0.„Ein Messer in der Hand und eins im Maul!“ – Die Schinderhannesbande (1796-1803)
von Udo Fleck
Am 24. Oktober 1803 begann in Mainz vor einem Spezialgericht ein Prozess, dessen Auftakt der Kirner Friedensrichter Johann Nikolaus Becker wie folgt beschrieb: „Der Zug gieng langsam und feyerlich unter einer unzähligen Menge Menschen längs dem Ufer des Rheins, und es war ein sehr interessanter Anblick, jenen trotzig oder muthig und diesen nach seinem stillern oder mehr tückischen Character mit gesencktem Blicke wandelnd zu sehen. Schinderhannes zeichnete sich wieder von allen aus. Er führte die Reihen an, und sein Blick durchlief mit Heiterkeit die Tausenden der um ihn versammelten Menge“(Becker, S. 73f.).
Zusammen mit 67 weiteren Komplizen musste sich dieser Schinderhannes für über 200 Delikte rechtfertigen, die er und seine Genossen zwischen 1796 und 1802 verübt hatten. Das Verfahren endete knapp vier Wochen später mit 20 Todesurteilen, die am 21. November 1803 in Mainz vor einer großen Zuschauermenge vollstreckt wurden. Neun Monate zuvor waren in Köln bereits mehrere Mitglieder der Großen Niederländischen Bande zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Mit dem Ende der beiden Banden glaubte die damalige Justiz, endgültig und dauerhaft ein Problem gelöst zu haben, das die Behörden nicht nur in den Rheinlanden seit dem 16. Jahrhundert immer wieder in Atem gehalten und vor große Herausforderungen gestellt hatte; denn Räuberbanden agierten in Deutschland seit der Frühen Neuzeit besonders in den ländlichen Regionen. Sie operierten vorzugsweise in den territorial zerklüfteten Gebieten Südwest- und Westdeutschlands, in denen die Möglichkeit eines raschen Wechsels in ein benachbartes Territorium eine effektive Strafverfolgung nahezu unmöglich machte. Begünstigt wurden ihre Aktionen vor allem in politisch oder wirtschaftlich unsicheren Zeiten, in denen die Staatsmacht nicht handlungsfähig war.
Einer der bekanntesten Vertreter dieser Vereinigungen war Johannes Bückler, der Schinderhannes. Fest im kollektiven Gedächtnis verankert, steht er bis heute immer wieder im Mittelpunkt des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses, und besonders in seinem 200. Todesjahr wurde seiner in zahlreichen Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen gedacht. Geboren vor 1780 in Miehlen bei Nastätten als Sohn eines Abdeckers, begann seine kriminelle Karriere um 1796 im Hunsrück, wo sich die Familie inzwischen niedergelassen hatte. Begünstigt durch die Eroberung der Rheinlande durch französische Revolutionstruppen beging Johannes Bückler zwischen 1796 und 1802 mit seinen Komplizen zahlreiche Verbrechen. Das Spektrum der dabei verübten Delikte reichte vom einfachen Diebstahl über Raub und Erpressung bis hin zu Mord. Erst zum Ende des Jahres 1801 zwangen die Gegenmaßnahmen der französischen Behörden die Bande, sich auf das vermeintlich sichere rechte Rheinufer abzusetzen; zahlreiche ihrer Mitglieder saßen zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft. In der Nähe von Wolfenhausen wurden Bückler und weitere Bandenmitglieder schließlich Ende Mai 1802 verhaftet und über Frankfurt nach Mainz ausgeliefert. In den Verhören durch die Untersuchungsbehörden gaben die Räuber bereitwillig Auskunft über ihre Verbrechen und benannten die daran beteiligten Komplizen, die ebenfalls nach und nach ergriffen wurden – das Ende ist bekannt.
In meinem Beitrag möchte ich einige Facetten dieser Bande näher beleuchten. Hierfür habe ich folgende Schwerpunkte gewählt: Zunächst werde ich einen kurzen Überblick über die Operationen und die Opfer der Bande geben, in einem zweiten Abschnitt gehe ich dann auf die Sozialstruktur der Bande ein. Anschließend wechseln wir die Perspektive und beleuchten kurz die Maßnahmen der damaligen Strafverfolgungsbehörden. Den Abschluss meiner Ausführungen bilden schließlich einige Anmerkungen zur Mythologisierung von Räuberbanden, wobei der Schinderhannes im Vordergrund stehen soll.
Räuberbanden in den Rheinlanden
Räuberbanden lassen sich in den Rheinlanden quellenmäßig seit dem 16. Jahrhundert nachweisen. Für das 18. und beginnende 19. Jahrhundert, in der Forschung auch gerne als die Blütezeit der Räuberbanden bezeichnet, liegen nicht weniger als 24 Hinweise auf solche kriminelle Vereinigungen vor, die zu „beyden Ufern des Rheins“ agierten. Schwerpunkte lassen sich zunächst am Niederrhein für das beginnende 18. Jahrhundert mit der Großen Siechenbande und weiteren Räuberbanden um Wachtendonk und Geldern fassen. In der Umgebung von Aachen gingen die Behörden seit 1730 gegen die Bockreiterbande vor. Zwischen Rur und Rheagierte während des Siebenjährigen Krieges die Mehlbeutelbande (1756-1763), und zwischen 1760 und 1768 operierte eine Diebesbande im Umfeld von Linnich. Bei der Räuberrotte zu Odenkirchen, vor der 1797 das Hauptquartier der französischen Armee warnte, handelte es sich um Mitglieder der Großen Niederländischen Bande.
