Historische Demographie heute
von Arthur E. Imhof
Einleitung
1995 erschien im Saur-Verlag München eine CD-ROM mit dem Titel "Historische Demographie I". Zwar wurden darin die damals neuen technischen Möglichkeiten wie Hyperlinks, Suchfunktionen, Illustrationen in Farbe usw. genutzt, doch stellt diese CD unsere geschichtliche Subdisziplin noch weitgehend auf herkömmlich handbuchartige Weise, das heißt sequentiell, dar. So gibt es einzelne aufeinander folgende Kapitel zu den Quellen und Methoden, zum Stand der Forschung, zu neueren Forschungsansätzen, zur Nutzanwendung europäischer historisch-demographischer Erkenntnisse auf heutige Schwellen- und Entwicklungsländer, zu Zeitschriften und Monographien. Da die CD-ROM seit ihrem Erscheinen vom Autor im Web kontinuierlich betreut wird, bleibt ihre Aktualität zumindest bis zu einem gewissen Grad aufrechterhalten (URL [Universal Resource Locator] der Webbetreuung: userpage.fu-berlin.de ~aeimhof/saurhd.htm). "Historische Demographie I" wird durch „Historische Demographie II“ ergänzt. Im Gegensatz zur ersten Arbeit wurde diese zweite von Anfang an als bildbasierte Webpräsentation konzipiert und 1995 bis 1997 realisiert (URL: userpage.fu-berlin.de/~ethnohis/hd2bkl.htm). Anhand Dutzender, vielfältig kommentierter Votivtafeln aus Bayern vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis heute werden historisch-demographisch relevante Ereignisse oder Verhältnisse im Bereich Schwangerschaft und Geburt, Lebensdauer, Krankheiten und Unfälle, Krieg und Verbrechen, Sterben und Tod bildhaft einprägsam vor Augen geführt. Wenn man so will, handelt es sich um zum Leben erweckte Historische Demographie. Ausgedruckt ergäbe diese Online-Publikation mehrere Hundert Seiten. Einige Einzel-Exemplare existieren in Form von CD-ROMs.
Was möglicherweise vielen schon als großer Sprung in Richtung neue mediale Technologien erscheint, ist indes nur ein Anfang. Weder „Historische Demographie I“ noch "Historische Demographie II" schöpfen die multimedialen Möglichkeiten auch nur annähernd aus. Wem käme es zum Beispiel in den Sinn zu behaupten, daß sich Geschichte, erst recht Historische Demographie, jemals geräuschlos vollzogen habe? Daß sie ohne Bewegung abgelaufen sei? Die Produktion von "Historischer Demographie I" und "Historischer Demographie II" stieß bei der Realisierung grundsätzliche Fragen einer neuen Geschichtsschreibung, besser gesagt Geschichtsdarstellung, einer adäquaten wissenschaftlichen Kommunikation im globalen Informationszeitalter an. Es sei allerdings nicht verschwiegen, daß sich diese historische Subdisziplin besonders gut dazu eignet, die auf uns einstürmenden Herausforderungen durch die neuen medialen Technologien anzunehmen und in vielerlei Hinsicht positiv zu beantworten. Zur Sprache kommen sollen im folgenden einige neue, prinzipiell globale Möglichkeiten einer attraktiven Darstellung wie auch erstmals realisierbare Chancen einer interdisziplinären Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg.
