Die Selzstellung in Rheinhessen
von Rudolf Büllesbach
Es gibt nicht vieles, was im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen aus dem kollektiven Gedächtnis einer ganzen Region verloren geht. In Rheinhessen ist dies im Zusammenhang mit der Selzstellung geschehen, eines Rings mit mehr als 300 Befestigungsanlagen und einer Eisenbahn quer durch mehrere Gemeinden.
Die Geschichte der Selzstellung beginnt mit dem Deutsch-Französische Krieg von 1870–1871. Dieser endete mit einer schnellen Niederlage von Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches. Frankreich musste Elsass und einen Teil Lothringens an das neu gegründete Reich abtreten und zusätzlich eine Reparation in Höhe von 5 Milliarden Francs leisten.
Diese Ereignisse hatten weitreichende Folgen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte, der strategischen Planungen der Militärs und für Rheinhessen mit dem Ausbau der Festung Mainz.
Durch die Notwendigkeit der Sicherung der neuen Westgrenze in Elsass-Lothringen, aber auch der Ostgrenzen, begann schon unmittelbar nach Beendigung des Krieges eine rege Festungsbautätigkeit. So entstanden bis 1885 die großen deutschen Gürtelfestungen Metz, Straßburg, Köln, Posen, Thorn und Königsberg. Die Kosten für den umfangreichen Neubau deutscher Befestigungs¬anlagen wurden aus der französischen Kriegsentschädigung ge¬deckt und betrugen bis 1882 ca. 200 Mio. Mark.
Auch Rheinhessen und Mainz waren in die deutschen Planungen eingebunden. Moltke hatte 1861 Mainz "Schild und Schwert "für Preußen" ge¬nannt. Auch auf Grundlage dieser Einschätzung war für die Festung Mainz bereits im Jahr 1873 für den Bau neuer Festungsanlagen ein Betrag von insgesamt 922.000 Talern vorgesehen. Zu konkreten Baumaßnahmen kam es jedoch zunächst nicht. Mainz war nach der Abtretung von Elsass-Lothringens in die zweite Linie der Westverteidigung gerückt. Die Stadt wurde dennoch 1873 Reichsfestung und behielt seine militär-geographische Bedeutung.
Ungefähr 13 Jahre später kam es zu einer Krise im Festungsbau und die Reichsregierung in Berlin musste alle strategischen Überlegungen verändern. Grund war die Erfindung der Brisanzgranate. Der neue Sprengstoff hatte eine derart zerstörende Kraft, dass die bisher gebauten Forts aus Ziegel oder Bruchstein hoffnungslos unterlegen waren. Viele alte Festungsanlagen wurden jetzt abgerissen und neue Festungsanlagen gebaut. In Mainz wurden beispielsweise die Forts Karl, Elisabeth, Philipp, Joseph und Hauptstein aufgelassen und die Stadt konnte sich endlich erweitern. Auf dem Gelände vor dem Fort Josef entstand so das städtische Krankenhaus (heute Uniklinik).
Was nicht abgerissen wurde, musste umgebaut werden. Viele Städte und Regionen in Europa wurden zu großen Baustellen. Damit fielen sie für die Landesverteidigung aus. Keiner der europäischen Staaten war jetzt in der Lage oder gewillt, einen neuen Krieg zu beginnen. Folge und heute oft vergessen: Die Krise des Festungsbaus und die damit verbundenen Umbaumaßnahmen sind einer der Gründe, dass es zwischen 1871 und 1914 zu einer der längsten Friedenszeit – auch für Deutschland - kam.
Anfang 1900 waren die die meisten notwendigen Umbaumaßnahmen an den deutschen Festungsanlagen im Grundsatz abgeschlossen. Die deutsche Reichsregierung konnte nur beginnen, neue Festungsanlagen auch "in der zweiten Reihe" systematisch aufzubauen. Eine der neuen Festungsanlagen, die jetzt errichtet werden sollten, war die Selzstellung in Rheinhessen.
Grundlage hierfür war eine Anordnung des Armeekommandos (A.K.O.) betr. die Ver¬vollständigung der Landesbefestigung vom 23. Januar 1900, in der im Teil III "Das westliche Kriegstheater" folgende Weisung enthalten war:
"Die Umwallung von Kastel ist niederzulegen und zu verkaufen. Als Anfang einer Befestigung der Selzstellung sind Werke bei Harxheim und Ebersheim zu erbauen. Der kriegsmäßige Ausbau der übrigen Stellung ist durch Bereitstellung der Baustoffe vor¬zubereiten. Danach ist die Umwallung nebst vorgeschobenen Wer¬ken aufzugeben und zu verkaufen."