Ungleich dichter belegen die Quellen kollektive Delinquenz im Raum von Eifel und Hunsrück. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts tritt in der Gegend von Aremberg eine delinquente Gruppe auf, und entlang der Mosel befinden wir uns im Operationsgebiet gleich mehrerer Banden, die um Daun (1739/1740), Trarbach (1739), Lutzerath (1761), Bernkastel (1776), Sohren (1773-1776) und Sevenich (um 1780) kriminelle Unternehmungen durchführten; zwischen 1731 und 1738 soll hier auch eine Zigeunerbande aktiv gewesen sein. Im Hunsrück stießen die Behörden 1735 in Niederbrombach auf eine Wildererbande, und auch in Waldalgesheim konnten sie 1747 die Existenz einer Bande nachweisen. In den sponheimischen Territorien finden sich darüber hinaus kriminelle Vereinigungen in Bechtheim (1768) und Züsch (1774).
Will man allerdings diese Quellen einer eingehenderen Analyse unterziehen, sieht man sich schnell vor eine Reihe von Problemen gestellt: Die überkommenen Informationen beruhen entweder auf Einzelhinweisen aus Quellen oder ergeben sich, was die Mehrzahl ist, aus so genannten Diebs- und Gaunerlisten, die bei der Verhaftung eines oder mehrerer Täter angelegt wurden. Ausführliche Prozessunterlagen, die präzise Auskünfte über Mitglieder, Delikte oder Opfer geben, finden sich zu diesen Banden jedoch ebenso wenig wie Hinweise auf die Vorgehensweise der Justizbehörden oder den Verbleib der übrigen Bandenmitglieder. Wesentlich ergiebiger fließen indes die Informationen in der Zeit der französischen Verwaltung (1792/94-1814): Seit 1793 trat in den nördlichen Rheinlanden die Große Niederländische Bande mit ihren diversen Filialbanden auf, die um 1797 infolge staatlicher Gegenmaßnahmen ihren Wirkungskreis mehr und mehr auf das rechte Rheinufer verlagerte. An der Mosel wirkte zwischen 1795 und 1799 die Moselbande, auf dem Hunsrück agierte die Schinderhannesbande. 1810 wurde die Hessel-Bande zerschlagen, die über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren in der Schweiz, im rechtsrheinischen Deutschland und vor allem im Inneren Frankreichs operiert hatte. Zu diesen kriminellen Vereinigungen bieten uns die „Actenmäßigen Geschichten“ bedeutend ausführlichere Informationen als die Diebes- und Gaunerlisten der frühen Neuzeit.
Diese „Actenmäßigen Geschichten“ wurden von Justizbeamten, die an der Zerschlagung der Räuberbanden beteiligt und in die Prozessführung gegen deren Mitglieder involviert waren, zu Beginn des 19. Jahrhunderts veröffentlicht. Sie sind in ihrer Darstellung regional begrenzt und enthalten eine Auflistung der Vergehen, deretwegen einzelne Räuber vor den Kriminalgerichten angeklagt wurden. Sie stehen somit noch ganz in der Tradition jener klassischen Historiographie, deren Hauptaugenmerk auf der deskriptiven Darstellung historischer Ereignisse lag. Obwohl sie für die Forschung wegen nicht erhaltener Ermittlungs- und Prozessakten von evidenter Bedeutung sind, erheben sie, und dieser Aspekt muss besonders betont werden, keinen Anspruch auf Vollständigkeit; geboten wird also immer nur eine – begrenzte – Auswahl an Informationen: Der bereits erwähnte Friedensrichter Becker beschränkte seine Darstellung zur Schinderhannesbande im wesentlichen auf die 68 Delikte, die bei dem Mainzer Verfahren 1803 verhandelt wurden – tatsächlich lassen sich der Bande weitaus mehr Delikte zuweisen, was besonders im Hinblick auf das Deliktspektrum oder die bevorzugten Opfer von Bedeutung ist.
Außergewöhnlich dicht ist jedoch die Quellenüberlieferung für die Schinderhannesbande, da wir hier – im Gegensatz zu allen anderen Räuberbanden der Neuzeit – über die kompletten Ermittlungsakten der Behörden verfügen: In den Jahren 1802 und 1803 trugen die an den Untersuchungen beteiligten Beamten auf über 3.000 Seiten insgesamt 3.461 Dokumente zusammen. Die Einzeldokumente wurden ausschließlich für den Prozess, den das Spezialgericht in Mainz am 24. Oktober 1803 eröffnete, in der so genannten procédure instruit, in den Voruntersuchungen, zusammengestellt und gedruckt.Die folgenden Ausführungen fußen im Wesentlichen auf diesen Mainzer Voruntersuchungsakten, die von der Forschung bislang allenfalls partiell, aber noch nie in ihrer Gesamtheit berücksichtigt wurden. Die Ermittlungsakten lenken dabei unseren Blick auf eine Vielzahl von Delikten, die – von der Bande oder von einzelnen Mitgliedern alleine verübt – im November 1803 nicht in Mainz zur Disposition standen und aus diesem Grund in der Literatur nur selten Beachtung fanden. Gerade die Masse dieser strafbaren Handlungen erlaubt es jedoch, erstmals ein annähernd realistisches Bild über das Agieren der Schinderhannesbande zu entwerfen, so dass im Gegensatz zur bisherigen Forschung, die sich nahezu ausschließlich auf die „Actenmäßigen Geschichten“ stützte, die Aussagen über das Deliktspektrum und über die von der Bande bevorzugten Opfer nun auf einem soliden Quellenfundament stehen.