Bestandsaufnahme
Erstens: Als eigene Sparte existieren im Internet sogenannte Newsgroups und moderierte Diskussionsforen, in denen täglich Dutzende, Hunderte von Anfragen gestellt, Antworten erteilt, Informationen ausgetauscht werden. Bezogen auf unser historisch-demographisches Thema gehört zur erstgenannten Gruppe etwa SOC.GENEALOGY.GERMAN (genealogierelevante Fragen bezogen auf den deutschen Sprachraum), zur zweiten – da moderiert mit notwendiger Anmeldung und Zulassung – H-DEMOG (Kürzel für "Historical Demography"). Während in H-DEMOG zum Beispiel der Organisator einer Migrations-Konferenz Monate im voraus Zeit, Ort und Themen seiner Veranstaltung bekannt gibt und damit verbunden einen Call for Papers postet oder ein Demographiezentrum seine neue Software für die Berechnung von Sterbetafeln erläutert und dokumentiert, so suchen in der ersten Gruppe etwa Nachkommen von deutschen, österreichischen, schweizerischen Auswanderern in aller Welt nach ihren familiären Wurzeln in Preußen, Württemberg, in der Steiermark, im Solothurnischen. Des weiteren werden zum Beispiel immer wieder Fragen nach der Bedeutung alter Kirchenbucheintragungen gestellt ("baptizatus in utero" [bei inhärenten Geburtskomplikationen vorsorglich im Mutterleib getauftes Kind], "gestorben an Hitzigem Fieber" [häufige, vom kirchenbuchführenden Pfarrer übernommene Laiendiagnose bei Ableben an jeder Art hochfebriler Infektionskrankheit]). Oder jemand möchte wissen, ob sich an diesem oder jenem Ort in der alten Welt namentliche Auswandererlisten erhalten haben, oder ob während der NS-Zeit ein (nie publiziertes) Dorf- oder Ortssippenbuch angelegt wurde und sich die bereits vorgenommenen Verkartungen möglicherweise noch immer am Ort befinden.
Mögen viele dieser Fragen verständlicherweise auch von Laien gestellt sein, so erfordern die Antworten darauf doch häufig mehr als bloße Laienkenntnisse. Fachleute – Familienhistoriker, Historiker-Demographen, Medizinhistoriker und andere – sollten sich nicht zu schade sein, hier ihr kundiges Wissen weltweit einzubringen. Sie erreichen auf diese Weise zudem eine weitaus breitere interessierte Öffentlichkeit als dies in ihren geschlossenen Fachzirkeln meist der Fall ist.
Zweitens: Im Internet veröffentlichen weltweit renommierte Population Studies Centers oft nur noch die Abstracts ihrer Online-Publikationen in HTML (Hypertext Markup Language, zu lesen mit einem WWW-Browser), so zum Beispiel das diesbezügliche Studienzentrum der University of Michigan in Ann Arbor die Research-Reports ihrer Serie Elderly in Asia. Die Komplettversionen dagegen sind in PDF geschrieben (Portable Document Format, zu lesen mit dem Acrobat Reader). Zwecks Eruierung der Lesepräferenzen versuchsweise selbst sowohl in einer HTML- wie in einer PDF-Version angebotene Online-Informationen (so das Booklet zum Vierjahreszeiten-Projekt; URL: userpage.fu-berlin.de/~history1/booklet.htm) wurden gemäß Serverabrufstatistik zur eigenen Überraschung über Wochen hinweg regelmäßig dreimal häufiger in der PDF- als in der HTML-Version eingesehen.
Drittens: Heutige Hard- und Software-Industriestandards erlauben es, geschichtliche, inklusive und besonders auch historisch-demographische Sachverhalte multimedial und damit den seinerzeitigen Gegebenheiten angemessener darzustellen als dies bislang möglich war. Realisierbar ist dies sowohl offline wie – allenfalls in komprimierterer Form und sofern sämtliche Copyright-Fragen geklärt sind – auch online. Zudem läßt sich dann ebenfalls an eine marktgängige Verbreitung der Arbeitsergebnisse in Form einer CD-ROM denken. Als Beispiel dafür kann das erwähnte Vierjahreszeiten-Projekt dienen, das neben Hypertext-Partien in HTML und PDF auch Still- und Bewegtbilder sowie Sprache und Musik sowohl auf einer CD-ROM wie in Form von Webseiten auch online anbietet – inklusive eines in sich geschlossenen historisch-demographischen Kapitels zur saisonalen Geburtlichkeit und Sterblichkeit (URL: userpage.fu-berlin.de/~history1/aufseas.htm beziehungsweise http://userpage.fu-berlin.de/~history1/bs/hd/hdanfang.htm).
Mit diesen exemplarisch angeführten drei Sachverhalten mag es hier sein Bewenden haben. Sie geben genügend Anlaß zum Nachdenken. Ganz offensichtlich existiert weltweit eine interneterfahrene historisch-demographisch interessierte weitere Öffentlichkeit (aktive Newsgroups). Global nachgefragte Online-Publikationen sollten sich nicht allein auf HTML-Versionen beschränken, sondern ebenfalls PDF benutzen. Denn historisch-demographischen Sachverhalten angemessenere Multimedia-Realisationen sind heute jedermann möglich – auch ohne Informatiker oder Computerspezialist zu sein.
