnamen handelte, sondern dass dieser „Binger Weg“ wohl ein Teilstück eines längeren älteren Verkehrsweges sein musste, der mit dem Namen Binger Weg bezeichnet wurde.
Nun machte ich mich an die Arbeit und versuchte herauszubekommen, ob man diesen Binger Weg auf einer längeren Strecke feststellen konnte, bzw. ob es auch auf anderen Dorfgemarkungen den Flurnamen Binger Weg gab. Das Ergebnis war erstaunlich: Den Flurnamen Binger Weg konnte ich außer in Bretzenheim auch in Biebelsheim, Heddesheim, Hüffelsheim, Langenlonsheim, Pfaffen-Schwabenheim, Pferdsfeld, Rümmelsheim, Schweppenhausen, Waldalgesheim, Waldlaubersheim und Windesheim nachweisen; ferner in Bad Kreuznach und in Mainz den Flurnamen Binger Schlag; in Pleitersheim Binger Brücke; in Gutenberg Binger Grube. Dabei bin ich überzeugt, dass die Liste hiermit noch nicht erschöpft ist. Es wird in weiteren Gemarkungen der gleiche Flurname noch vorhanden sein, ohne dass ich ihn bisher fand. Dagegen war es mir bisher unmöglich, einen durchgehenden Binger Weg über eine längere Strecke hinweg nachzuweisen. Dazu müssten wohl erst sämtliche nachzuweisenden Flurnamen dieser Art genau lokalisiert und kartographisch erfasst werden. Selbst dann ist das Ergebnis ungewiss, wegen des wahrscheinlichen hohen Alters dieser Flurnamen.
Die Bedeutung des Flurnamens Binger Weg ist eindeutig und braucht nicht besonders erklärt zu werden, „Binger Schlag“ ist meiner Meinung nach die Stelle, wo früher einmal an einem Binger Weg ein Schlagbaum stand und Zoll erhoben wurde. Das ist für Bad Kreuznach nachgewiesen (vgl. „Historische Topographie von Kreuznach“ von Karl Geib, Teil II, Seite 24); in Mainz wird wohl das gleiche der Fall sein. „Binger Brücke“ wäre analog dazu die Stelle, an der ein Binger Weg mit Hilfe einer Brücke einen Bach überquerte. Bei „Binger Grube“ bin ich mir unschlüssig; es könnte die Stelle sein, wo ein Binger Weg durch eine Senke hindurchlief. Das für mich Besondere an dem Ergebnis dieser Untersuchung lag aber darin, dass es in dieser Fülle nicht die gleichermaßen zu erwartenden Flurnamen „Kreuznacher Weg“ oder „Mainzer Weg“ gibt. Gerade die Binger Wege haben offenbar in früherer Zeit eine ganz besondere Bedeutung gehabt, die sich nicht in einer Richtungsangabe erschöpften. Das geht auch daraus hervor, dass es selbst in solchen Dörfern, die von Bingen aus gesehen jenseits von Bad Kreuznach liegen (etwa in Hüffelsheim oder selbst in Pferdsfeld), den Flurnamen Binger Weg gibt. Noch ein weiteres fiel mir auf: In den Fällen, in denen ich die genaue Lage des Flurnamens Binger Weg exakt feststellen konnte, standen diese in keinem Verhältnis zu den ehemaligen römischen Straßen; auch dann nicht, wenn es in diesen Orten Römerstraßen in Richtung auf Bingen gab. In Langenlonsheim z.B. führt der Binger Weg oben durch den Langenlonsheimer Wald; in Bretzenheim geht er am Fuß der Weinberge entlang; in Bad Kreuznach entsprach der Binger Weg (bzw. Binger Schlag) etwa der heutigen [1984] Umgehungsstraße zwischen Bad Kreuznach und Winzenheim. An allen genannten Stellen befanden sich bestimmt keine Römerstraßen. Es ist anzunehmen, dass man bei dem Flurnamen Binger Weg in anderen Dorfgemarkungen die gleichen Beobachtungen machen könnte.