Operationen und Opfer
Aus den Mainzer Voruntersuchungsakten ergeben sich Hinweise auf insgesamt 211 Delikte, die zwischen 1796 und dem Frühjahr 1802 hauptsächlich zwischen Nahe und Glan sowie im Hunsrück verübt wurden: die Verbrechen umfassen 96 Diebstähle, 71 Raubüberfälle, 35 Erpressungen und neun Morde.
Die Zusammenstellung macht die Unterschiede im Deliktspektrum der Bande für den Zeitraum von 1796 bis 1802 deutlich: In den Jahren von 1796 bis 1799 lag der Schwerpunkt der Verbrechen eindeutig auf dem einfachen Diebstahl. Erst nach dem Ausbruch des Schinderhannes aus dem Gefängnisturm in Simmern werden die in hoher Personenzahl verübten und gewaltsamen Raubüberfälle (68 Fälle) sowie die Erpressungen zum vorherrschenden Delikt.
Auch in Bezug auf den Operationsraum der Bande lassen sich Veränderungen festmachen (vgl. Karte). Agierte die Bande zunächst hauptsächlich in den Kantonen Grumbach und Herrstein, dehnte sie in der zweiten Phase ihren Wirkungsbereich auf die Arrondissements Birkenfeld und Simmern aus. Bis 1801 musste sich die Bande auch nicht auf eventuelle Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden einstellen, denn Räubern, die verhaftet wurden, gelang schnell und leicht die Flucht aus den Haftanstalten, ehe es überhaupt zur Einleitung eines förmlichen Strafverfahrens kam. Erst mit dem Aufbau effizienter Verwaltungsstrukturen, wie er von dem damaligen Generalregierungskommissar Rudler und seinen Nachfolgern betrieben wurde, sah sich die Bande gezwungen, sich auf die rechte Rheinseite abzusetzen. So darf es nicht verwundern, dass die Räuber seit den missglückten Überfällen in Staudernheim und Obermoschel (1801) ihr Auskommen mehr und mehr wieder in der wenig gewinnträchtigen Kleinkriminalität suchten.
Wer waren nun die bevorzugten Opfer dieser Bande? Existierte, wie Carsten Küther es formulierte, ein ‚Opferprogramm', wonach die Banden aufgrund ihrer Frontstellung gegenüber der Gesellschaft bestimmte Schichten der Bevölkerung als Opfer bevorzugten?
Von den 211 belegten Verbrechen der Schinderhannesbande richteten sich 59 Delikte ausschließlich gegen Juden; auf diesen Befund werden wir noch eingehen. 152 Delikte wurden an nichtjüdischen Personen begangen, in 38 Fällen (25 %) liegen keine genauen Angaben über die Opfer vor. In über 50 % Prozent der Fälle wurden Bauern und Müller zum Opfer der Bande; wegen der einsamen Lage der Gehöfte und Mühlen bestand für die Opfer kaum Aussicht auf Unterstützung durch ihre weiter weg wohnenden Nachbarn. In acht Fällen wurden ,Staatsdiener', wie beispielsweise der Nationalgendarm André, Opfer eines räuberischen Anschlags. Unter den Opfern befanden sich hingegen nur sechs Mitglieder anderer Räuberbanden, und auch die übrigen Berufs- bzw. Bevölkerungsgruppen spielten im Opferprofil der Schinderhannesbande eine eher untergeordnete Rolle. Auffällig ist hingegen der überproportionale Anteil jüdischer Opfer. Diese wurden jedoch weniger aus religiösen Motiven Opfer der Bandenverbrechen; dieser Befund wird auch durch die Auswertung der Aussagen der Bandenmitglieder belegt. Da der Handel an Nahe und Glan vornehmlich von Juden betrieben wurde, lohnte ein Überfall auf die Kaufleute, da eine größere Beute an Geld und Waren zu erwarten stand.
Die Opfer wurden bei den Überfällen in der Regel brutal misshandelt, ebenso nahmen die Räuber den Tod ihrer Opfer bewusst in Kauf, wie gerade der Überfall auf die Söterner Kaufleute Levi deutlich macht. Bei der übrigen Bevölkerung fanden die Opfer kaum Unterstützung. Von den Ermittlungsbehörden nach der Ursache für die unterlassene Hilfeleistung befragt, nannten die Zeugen übereinstimmend als Motiv, dass sie nicht selbst von den Räubern verletzt oder getötet werden wollten. Aktive Gegenwehr konnte man von den Zeugen im Augenblick des Überfalls angesichts der schwer bewaffneten Räuber nicht erwarten, zumal die Franzosen konsequent die Bevölkerung entwaffnet hatten. Johann Peter Kost, der den Überfall auf Samuel Eli beobachtet hatte, gab an, dass er sich nicht habe „krumm und lahm schießen“ lassen wollen. Auch mögliche Racheaktionen hielten viele Personen davon ab, direkt den Opfern zu helfen oder mit den Behörden zu kooperieren: So gestand Peter Lauer aus Sötern erst im März 1802 gegenüber dem Friedensrichter ein, dass er aufgrund verdächtiger Andeutungen seines Knechts längst von dem bevorstehenden Überfall auf die Löb-Brüder wusste, ohne jedoch die Behörden oder die Opfer zu informieren
Sozialstruktur der Bande
Die Mainzer Quellen geben auch präzise Auskünfte zu den Mitgliedern der Schinderhannesbande. In der Frühen Neuzeit rekrutierten sich die Mitglieder von Räuberbanden zu einem guten Teil, aber keineswegs ausschließlich aus den vagierenden Unterschichten. Verschärft wurden deren Lebensbedingungen nicht zuletzt aufgrund einer ungenügenden Armenfürsorge durch eine zunehmende Ausgrenzung und Kriminalisierung. Erst im späten 18. Jahrhundert bahnte sich im Zuge der Aufklärung eine Trendwende an, die zumindest ansatzweise auf die soziale Integration der Randgruppen abzielte. Dieser Prozess wurde jedoch in seiner Entwicklung durch Not- und Teuerungsraten immer wieder unterbrochen und zurückgeworfen, so dass die Vagantenpopulation beträchtlich anwuchs. Besonders infolge von Kriegsauswirkungen konnten so breite Bevölkerungsschichten das Heer der Vaganten beträchtlich vergrößern. Diese sicherten ihre wirtschaftliche Subsistenz im Rahmen einer ‚Notökonomie' durch alternative Überlebensstrategien wie der Bettelei, wobei der Übergang in das Gaunermilieu in Verbindung mit zunächst kleineren Diebstählen oder sogar schweren Straftaten meist nur ein kleiner Schritt war.
Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde nicht nur der Hunsrück über Jahre hinweg zum Kriegsschauplatz zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und Frankreich. Von gravierenden Folgen blieb der Raum an Mosel, Nahe und Glan nach den ersten Vorstößen der Revolutionstruppen vom September 1792 noch weitgehend verschont. 1794 sollte sich die Situation allerdings ändern: Der Hunsrück wurde über Jahre hinweg zum unmittelbaren Kampfgebiet, Truppendurchzüge und Einquartierungen nahmen unverhältnismäßig zu. Nicht nur die französischen Befehlshaber konnten die Disziplin der ihnen unterstellten Truppen nicht gewährleisten, Plünderungen und Requisitionen sowie immer neue Kontributionsforderungen waren an der Tagesordnung. Die Versorgung der Armeen aus dem Land zog für die Bevölkerung außergewöhnlich hohe Lasten nach sich, und bereits 1795 hielt der Koblenzer Professor Minola in seinem Tagebuch fest, dass der „ganze Hunsrück eine Szene des Elends“ war. Das Fehlen effizienter staatlicher Verwaltungsstrukturen begünstigte nicht nur im Hunsrück den Beginn zahlreicher krimineller Karrieren.
39 Prozent und damit der größte Teil der Mitglieder rekrutierte sich aus der vagierenden Bevölkerung: Georg Friedrich Schulz z. B., 1781 in Rohrbach bei Heidelberg geboren, war ein ehemaliger Krämer bzw. Korbmacher und eines der wichtigsten Mitglieder der Bande. Er beteiligte sich u. a. an den Delikten in Erbes-Büdesheim, Laufersweiler, Obermoschel und Sötern und wurde 1803 zum Tode verurteilt. Zu der Vagantengruppe zählen auch die Personen, die auf dem linken Rheinufer als fahrende Händler tätig waren. Der hohe Anteil von Vaganten ist typisch für die Räuberbanden der Frühen Neuzeit, in manchen Vereinigungen lag er sogar bei über 60 Prozent. Die Ursache dieser Erscheinung liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch darin begründet, dass ambulanter Handel, den beispielsweise Fayencehändler oder Korbflechter betrieben, ausgesprochen gute Möglichkeiten des unauffälligen ‚Baldowerns' bot. Nahezu jeder fünfte Räuber, wie Georg Wilhelm Weisheimer aus Tiefenthal, stammte aus der bäuerlichen Schicht: Weisheimer, der sich auch als Tagelöhner ein Zubrot verdiente, wurde am 19. Juni 1802 wegen der Beteiligung an dem Überfall in Waldgrehweiler (1802) durch den Mainzer Geschworenendirektor Umbscheiden festgenommen und 1803 ebenfalls zum Tode verurteilt. Aus der Gruppe der Handwerker rekrutierten sich 38 Personen. So war Johannes Welsch ein Leinenweber aus Reichenbach und gehörte zu jenen Räubern, die im Januar 1800 Peter Riegel in Otzweiler ermordeten. Er stand schon längere Zeit in Verdacht der Bandenmitgliedschaft und wurde im September 1802 in Grumbach verhaftet. Jeder zehnte Räuber übte einen ‚unehrlichen' Beruf aus, so beispielsweise die beiden Bücklers; sie waren ehemalige Abdecker. Jakob Benedum war ein Müller aus der Nähe von Konkenlangenbach und dürfte das Müllergewerbe lediglich aus Gründen der Tarnung betrieben haben. Auf sein Konto gingen u. a. die Überfälle auf das Birkenfelder Schloss und auf die Streitmühle. Elf Bandenmitglieder waren ehemalige Soldaten. Philipp Jakob Heydens, auch Husarenphilipp genannt, hatte sich dem französischen Militärdienst durch Desertion entzogen und ernährte seitdem seine Familie durch einen kleinen ambulanten Handel und den Verkauf von Korbwaren. Wegen seiner Beteiligung an der Ermordung des ,Plackenkloses' Niklas Rauschenberger (1797) wurde er 1803 zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Obgleich die dörflichen Eliten nur etwas mehr als zwei Prozent der Mitglieder stellten, waren sie für die Bande von besonderer Bedeutung, da sie nicht nur vor behördlichen Verfolgungsmaßnahmen warnten, sondern darüber hinaus auch wichtige Hinweise auf mögliche Opfer gaben.