Folgerungen
Die Konsequenzen aus den erwähnten Sachverhalten sind mit Händen zu greifen. Wer neueste (historisch-) demographische Informationen braucht oder selbst weiterhin zur Kenntnis genommen werden will hat schwerlich länger eine andere Wahl. Was sodann die europäischen Historiker-Demographen betrifft, so ist es nicht Überheblichkeit, was sie aus dem Elfenbeinturm heraustreten und ihre Kenntnisse und Erkenntnisse unter Zuhilfenahme der neuen medialen Technologien global präsentieren läßt. Denn wie in kaum einem anderen Bereich der Geschichtswissenschaften sind hier Nutzanwendungen nicht nur möglich und zulässig, sondern sie werden weltweit tatsächlich auch immer wieder nachgefragt.
Die Populationen ganzer Länder machen heute zeitverzögert fundamentale Prozesse durch, die wir in Europa weitgehend oder ganz hinter uns haben: die Entwicklung von einer unsicheren zu einer gesicherteren Lebenszeit, die Entwicklung vom altersmäßig breitgestreuten Sterben an hauptsächlich infektiösen und parasitären rasch tötenden Krankheiten zum gebündelteren Sterben in fortgeschrittenerem Alter aufgrund chronisch langwieriger Leiden, die Entwicklung von der überlebensnotwendigen Einordnung der Menschen in traditionelle Zwangsgemeinschaften zur Integration von nur noch locker untereinander verbundenen Individuen in heutigen Gesellschaften – alles mit massiven Auswirkungen auf den Einzelnen, auf Familien, auf Bevölkerungsgruppen aller Art, auf ganze Völker und Nationen in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik.
Vor diesem Hintergrund gesehen sollte sich unsere Entwicklungshilfe nicht allein auf ökonomische Aspekte beschränken. Und selbst wenn wirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund stehen, ist es mit Sicherheit kostengünstiger und wahrscheinlich auch effektiver, andere an unseren gemachten Erfahrungen unter Darlegung aller Pros und Cons teilhaben zu lassen als zeitlich begrenzte und anschließend nicht selten im Ruin endende Großprojekte zu finanzieren. So möchte man in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern – verständlicherweise – von uns (Historiker-Demographen) gerne wissen, wie wir hierzulande vor zwei, drei, vier Generationen jene Ziele erreichten, die sie heute mit Macht selbst anstreben: eine niedrige Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit, ein quasi garantiertes langes Leben für so gut wie alle. Selbstverständlich ist ein erfahrener europäischer Historiker-Demograph in der Lage, hierüber erschöpfend Auskunft zu erteilen. Schließlich haben sich diese Entwicklungen bei uns bereits vollzogen. Allerdings sollte er sich dabei nicht einseitig im Prahlen ergehen und nur die gefragte glänzende Seite der Medaille schildern. Cons gibt es wahrlich genügend, und auch darauf sollte ehrlicherweise eingegangen werden: die häufigen Beschwerden des hohen Alters, ein oft langes Siechtum mit einem ausgedehnten Sterbeprozeß und dem Ende nicht zuhause, sondern in einer Institution, nicht selten geistige Leere in fortgeschrittenen Jahren bei reduziertem physischem Radius, die Problematik der mit steigendem Alter zunehmenden Suizidhäufigkeit. Es ist von uns nicht fair, andere sehenden Auges ins Messer laufen zu lassen.
Weltweite Zusammenhänge
Seit den frühen 1980er Jahren unterrichtete ich das Fach Historische Demographie mehrfach und über längere Zeiten in Schwellen- und Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Südamerikas, am häufigsten im Rahmen von DAAD-Postgraduierten-Austauschprogrammen an brasilianischen Universitäten. Nur anfänglich machte mich die Tatsache stutzig, daß sich die dortigen Studierenden sehr viel mehr für die neuen Technologien interessierten als unsere hiesigen. Wer jedoch – anders als bei uns trotz Sparmaßnahmen – nicht über nach wie vor wohlsortierte Bibliotheken in erreichbarer Nähe verfügt, ist verständlicherweise weit stärker auf den Online-Zugang zu den größten Buchbeständen dieser Welt – wie etwa der Library of Congress – angewiesen, oder auf moderierte wissenschaftliche Newsgroups und Diskussionsforen, auf den Instantzugriff auf elektronisch publizierte Zeitschriften (in unserem Fall besonders wichtig etwa den Population Index on the Web; URL: popindex.princeton.edu/), ganz zu schweigen von den Möglichkeiten zu Teleteaching / Distancelearning anhand von sogenannten Educational Modules im Netz. „Global Learning“ meint Bildung für alle, jederzeit, überall.