Am 7. November 1900 folgte eine weitere A.K.O. zum Ausbau der Lan¬desbefestigung, in der es u.a. hieß:
"Bezüglich der Erweiterung von Mainz ist an Stelle der bisher geplanten Befestigungen bei Harxheim und Ebersheim die Anlage einer geschlossenen, selbständigen Gruppe auf den Hö¬hen südlich Zornheim in Betracht zu ziehen und durch den General-Inspekteur der Festungen ein genereller Entwurf hierfür aufstellen zu lassen, während der Kriegsminister für Beschleu¬nigung der Verhandlungen, die zu einem Verkauf der aufzulassen¬den Umwallung führen, Sorge zu tragen hat, soweit dies mit Rücksicht auf die finanziellen Interessen möglich."
Wegen der Reichweite neuer Waffen müsste die Selzstellung mehrere Kilometer vor Mainz gebaut werden. Vor diesem Hintergrund begannen im Jahre 1908 die Baumaßnahmen mit dem Bau einer Ringstraße von Wackernheim bis zum Kesseltal zwischen Hechtsheim und Ebersheim. Ab 1909 wurde mit dem Bau einer Festungsbahn begonnen, deren drei Linien dem Heranschaffen der Baustoffe und dem Transport der Munition und Verpflegung dienten. Die betonierten Festungsbauten entstanden ab 1909. Ihr bedeutendstes Werk war das Fort Muhl in Ebersheim, das innerhalb von drei Jahren bis 1911 gebaut wurde.
Die Selzstellung war eine sogenannte "Depotfestung". Sie erhielt deshalb in Friedenszeiten nur eine "Gerippstellung" von insgesamt 17 Anlagen und eine die Armierung vorbereitenden Infrastruktur (Straßen, Feldbahn, Wasser- und Stromversorgung, Fernmeldekabel und Lagerplätze). Mit der Mobilmachung 1914 trat der für die Selzstellung geltende Armierungsentwurf in Kraft. Aufgrund dieses Armierungsentwurfes konnte jetzt die Selzstellung in den endgültigen Verteidigungszustand versetzt werden.
Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges waren das Ausmaß der Selzstellung, die damit verbundenen Baumaßnahmen und die hierfür aufgewandten Geldmittel gewaltig:
- Die Selzstellung bestand bis 1914 aus 17 Anlagen und wurde bis zum Ende des Krieges um weiter 318 Festungsanlagen ausgebaut. In Ebersheim befanden sich insgesamt 8 Festungsbauwerke.
- Alleine für den Bau des Fort Muhl auf der Grenze Ebersheim/Zornheim fielen Kosten in Höhe von 857.336 Mark an. Dies entspricht ungefähr den Kosten für die Christuskirche in Mainz.
- Die Gesamtstraßenlänge der Selzstellung betrug 23,6 km, die Breite des festen Straßenkörpers ca. 3,50 m.
- Das Festungsbahnnetz war ca. 46 km lang und in drei Linien unterteilt.
- Alle Festungsbauten wurden an eine neu errichtete militärische Wasserleitung angeschlossen und mit Strom versorgt. Viele Ortschaften in Rheinhessen erhielten so schon früh einen Anschluss an das Stromnetz.
- Ein Telegraphennetz wurde aufgebaut, das dem Kommando der Selzstellung und artilleristischen Zwecken diente. Das Hauptquartier für alle Festungsanlagen befand sich in Marienborn.
Die Selzstellung in Rheinhessen war ein neuer, ganz moderner Typ. Sie war nicht mehr alleine ein Fort, sondern eine Befestigungsgruppe, die aus unabhängigen Bauten bestand. Diese "aufgelöste" bzw. "zerstreute" Befestigungsgruppe war dem Gelände angepasst, nach Westen gegen Frankreich ausgerichtet und sollte im Kriegsfall lang anhaltenden Widerstand auf beherrschbarem Höhengelände leisten können. Das Fort Muhl und die Bauten aus Beton mit Stahlarmierungen, die Anwendung neuer Technologien wie Strom und Lüftung machten die Selzstellung zu einer absolut innovativen Festungsanlage. Sie war sicher einer der modernsten und größten Befestigungsgruppen, die damals in Deutschland gebaut wurden.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren das Ende der Selzstellung und der Festungsbahn besiegelt. Aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages aus dem Jahre 1919 mussten alle Festungswerke geschleift, also zerstört, werden. Das Fort Muhl in Ebersheim wurde ebenso wie die anderen Befestigungsanlagen im Jahre 1922 gesprengt.
Übrig geblieben sind aufgrund von Ausnahmeregelungen der französischen Regierung nur wenige Festungsanlagen. Hierzu gehören die Zitadelle in Mainz und die Festung Ehrenbreitstein in Koblenz. Somit sind diese Festungsanlagen Zeugnisse von geschichtlichen Entwicklungen, von denen in Rheinhessen viele Jahre noch nicht einmal die Erinnerung übrig geblieben ist.
Nachweise
Verfasser: Rudolf Büllesbach
Redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper
Erstellt: 21.07.2010