Auf die allgemeinen Ursachen für die Bildung von Räuberbanden und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Mitglieder wurde bereits verwiesen. Sucht man jedoch nach persönlichen Motiven für den Weg in die Kriminalität, helfen die Quellen bislang nur bedingt weiter, da nicht jeder Angeklagte entsprechende Angaben hierüber machte. Die Forschung ist diesem aus der Quellensituation herrührenden Problem bislang elegant aus dem Weg gegangen, indem sie gar nicht erst nach individuellen Erklärungsmustern suchte, sondern unter Verweis auf die allgemeinen Faktoren wie Krieg oder wirtschaftliche Krisenzeiten kriminelle Karrieren in der Regel exemplarisch aus den Akten rekonstruierte. Mit Hilfe der Mainzer Voruntersuchungsakten können jedoch erstmals auch die persönlichen Motive der Bandenmitglieder genau ergründet werden. Fest steht, dass die Selbstrekrutierungsquote im Milieu sehr hoch war, wie sich aus den Angaben mehrerer Räuber herleiten lässt. Eine besonders günstige Gelegenheit, Komplizen für eine Tat zu rekrutieren, bot sich den Räubern in den Gefängnissen, die damals alles andere als ausbruchssicher waren.
Andere Räuber, so Philipp Jakob Heydens und Jakob Stein, führten an, von Schinderhannes oder dessen Kumpanen dazu gezwungen worden zu sein, sich an einem Gewaltstreich zu beteiligen. Solche Aussagen sind sicherlich auch vor dem Hintergrund der jeweiligen Verteidigungsstrategie zu sehen, hilfreich waren sie jedenfalls nicht; denn Heydens und Stein wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ungleich raffinierter argumentierte hingegen Ludwig Rech vom Kallenfelser Hof, der die inkompetenten Staatsorgane für sein Abgleiten in die Kriminalität verantwortlich machte: „Zu jener Zeit wäre Schinderhannes mit seinen Kameraden ganz frech an hellem Tage herumgegangen. Es habe an Zutrauen gegen die öffentlichen Beamten gefehlt, man habe in hiesiger Gegend fast nichts gethan, um dem wehrlosen Bürger sein Eigenthum zu schüzzen“ (Fleck, Untersuchungsakten, S. 1694, Nr. 1170). Rech wurde 1803 freigesprochen. Auch Schinderhannes selbst sah neben seiner „äussersten Jugend“ vor allem im „Zusammentreffen unglüklicher Umstände“ die Motive für den Beginn seines Weges in die Kriminalität. Juliana Bläsius erklärte hingegen ihre Zugehörigkeit zur Bande wie folgt: „Als ich in den Wald kam, traf ich einen schönen jungen Menschen da an, der mir den Vorschlag machte, meine Eltern zu verlassen, und ihm zu folgen. Da ich seinen Vorschlag (...) nicht annehmen wollte, drohte er mir, mich umzubringen, und auf diese Art wurde ich mit Gewalt dazu gebracht, diesem Unbekannten zu folgen. ... ich bestehe darauf, daß mir die Verbrechen des Bücklers ganz und gar unbewußt waren, und ich hoffe, daß mir diese Sorglosigkeit ... und die meinem Alter und Geschlecht so eigene Leichtgläubigkeit verziehen wird“ (Fleck, Untersuchungsakten, S. 453f., Nr. 107).
Maßnahmen der Behörden
Wechseln wir nun die Perspektive und befassen uns mit den von den Franzosen eingeleiteten Gegenmaßnahmen:
Die endgültige Eroberung der Rheinlande durch die Revolutionstruppen im Jahre 1794 zwang die neuen Machthaber schon relativ früh, sich mit den Räuberbanden als künftigem Problem auseinanderzusetzen: Bereits im Oktober 1794 sah sich das Hauptquartier der Maas-Sambre-Armee gezwungen, im Raum Odenkirchen mit Truppen gegen bewaffnete Banden vorzugehen. Eine wirkungsvolle Bekämpfung von Räubern zu diesem frühen Zeitpunkt war jedoch noch nicht möglich; denn die Unterstellung der eroberten Territorien zwischen Maas und Rhein unter die Militärverwaltung verhinderte für annähernd vier Jahre den Aufbau effizienter Verwaltungsstrukturen, die zur Bekämpfung der Räuberbanden unabdingbar gewesen wären. Erst der Frieden von Campo Formio ermöglichte es dem Pariser Direktorium, den Aufbau einer Zivilverwaltung in Angriff zu nehmen. Übertragen wurde diese Aufgabe dem Elsässer Franz Joseph Rudler. Das Fundament dieses Neuaufbaus bildete eine an Frankreich orientierte Gliederung in schließlich vier Departements mit den Hauptorten Aachen für das Rur-Departement, Trier für das Saar-Departement, Koblenz für das Rhein- und Mosel-Departement und Mainz für das Donnersberg-Departement.
Die Besetzung aller Verwaltungs- und Justizstellen mit entsprechend qualifiziertem Personal stellte Rudler vor eine nahezu unlösbare Aufgabe. Er konnte zwar auf Beamte zurückgreifen, die aus Frankreich in die rheinischen Departements versetzt wurden und daher sowohl mit dem neuen Recht als auch mit den Verwaltungsvorschriften vertraut waren. Auch in den Reihen der exilierten deutschen Jakobiner fand er geeignete Kandidaten. Aber diese Personen reichten bei weitem nicht aus: Den überwiegenden Teil der Stellen musste Rudler mit Personal aus dem früheren Justiz- und Verwaltungsdienst besetzen. Faber beziffert deren Anteil am Gesamtpersonal auf nahezu 50 Prozent und spricht daher zu Recht von einer starken personellen Kontinuität vom Ancien Régime zur Französischen Republik. Rudler war jedoch gerade auf diese Personen trotz ihrer fehlenden Kenntnisse angewiesen, da seine Verwaltungs- und Justizorganisation sonst von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.