Als geradezu ideal erwiesen sich beim Unterricht in Schwellen- und Entwicklungsländern sofort nach Erscheinen die damals vergleichsweise immensen Speicherkapazitäten von CD-ROMs auf einem Minimum an Platz. Was an Unterrichtsmaterial zuvor schwere Koffer gefüllt hatte, ließ sich nun bequem in der Westentasche mitnehmen. Die diesbezüglichen Anwendungsmöglichkeiten sind auch der Grund dafür, weshalb sämtliche Illustrationen der 1995 erschienenen, stark abbildungsorientierten CD-ROM "Historische Demographie I" (unter anderem mit umfangreichem brasilianischem und indischem Vergleichsmaterial) auf der Scheibe zusätzlich in einem eigens hierfür eingerichteten "Archiv" untergebracht sind. Jede der auf der CD-ROM enthaltenen weit über hundert Abbildungen, Figuren, Umzeichnungen usw. kann folglich einzeln auf den Monitor geladen und individuell beliebig weiterverarbeitet, maßgeschneidert in eigene Lehreinheiten eingefügt, mit zusätzlichen Texten versehen, erläutert, übersetzt, ergänzt werden (über FTP [File Transfer Protocol] oder als Attachment auch auf jeden anderen vernetzten Monitor wo immer auf der Welt). Diese leichte materielle Verfügbarkeit stellte eine enorme Arbeitserleichterung sowohl beim Dozieren wie beim Arbeiten mit den Studierenden dar.
Zwar bestand meine vertraglich festgelegte Hauptaufgabe in den Postgraduierten-Intensivkursen stets darin, das Fach Historische Demographie inklusive dessen Nutzanwendung zu dozieren. Dennoch mochte ich es, meiner eigenen Auffassung von "Entwicklungshilfe" folgend, dabei jeweils nicht bewenden lassen. Mit dem Wandel von der unsicheren zur sichereren Lebenszeit und einem zunehmend höheren durchschnittlichen Sterbealter geht auch in Brasilien – oder in welchem Schwellen- und Entwicklungsland auch immer – untrennbar ein Wandel vom alten zum neuen Sterben einher: immer öfter an langwierigen Leiden, immer öfter in Krankenhäusern oder Verwahranstalten, immer öfter fern der Angehörigen. Ist es da verwunderlich, daß die Teilnehmer eines neuerlichen Kurses an der Universität von Minas Gerais in Belo Horizonte 1995 auf die Idee kamen, die kursergänzenden Abschlußvorlesungen über eine sich auch in Brasilien mehr und mehr aufdrängende neue „Kunst des Sterbens“ ins Portugiesische zu übersetzen und webgerecht aufbereitet unter dem Titel „Uma Ars moriendi para os nossos tempos“ ins Netz zu stellen, zum Selbststudium oder Nutzen in Krankenhäusern, an Universitäten, in Bildungseinrichtungen in anderen Teilen des riesigen Landes (URL: userpage.fu-berlin.de/~aeimhof/amb.htm).
