Sag mir, wo die Ruhen sind! - von Helmut Frey
Wer weiß heute noch, was eine „Ruhe“ ist? Früher standen „Ruhen“ überall in unseren Gemarkungen am Wegrand, in Ortsnähe und kilometerweit vom Dorf entfernt, an Weggabelungen, an den Verbindungswegen zu den Nachbardörfern, auch an den Wegen übers Land zum Markt in die nächste Stadt.
Wie sahen sie aus?
Sie waren aus Sandstein. Sie bestanden aus zwei etwa 25 cm breiten rechteckigen oder quadratischen Steinsäulen, die etwa 1,50 m voneinander entfernt, ein Meter hoch aus der Erde ragten. Darüber lag ein gleichstarker Querstein, der mit den ihn tragenden Steinen durch Eisenklammern verbunden war.
Es gibt noch eine Ruhe! Auf dem Weg von Ingelheim nach Heidesheim, nur wenige hundert Meter vom heutigen Stadtrand entfernt, steht an einer Weggabelung sogar eine „doppelte Ruhe“ (Bild links).
„Ruhen“ waren zum Ausruhen, zum Verschnaufen da
Ihre ursprüngliche Aufgabe und Bedeutung hat der Sprendlinger Heimatdichter Jakob Hirschmann (1803 -1865), ein Zeitgenosse und jugendlicher Freund von Isaak Maus (1748 -1833) in einem Gedicht aus dem Jahre 1820 über „Freude und Leid im Landleben“ sehr anschaulich und eindrucksvoll dargestellt.
Der Heimweg ist weit vom Geiersberg her,
und das Weinlaub im Grastuch, es ist so schwer
auf dem Kopf zu tragen immer zu und zu!
Ach, war ich doch erst bei der Altentalsruh!
Es seufzt die sonst so wackere Magd,
ist rechtschaffen müde am Abend, vor Nacht.
Seit der Vesper ist sie im Wingert bis jetzt
die Gassen hinauf- und hinuntergehetzt,
mit der Sichel hat sie die Reben gekappt,
die allzu lange Triebe gehabt,
verpackte die zartesten Zweige im Tuch
und hatte nun Futter fürs Vieh genug,
für den Abend nur, heißt das, und den anderen Tag,
für die folgenden holt sie dann halt wieder nach,
Frischatzung fürs Rind und die milchende Kuh,
und so Tag für Tag, immerzu. immerzu!
Oh, der Weg ist weit vom Geiersberg her
und die Last auf dem Kopfe macht solche Beschwer!
Noch 1000 Schntt! Und der rettende Stein
der Altentalsruh lädt zum Rasten ein.
Sie lässt ihr Gebund auf dem Querstein nieder,
nimmt die Kietze vom Kopf und öffnet das Mieder,
ihr ist, obwohl der Abend schon kühl,
von der Arbeit zu warm, vom Gange zu schwül.
Hier wird sie nun eine Weile ruhn.
Ein wohlig Gefühl, einmal gar nichts zu tun!
Wie gut doch, dass man nach langem Rat
im Feld diese Ruhen errichtet hat!
Dieses Gedicht stimmt in vieler Hinsicht nachdenklich! Wer kann sich heute noch vorstellen, in einer Zeit, die durch Vollmotorisierung und Vollmechanisierung geprägt ist, von Auto, Schlepper und Vollerntemaschinen beherrscht wird, dass vor nicht allzu ferner Zeit Frauen das Futter für ihr Vieh im Grastuch auf dem Kopf nach Hause trugen, oft kilometerweit und dies tagtäglich. Auch für Frauen, die damals an schwere körperliche Arbeit und an Strapazen gewohnt waren, wog die Last auf dem Kopfe schwer, und wir können sicherlich nachempfinden, dass sie froh waren, wenn sie an eine Ruhe kamen, um ihre Last in Körperhöhe abstellen und nach einer Verschnaufpause wieder von dem Querstein auf den Kopf nehmen zu können, ohne schwer heben zu müssen. Die abgebildete kleine Skizze zeigt uns eine Ruhe, zeigt uns die sich ausruhende Frau, das gefüllte Grastuch und in der Ferne das Dorf; auf dem Boden liegt das runde Kopfpolster (Katze, Kietze oder Kiezel genannt), liegen auch die Werkzeuge Sichel, Wetzstein und Schlotterfass. Was für unsere Vorfahren zum Alltag gehörte, hat für uns heute nur noch Erinnerungswert, veranschaulicht uns aber die Arbeits- und Lebensweise früherer Generationen. Ein Vergleich von damals zu heute sollte uns in vieler Hinsicht zum Nachdenken anregen.
Wo sind sie geblieben?
Wo sind all die Ruhen, die früher zu Dutzenden in unseren Gemarkungen standen? In Sprendlingen, mit über 1.300 ha flächenmäßig eine der größten Gemarkungen in Rheinhessen, gab es angeblich nicht weniger als 16 Ruhen. Ruhen standen, je eine...