Seine Reformen verliefen wegen der ungleichen Qualifikationen des Personals nicht ohne Schwierigkeiten. Zu anhaltenden Spannungen innerhalb der Verwaltung führte auch die Einführung des Französischen als Amtssprache, was in weiten Teilen der Beamtenschaft und vor allem in der Bevölkerung auf Ablehnung stieß. Erhebliche Probleme bereitete dem Justizapparat auch die Anfälligkeit einzelner Beamter für Korruption. Die feste Besoldung des Personals war von Anfang an gering, die Annahme von ‚Sporteln' verboten und die Ausübung von Nebentätigkeiten genehmigungspflichtig. Trotzdem ließen sich viele Richter auch weiterhin von den Parteien zusätzlich bezahlen. Einer nicht geringen Anzahl von Beamten wurde auch eine allzu große Nähe zu den Räuberbanden vorgeworfen, die sie eigentlich verfolgen sollten. Johann Spener, Regierungskommissar in Simmern, wurde im März 1800 aus genau diesem Grund durch Franz Josef Reichensperger ersetzt. Am spektakulärsten war jedoch sicherlich der Fall Papé. Der Präsident des Kölner Kriminalgerichts wurde im Juni 1800 wegen Begünstigung von Dieben in einem Gerichtsfall und wegen der Annahme von Bestechungsgeldern seines Amtes enthoben. Die Klagen über unfähige und korrupte Beamte sind für die gesamte Dauer der französischen Herrschaft belegt und erschwerten sicherlich die Arbeit der Justizbehörden.
Was folgt nun aus diesem knappen Abriss über den in vielen Bereichen problematischen Aufbau der Justiz- und Verwaltungsorgane für die Bekämpfung der Räuberbanden? Trotz zahlreicher Einschränkungen erzielte die neue Verwaltung nach einer nur kurzen Anlaufphase erste Erfolge in der Bekämpfung der Räuberbanden. Bereits um die Jahreswende 1798/1799 wurde die Moselbande zerschlagen, und auch die Große Niederländische Bande sah sich gezwungen, ihr Operationsgebiet weitgehend auf die rechte Rheinseite zu verlegen.
Zu einem regelrechten Problem der ‚inneren Sicherheit' entwickelte sich allerdings die Schinderhannesbande. Bis 1802 misslangen alle Versuche, diese Bande samt ihrem Umfeld zu zerschlagen. Die Wende bahnte sich allerdings im Januar 1801 mit der Konferenz von Wetzlar an, auf der sich die Rhein-Anrainerstaaten auf ein gemeinsames Vorgehen gegen die Räuberbanden einigten. Die durchzuführenden Maßnahmen sahen unter anderem die Verschärfung der Passkontrollen, den verstärkten Einsatz von Landreitern und die grenzüberschreitende Verfolgung von Räuberbanden durch Justizbeamte vor. Diese Mittel zeigten im Laufe des Jahres 1801 zunehmend Wirkung. Die meisten Räuber wurden nach und nach verhaftet, da gerade die nun generalstabsmäßig durchgeführten Patrouillen der Nationalgendarmen den früher so einfachen Wechsel der Operationsgebiete erschwerten. Nur die Verhaftung des Anführers gelang den Franzosen trotz aller Bemühungen nicht, obwohl im Arrondissement im April 1802 sogar ein hohes Kopfgeld auf den Schinderhannes ausgesetzt wurde. Hier musste schon ein Zufall helfen: Erst Ende Mai 1802 wurde er gefasst. Nachdem ihn die Behörden als den schon lange Gesuchten identifiziert hatten, übergaben sie ihn schließlich am 16. Mai 1802 in Mainz den Franzosen.Die Verhaftung des Schinderhannes wirkte wie eine Initialzündung und beflügelte regelrecht die behördlichen Strafverfolgungsmaßnahmen, wie die Mainzer Voruntersuchungsakten eindrucksvoll belegen: Nur zwei Tage später, am 18. Juni, beschloss das Spezialgericht in Mainz, das seit April 1802 die Ermittlungen gegen die Schinderhannesbande koordinierte, die Einleitung der Verhöre. Zum leitenden Untersuchungsrichter ernannte man den ehemaligen pfalz-zweibrückischen Schultheißen Johannes Wilhelm Wernher, dem dieser Fall später zu einem wahren Karrieresprung verhelfen sollte. Die Aussagen Bücklers, die von Wernher immer wieder hinterfragt und mit den Aussagen bereits einsitzender Räuber abgeglichen wurden, versetzten die Behörden in die Lage, die Fahndung nach den noch nicht verhafteten Komplizen zu veranlassen. Zwischen dem 29. Juni 1802 und dem 8. Januar 1803 wurden allein von Gerichtspräsident Dick 47 weitere Ermittlungsverfahren in die Wege geleitet, die aufgrund der Aussagen Bücklers notwendig wurden.
16 Monate nach der Verhaftung des Schinderhannes eröffnete dann das Spezialgericht in Mainz unter Vorsitz von Georg Friedrich Rebmann, dem Nachfolger Dicks, am 24. Oktober 1803 den Prozess gegen 64 Angeklagte. Gestützt auf die 72-seitige Anklageschrift des Öffentlichen Anklägers Tissot und die Voruntersuchungsakten, verurteilte das Gericht am 20. November 1803 schließlich 19 Räuber zum Tode durch die Guillotine. Weitere 24 angeklagte Bandenmitglieder verurteilte man zu teils langjährigen Gefängnisstrafen, die übrigen wurden freigesprochen. Mit der Vollstreckung der Urteile war das Bandenwesen im Hunsrück weitgehend zerschlagen.