Implikationen für Forschung und Lehre
Im Gegensatz zu Brasilien ist hierzulande in einem weithin technologiemißtrauischen bis technologiefeindlichen Umfeld bezüglich des sinnvollen Einsatzes neuer Medien wesentlich mehr und mühsamere Überzeugungsarbeit zu leisten. Selbst an Universitäten sind die Widerstände zum Teil massiv, so wenn Dekane die eingebrachten Vorschläge zur Einrichtung von Multimedia-Arbeitsplätzen für Forschung und Lehre mit dem Satz abtun: "Zu meinen Lebzeiten kommt mir so etwas nicht ins Haus!" Und wenn man daraufhin wenigstens den eigenen Arbeitsplatz durch Selbstfinanzierung und für den Gebrauch in Forschung und Lehre entsprechend ausrüstet, bekommt man seitens der universitären Administration zu hören: "Private Geräte dürfen in den Diensträumen nicht benutzt werden." Die fatale Folge dieser innovationshemmenden Haltung ist, daß die Antwort mancher Studienteilnehmer an entsprechend anspruchsvollen Lehrveranstaltungen abwehrend lautet: "Wieso sollten wir so etwas lernen, so lange das von uns nicht verlangt wird?" Noch während jedoch das Sträuben hierzulande andauert, sorgt die wirtschaftliche Globalisierung dafür, daß immer mehr überall auf der Welt ausführbare Jobs zum Schaden der Zauderer dorthin abwandern, wo „so etwas“ längst eine zeitgemäße Selbstverständlichkeit ist. Die verlorenen Arbeitsplätze jemals wieder zurückzugewinnen, dürfte sehr schwer fallen.### Daß es auch anders geht, mag wiederum ein Beispiel mit – so meine Hoffnung – Überzeugungscharakter belegen. Niemand wird bestreiten, daß „Säuglingssterblichkeit“ auch heute noch weltweit ein aktuelles Thema ist. Wenn nun eine Doktorandin in Historischer Demographie (Ines Elisabeth Kloke) nach jahrelanger Forschung und gestützt auf Zehntausende von ursprünglichen Kirchenbuch- (beziehungsweise Ortssippenbuch-) Eintragungen eine Arbeit vorlegt mit dem Titel "Säuglingssterblichkeit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert – sechs ländliche Regionen im Vergleich" (URL: userpage.fu-berlin.de/~aeimhof/metatags/dmkloken.htm), kann man sich wegen den nun schon wiederholt erwähnten Möglichkeiten einer Nutzanwendung historisch-demographischer Ergebnisse leicht vorstellen, daß nicht nur in verschiedenen Schwellen- und Entwicklungsländern und keineswegs nur in akademischen Zirkeln ein unmittelbares Interesse an Einsichtnahme besteht: möglichst rasch, möglichst umfassend, möglichst kostengünstig. In heutiger Zeit und angesichts heutiger Möglichkeiten drängt sich hier eine Online-Publikation geradezu auf. (Unschön ist derzeit dabei, daß hierzulande bislang nur wenige Universitäten diese auch für die Promovierenden weitaus kostengünstigere Möglichkeit der Veröffentlichung durch eine entsprechende Ergänzung ihrer Promotionsordnungen voll akzeptieren. Wo dies wie etwa an der Humboldt-Universität zu Berlin bereits der Fall ist, müssen physisch nur noch vier statt wie bisher hundert oder noch mehr Exemplare "auf alterungsbeständigem, holz- und säurefreiem Papier" eingereicht werden.)
Bereits am Tage nach der Disputation an der Freien Universität Berlin im Dezember 1997 hatte ich (als "Doktorvater") die Dissertation von Ines E. Kloke – obwohl von meiner eigenen Universitäts-Administration nicht genehmigt – ins Netz gestellt. Da die Doktorandin vor der definitiven Freigabe des gesamten Inhalts durch die Promotionskommission noch gewisse Änderungsauflagen zu erfüllen hat, wurde dabei folgender Weg gewählt. Das ausführliche Inhaltsverzeichnis ist bereits komplett und ohne Einschränkungen in HTML einsehbar. Der mehr als dreihundert Seiten umfassende Inhalt selbst dagegen ist für das Web in PDF umformatiert worden und bis zur endgültigen Freigabe dort noch durch ein Paßwort geschützt. Interessierten wird es auf e-mail-Anfrage mit Nennung des Grundes gegebenenfalls mitgeteilt. Derzeit besteht dabei vor allem der Wunsch nach Online-Zugriff auf Dutzende von nicht mehr zu verändernden Statistiken wie etwa zur parallelen oder divergierenden Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in den verschiedenen Regionen und Zeitabschnitten, über Unterschiede oder Gleichheiten nach Konfession beziehungsweise Religion, nach Geschlecht, Rechtsstand (legitim/illegitim), Geburtsrang, Alter der Mutter usw. Global begehrt sind auch serielle Angaben, die einer Verifizierung oder Falsifizierung der Zirkularkausationstheorie beziehungsweise der Gewichtung einzelner Elemente daraus dienen können, was angesichts der in den letzten Jahren weltweit viel diskutierten Frage nach der schlüsselgleichen Bedeutung von "Female resp. Maternal Education" für eine Senkung der Säuglingssterblichkeit nicht weiter verwunderlich ist.