- am Weinheimer Weg, da, wo er den höchsten Punkt der „Rich“ erreicht, also auf dem Gehrbornshübel, wie man sagt. Sie hieß die Gehrbornsruh,
- eine am alten Mauerweg in der Eßgewann, unweit des seit 1910 nicht mehr bestehenden Kalkhäuschens, in dem ehemals ein fleißiger Arbeiter namens Heinrich Huth Kalksteine brannte, die er von Wißberg (aus des Teufels Hirnschal) oder auch vom „Steinberg“ herabschaffen ließ,
- eine am alten Mainzer Weg in der jetzigen Gewann der „Allentalsruh“,
- eine am ehemaligen Hoferweg, etwa da, wo heute das dem Heiligen Josef geweihte kleine Helgenhäuschien steht,
- eine am Hanbornsweg, „Ober dem Hof, zwischen der "Grünn“' und den „Grubäckern“,
- eine am alten Aracherweg zwischen der „Stechelgewann“ und der „Kieskaut“,
- eine an der Westseite der Bahnstrecke Bingen-Alzey, am ehemaligen Biebelsheimer Pfad in der Gewann „Kreuznacher Weg“,
- eine am ehemaligen „Schützenhausweg“ zwischen der jetzigen Gewann „Am Pfaffen-Schwabenheimer Weg“ und der Gewann „an der Hochstraße“" (hinter dem „Kreuz“ und den „Kurzen Stückern“, wie man früher sagte) da, wo sich vor 1910 noch das Schützenhaus und der Schießstand der Sprendlinger Schützengilde oder Jagdgesellschaft befanden,
- eine bei der jetzt nicht mehr vorhandenen „Frechtsbrücke“, die über den zur Bannmühle gehörigen (oberen) Mühlteich von der „Frecht“ nach der ehemaligen „Lettenkaute“ und dem Sumborn führte,
- eine an der Landstraße Sprendlingen - Badenheim, an der „Floßbrück“. Das war die Baubornsruh,
- eine zwischen der „Bein“ und dem „Hauböhl“,
- eine da, wo die Gewannen „Giebelstrich“, „Seit“, „Gehrborn“' und „Probstwiese“ zusammenstoßen,
- eine an der Gau-Bickelheimer „Port“ (Pforte) am Vorgarten des Hauses Baum, Nr. 52 der Gau-Bickelheimer Straße, Ecke Weinheimer Weg,
- eine an der „Gehannsport“ vor dem Winzerkeller,
- eine in der Karlstraße, wenig unterhalb des dortigen Steinkreuzes und
- eine an der „Gerport“, Ecke Dammstraße- Bachgasse. Sie ist diejenige, die am frühesten beseitigt wurde, schon vor 1900.
Alle sind verschwunden, die letzte erst in den 50er Jahren. Sie waren überflüssig geworden. Auto und Schlepper übernahmen den Transport all dessen, was in der Landwirtschaft zu transportieren ist, auch der Menschen. Die Ruhen waren der Technik und der Rationalisierung im Weg. Sie wurden abgerissen. „Was hinnert, kommt eweg!“, war die verbreitete Denk- und Handelsweise. Andere wurden bei der Flurbereinigung mit bereinigt. Ruhen haben vieles mit unseren Weinbergshäuschen (auf rheinhessisch „Wingertshaisjer“) gemeinsam. Beide sind Zeitzeugen vergangener Epochen. Beide sind überflüssig geworden: Die Weinbergshäuschen als Schutzbauten, die Ruhen als Ort zum Ausruhen. Beide waren Treffpunkt der Menschen, die in Feld und Weinberg körperlich schwer arbeiten mussten. Während der kulturhistorische Wert der Weinbergshäuschen und ihr Wert als prägender Bestandteil einer Weinlandschaft in letzter Minute erkannt wurde und viele vor ihrer Zerstörung bewahrt blieben, scheint für die „Ruhen“ die Zeit abgelaufen. Auch der Ruhe in Ingelheim droht der Verfall.
Vor dem Vergessen bewahren!
Was könnte getan werden? - Nicht nur die Ruhe in Ingelheim sollte restauriert und erhalten werden! Wäre es nicht denkbar, in all den Gemarkungen, in denen früher Ruhen standen, wenigstens wieder eine Ruhe zu errichten? Vielleicht liegen irgendwo in der Gemarkung oder in einem Hof noch Steine, die von einer „Ruhe“ stammen könnten. Sie könnten reaktiviert werden. Und wenn nicht, die Maße sind bekannt, die Wiederherstellung einer Ruhe ist kein Kunststück und die Kosten sicherlich auch kein unüberwindliches Hindernis.
Ruhen wären kein Ruhepunkt mehr für die in Feld und Weinberg arbeitenden Menschen, sondern könnten Ruheplatz sein für die immer größer werdende Zahl von Wanderern durch unsere Gemarkungen.
Ruhen sind und wären an sich Kulturgut. Sie könnten „Denkmal“ sein, indem sie uns anregen, über „Freude und Leid im Landleben“ früherer Generationen nachzudenken, vieles der Vergessenheit drohende wieder in unser Bewusstsein zu bringen. Auch wer heute nichts mehr mit der Landwirtschaft zu tun hat, sollte bedenken, dass einige oder die meisten seiner Vorfahren mit Sicherheit aus der Landwirtschaft stammen, man bäuerlicher Abstammung ist. Wie oft wird sich die Urgroßmutter an einer Ruhe ausgeruht haben?
Quellennachweis: Artikel aus „Der Landbote“ von Dr. Helmut Frey, Mainz. Die Auflistung der Ruhenstandorte in der Gemarkung Sprendlingen, das Gedicht, die Skizze und einige Hinweise wurden der Festschrift „I200 Jahre Sprendlingen“ aus dem Jahr 1967 entnommen; redakt. Bearb. S.G.