Das erste Zwischenergebnis meiner Untersuchung ist demnach: Es gibt nicht nur einen Binger Weg, sondern offenbar bestand ein ganzes Wegenetz, das von Bingen ausging (bzw. nach Bingen führte). Wie weit es sich erstreckte, kann ich bisher nicht sagen. Dazu müssten erheblich umfangreichere Untersuchungen angestellt werden, die meine Zeit und Kraft überfordern. Die Flurnamenforschung innerhalb der Universität Mainz hilft hierbei zur Zeit auch nicht weiter, da für viele Ortschaften noch keine Flurnamensammlung vorliegt. Außerdem ist man hier erst beim Sammeln, ohne dass dabei schon besonderen Forschungsfragen nachgegangen würde. [Das ist heute (2006/2007) anders -   http://www.igl.uni-mainz.de/forschung/digitales-flurnamenlexikon.htmlsiehe Flurnamenforschung im Institut für Geschichtliche Landeskunde]
Doch kann ich mich selber damit noch nicht zufrieden geben. Ich meine, dass bestimmte Aussagen oder neue Fragestellungen uns auch jetzt schon weiterhelfen können. Es hat ganz offenbar einmal eine Zeit gegeben, in der Bingen für das ganze Gebiet beiderseits der unteren Nahe zwischen dem Hunsrück und Mainz eine herausragende Bedeutung eingenommen hat. Natürlich ist mir der Begriff „Binger Land“ und die ausgezeichnete Arbeit „Historische Strukturelemente und Strukturwandlungen des Nahemundungsgebietes im frühen und Hohen Mittelalter" von Herrn Professor Alois Gerlich bekannt. Doch das genügt mir nicht. Bei den Binger Wegen scheint mir eine Bedeutung vorzuliegen, die weit über die uns bekannten Grenzen des Binger Landes hinausgeht. Denn Gutenberg, Hüffelsheim, Kreuznach, Mainz, Pfaffen-Schwabenheim, Pferdsfeld und Pleitersheim haben nie zum Binger Land gehört. Oder anders gefragt: Woran liegt es, dass es zwar in Bad Kreuznach und in Mainz einen Binger Schlag gibt, aber andererseits nicht in Bingen einen Kreuznacher Schlag oder Mainzer Schlag (bzw. Weg) ?
Ich will hier meine eigenen Überlegungen zu diesem Fragenkomplex in einer Behauptung zusammenfassen, deren Kühnheit ich ganz bewusst zur Diskussion stellen möchte: Ich halte die Binger Wege für das Wegenetz, das die in unsere Gegend eindringenden Franken für ihre Königsboten anlegten bzw. benutzten. Die Zeit der Entstehung würde ich in jener Zeit suchen, in der Bingen schon in fränkischer Hand war, Mainz nach dem Wandaleneinbruch noch zerstört lag (vgl. die Lücke in der Mainzer Bischofsliste) und Worms noch zum Bereich der Alemannen gehörte. D.h. in der gleichen Zeit, in der die Cosmographia des anonymen Geographen von Ravenna entstanden ist. Die Franken waren rheinaufwärts vorgedrungen. Bingen war der erste Ort, mit dem sie südlich der Gebirgsengen des Rheintales den Zugang zur Landschaft des Mainzer Beckens erreichten. Hier müsste der fränkische König einen führenden Grenzbeamten oder militärischen Befehlshaber eingesetzt haben (dem Sinne nach, ohne dass die Bezeichnung jemals vorkäme, einen „Markgrafen“). Von hier aus wurde ein Wegenetz angelegt, das alle neu von den Franken besiedelten Orte mit Bingen verband. Dieses Wegenetz vermied bewusst die vorhandenen Römerstraßen. Zu alledem passt, dass die oben genannte Ortsliste ja fast nur "-heim"-0rte umfasst (auch Gutenberg war ursprünglich ein "-heim"-0rt und hieß Weithersheim); d.h. jene Dörfer, die wir als die ältesten fränkischen Siedlungen unserer Gegend ansehen. Dagegen kommt in den später erst entstandenen Ortschaften der Flurname Binger Weg nicht vor. Falls diese hier aufgestellte Behauptung stimmt, hätten wir auch einen Hinweis auf die Entstehungszeit des eigentlichen Binger Landes. Das Binger Land hätte dementsprechend seinen Ursprung in der gleichen Zeit und wäre anfangs der Amtsbereich jenes Grenzbeamten oder militärischen Befehlshaber gewesen, der in Bingen eingesetzt worden war.

Hans-Christian Brandenburg. Abgeschlossen Mitte Januar 1984