Damit nach dieser Online-Version und ihren Inhalten weltweit auch gezielt gesucht werden kann, war es zudem unerläßlich, den HTML-Inhaltswebseiten relevante Metatags voranzustellen (URL: userpage.fu-berlin.de/~aeimhof/metatags/ metatags.htm). Diese Angaben werden vom Browser nicht dargestellt, führen aber bei entsprechenden Suchanfragen im Web zu den gewünschten Ergebnissen.
Damit derlei weltweit vorzeigbare Online-Leistungen zustande kommen können, ist eine zeitgemäße Ausbildung der nachwachsenden Generation in Forschung und Lehre unerläßlich. Dies wiederum setzt einen entsprechenden, meist in Eigeninitiative entwickelten Umgang der Dozenten mit den neuen Technologien voraus. Von ihnen im Web bereitgestellte Lehr- und Lerneinheiten dürfen nicht einfach durch Einscannen phantasie- und lieblos umgesetzte Vorlesungsmanuskripte sein. Die Konkurrenz im Netz ist enorm, und wessen dortige Präsentationen nicht gleichermaßen sorgfältig durchdacht, prägnant und ästhetisch ansprechend sowie medienpädagogisch attraktiv sind, wird schwerlich irgendwo bei irgendwem auf längerfristiges Interesse stoßen. Vom Delegieren der diesbezüglichen Umsetzungsarbeit an „Schreibkräfte“ oder an nur technisch versierte Mitarbeiter ist abzuraten. Form und Inhalt müssen übereinstimmen, und über den Inhalt weiß nun einmal der Dozent selbst am besten Bescheid. Also muß er sich wohl oder übel in die entsprechenden Formgebungsmöglichkeiten einarbeiten, in (D)HTML (Dynamic HTML), in CSS (Cascading Style Sheets) und JavaScript, in SGML/XML (Standard Generalized Markup Language / Extensible Markup Language), in PDF, in Vektor- und Bitmap-Pixel-Graphikprogramme (zum Beispiel CorelDraw und Corel Photo-Paint oder Adobe Illustrator und Adobe Photoshop). Er muß vor dem Beginn der eigentlichen Arbeit seine nicht länger linearen, sondern auf vielen verschiedenen Ebenen mit- und untereinander verknüpften Web- oder CD-ROM-Präsentationen "drehbuchartig" organisieren, muß über Search-Engines relevante Links in die weite Welt auffinden, einbauen, gegebenenfalls kommentieren und anschließend à jour halten, angesichts der Raschlebigkeit des Web ein oft zeitraubendes und nie endendes Unterfangen.
So enthält die im wesentlichen 1996 realisierte (und dem damaligen Stand der Technik entsprechend relativ unsophistizierte) Lehr- und Lerneinheit "Historische Demographie II" (URL: userpage.fu-berlin.de/~ethnohis/hd2bkl.htm) auf der obersten Ebene nur knapp orientierende Texte zu den verschiedenen nachfolgenden „Kapiteln“, das heißt zur Einführung, zum umfangreichen Votivtafelbestand von Sammarei (= Sankt Marien) – jenem von Gläubigen noch heute oft und gern aufgesuchten Marienwallfahrtsort in der Nähe von Passau –, zu den angeblich "guten alten Zeiten" unserer Vorfahren usw. Die weitaus ergiebigeren Webseiten auf der jeweils zweiten Ebene bestehen dagegen stets aus einer Fülle von je einzeln aufrufbaren Abbildungen, Karten, Graphiken, weiteren Texten zu den verschiedensten historisch-demographisch relevanten lebenszeitbedrohenden oder -verkürzenden Themenbereichen wie Säuglings- und Kindersterblichkeit, schweren Geburten, Unfällen aller Art, Krieg und Verbrechen usw. Zusätzlich mit einem Link unterlegte Fachausdrücke führen sodann auf eine weitere Erläuterungsebene (zum Beispiel der Hinweis auf "rote Ruhr" innerhalb eines Votivtafeltextes oder im Kommentar eines abgebildeten Verstorbenenregisters).