Mythologisierung
Wenden wir uns abschließend der Mythologisierung des Schinderhannes zu: Die romantisierende Verklärung von Räuberbanden setzte bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein und löste die Motive der religiösen Erbauungsliteratur der vorangegangenen Jahrhunderte ab, in denen die Räuber als Werkzeuge des Teufels dargestellt und Ausmaß sowie Gefährlichkeit der Bandenkriminalität bewusst überzeichnet worden war. Besonders das in der Epoche des ‚Sturm und Drang' von Friedrich Schiller verfasste Drama Die Räuber sowie der 1799 publizierte Roman von Christian August Vulpius über Ronaldo Rinaldini trugen entscheidend zur neuen Sichtweise bei. An die Stelle der Erbauung und Abschreckung trat nun – neben der authentischen oder fiktiven Kriminalerzählung – die bewusste Verfremdung der historischen Realität. Durchgehend lässt sich dabei ein Leitmotiv erkennen: Die Darstellung eines historischen Räubers in Balladen, Theaterstücken, Flugschriften oder Liedern wurde in die jeweils aktuelle Zeit übertragen. Der Räuber erschien als ‚edle' Person, die zusammen mit Gleichgesinnten das ihnen von der Gesellschaft zugefügte Unrecht rächte und durch ihr Handeln soziale bzw. politische Missstände anprangerte.
So geht auch das in vielen Schriften wiederkehrende Motiv von Johannes Bückler als ‚Robin Hood' zurück auf die Vorstellung vom edlen Räuber und Sozialbanditen. Die Grundlagen zu diesem Leitgedanken finden sich bereits im frühen Schinderhannes-Schrifttum. In den 1805 in Prag anonym erschienenen Lebensbeschreibungen werden zahlreiche Anekdoten aus dem Leben des Schinderhannes ausgebreitet, die sich aus den Quellen nicht belegen lassen: So erschießt Bückler beispielsweise einen seiner Komplizen, der einen armen Bauern ausgeraubt hat; einer alten Frau, die von einem jüdischen Viehhändler übervorteilt wurde, erstattete Schinderhannes den Verlust, nicht ohne sich anschließend das Geld bei dem Viehhändler zurückzuholen. Solche Legenden haben auch den Schinderhannes zum ‚Helden gegen das Gesetz' gemacht, obwohl sein Handeln eindeutig nicht dem eines Sozialrebellen entspricht. In zahllosen Anekdoten wurden Bückler Verhaltensmuster wie Freigiebigkeit, Wiedergutmachung von Unrecht, Höflichkeit, Humor, Schläue oder Tapferkeit zugeschrieben – Motive also, die sich in den Quellen kaum nachweisen lassen.
Die Darstellung des Schinderhannes schließlich als politischer Rebell gegen die damals von patriotischen Kreisen als Fremdherrschaft empfundene Zugehörigkeit der Rheinlande zur französischen Republik – in Verbindung mit Antisemitismus und dem Robin-Hood-Mythos – wurde im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts fortgeführt und um zahllose Aspekte erweitert. Die literarische Vermarktung des Schinderhannes-Stoffes setzte dabei bereits mit der Verhaftung des Schinderhannes ein. 1802 erschien die „Kriminalgeschichte voller Abentheuer“, und auch ein anonymer Autor nahm die Verhaftung des Schinderhannes im Mai 1802 zum Anlass, eine erste Kurzbiographie vorzulegen. Ignaz Ferdinand Arnold nutzte 1802 und 1803 ebenfalls die Gunst der Stunde und veröffentlichte eine umfangreiche Lebensbeschreibung. Eine weitere Gelegenheit bot die Hinrichtung der Schinderhannesbande im November 1803, der im darauffolgenden Jahr die „Actenmäßige Geschichte“ Beckers folgen sollte. Gerade der Hinweis auf die „Criminal-Akten“ als seriöse Basis der Darstellung durfte dabei auch in den folgenden Jahren nicht fehlen. Unter heutigen Gesichtspunkten hätten Rechtsanwälte mit dem Schwerpunkt Urheberrecht damals ein ergiebiges Auskommen gefunden; denn gerade Beckers Abhandlung wurde zum Beispiel bereits 1804 in zweiter Auflage im schweizerischen Aarau oder 1818 in Philadelphia erneut aufgelegt, allerdings ohne Nennung des Autors.
In den folgenden Jahrzehnten ließ das Interesse merklich nach. Erst im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 rückte auch der Schinderhannes wieder in den Vordergrund, wobei ausgerechnet antifranzösische Elemente fehlen: In Breughels Roman beispielsweise bietet sich das Julchen als Gewährsfrau an. Sie lebt als „hohe Achtzigerin in einem Dorfe Rheinhessens“ und erzählt rückblickend „dem Deutschen Volke“ ihre Lebensgeschichte. Nach ihrer Haft beschloss sie, künftig tugendhaft zu leben und verliebte sich in einen französischen Gendarmen, den sie schließlich heiratete. Der Sohn des Schinderhannes, den Bläsius während ihrer Mainzer Haftzeit zur Welt brachte, wurde von einer Schauspielerin adoptiert und gründete später in Berlin die erste Theateragentur. Dezidiert antifranzösische Tendenzen weisen erst die Veröffentlichungen Carl Rauchhaupts von 1891 und Ferdinand Harrachs von 1894 auf.