Was schließlich die in einem bibliographischen Kapitel zusammengefaßte lange Liste der zitierten Buchliteratur betrifft, so werden dort nicht nur die üblichen exakten Angaben vor Augen geführt, sondern jeder Titel ist nochmals einzeln anklickbar, worauf man auf einer zusätzlichen Ebene das komplette Inhaltsverzeichnis sowie gegebenenfalls eine Reihe wichtiger Textpassagen vorfindet. Ebenso wichtig ist im Webzusammenhang allerdings die nicht minder lange Liste der Online-Links. Sie führen nicht nur in die themenbezogen wichtigsten Bibliotheken der Welt wie die National Library of Medicine in Bethesda mit freiem Online-Zugang zu MEDLINE oder in führende Forschungsstätten wie das Health Transition Centre an der australischen National University in Canberra als einer der wichtigsten Begegnungsstätten bezüglich der Diskussion über die Rolle von "Maternal resp. Female Education". Gleichermaßen hilfreich sind im Hinblick auf die Identifizierung von Votivtafelheiligen die Online-Verbindungen zu den umfangreichen „Saints“-Webseiten der Katholischen Kirche. Zwischendurch oder zur Entspannung lassen sich über anklickbare Icons außerdem eine kleine Diaschau zum Marienwallfahrtsort Sammarei oder über verlinkte Daumennagelbildchen verschiedene Detailansichten der Votivtafelhängung in situ aufrufen.
Während sich Teilnehmer an derlei Lehrveranstaltungen im jeweils laufenden Semester Woche für Woche selbständig online auf das nächste Kapitel der Lehr- beziehungsweise Lerneinheit vorzubereiten haben, erläutern und diskutieren sie in den Seminarstunden vor dem Bildschirm das individuell Gelernte, bauen gegebenenfalls zusätzliche Links ein oder bringen auf der dritten, vierten, fünften Ebene noch weitere Anmerkungen an. Offline kann mein auch der Lehre dienender Multimedia-Arbeitsplatz zudem genutzt werden, um zur erwähnten Diaschau von einer Audio-CD das einzigartige Glockenspiel von Sammarei zum Erklingen zu bringen oder um sich Videoclips über das Wallfahrtswesen in Sammarei an Marienfesttagen anzusehen. Im Rahmen solcher Lehrveranstaltungen zwecks Leistungsscheinerwerbs entstehende Arbeiten akzeptiere ich sodann nicht länger auf Papier, sondern nur noch in Form von On- oder Offline-Webseiten und/oder von in Teams entwickelten multimedialen CD-ROMs.
Verständlicherweise ist der diesbezügliche Arbeitsaufwand sowohl beim Dozenten wie bei den Teilnehmenden erheblich größer, aber auch weitaus intensiver als bei traditionellen Lehrveranstaltungen. Nicht wenige Teilnehmer kommen indes Semester um Semester wieder, wohlwissend, daß sie mit einem Fachstudium in den Geisteswissenschaften allein (Historische Demographie ist bei den Geschichtswissenschaften angesiedelt) eher wenig günstige Berufsaussichten haben. Ihre gleichzeitigen Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich der neuen Technologien und Medien verschaffen ihnen ein zweites Standbein. Wie die Erfahrung immer wieder zeigt, haben sie es nach dem Studienabschluß erheblich leichter, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Nicht unterschätzt werden sollte ein weiterer Aspekt. Wohl auf keinem anderen Gebiet ist die Halbwertszeit von angeeignetem Wissen und erworbenen Kenntnissen derzeit so kurz wie im Bereich der neuen Technologien und Medien. Kaum fühlt man sich in einem Graphik- oder 3D-Programm, einem HTML- oder PDF-Standard einigermaßen zuhause, liegt auch schon die nächste oder übernächste Version vor. Man mag das atemberaubende Tempo bedauern (oder umgekehrt als stimulierende Herausforderung empfinden) und sich fragen, wie lange man das selbst durchhält. World Wide Web ist per se global. Die weltweit Schnellsten geben das Tempo vor. Solange man sich selbst um Mithalten bemüht und dasselbe deshalb auch von den Studierenden verlangen kann, solange dürfte es für diese keine bessere Gewöhnung an die harte Notwendigkeit des pausenlosen Lifelong Learning geben.