Eher antijüdische und zunehmend ahistorische Begebenheiten kennzeichnen mehrere anonyme Publikationen, die zwischen 1875 und 1896 erschienen. Auch als Fortsetzungsroman eignete sich das Thema am Ende des 19. Jahrhunderts: In Leipzig publizierte Ernst Czerwonka einhundert Romane mit über 2.400 Seiten, und in Berlin veröffentlichte ein fleißiger Anonymus zwischen 1893 und 1898 weitere 150 Hefte zum „Leben und Treiben des Schinderhannes, dem größten Räuberhauptmann des 19. Jahrhunderts“. Die Legende vom ‚Franzosenfresser' Schinderhannes lebte in den 1920er Jahren wieder auf, als am Rhein erneut deutsche und französische Interessen aufeinander trafen. 1922 erschien erstmals Clara Viebigs Roman „Unter dem Freiheitsbaum“. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts war sie eine der am meisten gelesenen Autorinnen in Deutschland. Ihr Werk spielt in der Zeit der französischen Herrschaft 1794-1814, in der nur die Moselbande sowie der Schinderhannes Widerstand gegen die Besatzer leisteten. Die politische Botschaft tritt klar zu Tage: Den revolutionären Parolen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit setzte Viebig die Willkür und die Verbrechen der neuen Besatzer entgegen. Bei Elwenspoek wurde Schinderhannes gar zum rheinischen Rebellen, der gegen die „Volksfeinde zu Felde“ zieht.
Durch die Mainzer Moritat vom Schinderhannes, die Carl Zuckmayer in Kiel 1922/23 im Rahmen einer Matinee vorstellte, wurde jedoch schon frühzeitig der Vereinnahmung des Schinderhannes als ‚deutschem Nationalhelden' entgegengetreten. Schinderhannes wird als ein die „Pfaffen und Juden“ mordender Psychopath dargestellt, der darüber hinaus junge Mädchen nach der Vergewaltigung tötet oder seinem besten Freund Plackenklos die Gefährtin abspenstig macht. 1927 schwenkte jedoch auch Zuckmayer um. In seinem Bühnenstück zum Schinderhannes wird Johannes Bückler – anders als in seiner Moritat – zu einem nationalen Helden und einem Rächer für erlittenes Unrecht verklärt. Die Verherrlichung des Schinderhannes sollte auch in den folgenden Jahren in Liedern und Bühnenstücken andauern.
Zur Verbreitung von Räubermythen trug nicht zuletzt auch in hohem Maße das Medium Film bei, was sich in Sonderheit an der Umsetzung des Schinderhannes-Stoffes nachweisen lässt: In der ersten Verfilmung, die 1928 unter der Leitung von Kurt Bernhardt stand, wurde Schinderhannes besonders im Hinblick auf die Wirtschaftskrisen und das Phänomen der Massenarmut in der Weimarer Republik als ‚Rebell vom Rhein', als proletarischer Vorkämpfer gegen die kapitalistische Klassengesellschaft präsentiert. 1957 verfilmte Peter Beauvais Zuckmayers Bühnenstück und hielt sich dabei weitgehend an die Zuckmayersche Vorlage. In der Verfilmung des Stoffes von 1958 durch Helmut Käutner fehlten hingegen jegliche politische Anspielungen: Im Vorder- grund stand die gefühlsbetonte und romantische Geschichte von Schinderhannes (Curd Jürgens) und seiner Geliebten Julchen (Maria Schell).
Eine erneute Umdeutung des Räubermotivs erfolgte erst wieder in den 1970er Jahren, als durch Filme über Räuber Kritik an sozialen und politischen Missständen der Zeit geübt wurde.
Heute wird mit dem Schinderhannes Werbung für die unterschiedlichsten Produkte betrieben, so beispielsweise für Schnitzel, Brot, Wein, Bier oder den Tourismus. Unlängst hielt Hans-Peter Brandt fest, dass der Schinderhannes „eine der populärsten historischen Gestalten im heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz ist“. Aus diesem Grund sei es statthaft, diesen prominenten „Rheinland-Pfälzer“ als „Werbeträger zu benutzen“ und sich „seines guten ... Namens“ zu bedienen – eine aufschlussreiche Anregung, die jedoch an dieser Stelle nicht weiter kommentiert werden soll. Bestrebungen, Schinderhannes als Markenzeichen der Initiative „Qualität aus Rheinland-Pfalz“ zu etablieren, scheinen zwischenzeitlich wieder stillschweigend zu den Akten gelegt worden zu sein – die entsprechende Internet-Adresse wurde jedenfalls schon seit Monaten nicht mehr aktualisiert. Gleichwohl hält die Vermarktung des Schinderhannes an: Das Internet bietet mehr als 20.000 Einträge unter dem Stichwort ‚Schinderhannes'. Viele Gemeinden nutzen den Räuber als Werbeträger ebenso wie zahlreiche Firmen, Hotels oder Restaurants, sogar für Fetischkleidung und andere Erotikartikel muss Schinderhannes heute werben. Unbeeindruckt von der historischen Realität und den neuesten Forschungsergebnissen wird in den verschiedenen Darstellungsformen und -medien der Schinderhannes also bis auf den heutigen Tag bewusst oder unbewusst aus der historischen Realität gelöst und der jeweiligen Intention entsprechend meist mehr oder weniger zum ‚Rebellen vom Hunsrück' mythologisiert, ein Trend, dem man sich vermutlich nicht widersetzen kann.
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