Interurbane Interdisziplinarität
Die vielfältigen Herausforderungen durch die neuen Technologien und Medien zeitigen indes bei entsprechend aufgeschlossenem und flexiblem Reagieren auch zahlreiche erfreuliche Resultate. Man denke ganz allgemein etwa an die nunmehr mögliche Realisierung "schlanker Universitäten". Wer sich Lehreinheiten im Rahmen von Teleteaching/Distancelearning aneignet, trägt nicht gleichzeitig zur weiteren Überfüllung von Hörsälen bei. Außerdem braucht nicht länger jede Universität jede Disziplin mit einem Komplettprogramm selbst abzudecken. Wer sich unter den Lehrenden wie Lernenden aber erst einmal an die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Technologien und Medien gewöhnt hat, dürfte von selbst auf die Idee kommen, diese auch für ganz neue Formen interdisziplinärer Zusammenarbeit zu nutzen. Wieso alles selbst machen wollen, wo sich doch im Netz allenthalben kooperative Fachleute finden lassen? Dabei geht es nicht um Delegieren, sondern um koordiniertes Zusammenarbeiten von gleich zu gleich über alle physischen Grenzen hinweg.
Das folgende konkrete Beispiel entstand zwar unter der Ägide eines Historiker-Demographen, doch machte – beziehungsweise macht – der spezifisch historisch-demographische Anteil am Gesamtwerk nur einen Bruchteil des Ganzen aus. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen war das oben angesprochene Vierjahreszeiten-Projekt von Anfang an für eine ganze Reihe unterschiedlicher Disziplinen von Interesse, so für Meteorologen und Klimatologen, für Agrarwissenschaftler und Tourismusforscher, für Astronomen und Astrologen. Aber es meldeten sich auch Vertreter der Germanistik (Stichwort: Frühjahrsgedichte), der Volkskunde (Jahreszeiten-Brauchtum), der Musikologie (Vivaldis oder Haydns Vier Jahreszeiten), der Kunstgeschichte (Tradition der Monats- oder Vierjahreszeiten-Zyklen), der Kirchengeschichte (Kirchenjahr), der Zoo- und Biologie (Jahreszeitenrhythmen; Winterschlaf), der Medizin (Frühjahrsmüdigkeit). Für Historiker-Demographen stand die ausgeprägte saisonale Verteilung aller demographischen Variablen – Zeugungen/Geburten, Heiraten, Sterbefälle, Wanderungsbewegungen – bei unseren Vorfahren im Zentrum.
Wieso also bei einem von sich aus dermaßen pluridisziplinären Thema nicht einen Kreis Mitarbeitswilliger um sich scharen und die Thematik von den verschiedensten Seiten her gemeinsam behandeln, und zwar mit dem Ziel einer zeitgemäßen Präsentation im Web und auf CD-ROM? Medienpädagogisch am geratensten schien der Einstieg über eine Reihe neugierig machender Bilder. Die Wahl fiel auf den Vierjahreszeiten-Zyklus des Antwerpener Malers Joos de Momper (1564-1635). Seine vier Tafeln "Frühling", "Sommer", "Herbst" und "Winter" entstanden um 1615. Sie gehören seit langem zum Bestand des Herzog Anton Ulrich-Museums in Braunschweig.
An der Verwirklichung des Projekts beteiligten sich schließlich – mit zum Teil sehr umfangreichen eigenen Beiträgen – Photographen, Museumspädagogen und Kunsthistoriker vom Braunschweiger Museum selbst, sodann empirische Pädagogen von der Technischen Universität Braunschweig, Astronomen-Informatiker von der Technischen Universität Berlin, Meteorologen von der Universität Karlsruhe sowie Musikologen, Meteorologen-Klimatologen und Historiker sowie Historiker-Demographen von der Freien Universität Berlin. Sie sind alle mit selbständigen „Kapiteln“ am Oeuvre sowohl im Web wie auf CD-ROM vertreten.
Die multimediale Aufbereitung enthält schriftliche wie gesprochene Texte, Stillbilder und animierte Bilder, Diaabfolgen und Videoclips, QuickTime Virtual Reality-Sequenzen und kommentierte Musikausschnitte aus Vivaldis "Vier Jahreszeiten", dreidimensionale Rekonstruktionen zum Beispiel des Stadttores aus dem Winterbild und anderes mehr. Der spezifisch historisch-demographische Beitrag geht vor allem der Frage nach, weshalb es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hierzulande zu einem gleichzeitigen Sommerhalbjahres-Boom in der Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie in der Totgeborenenrate kam. Unter Rückgriff auf Illustrationsmaterial aus der CD-ROM "Historische Demographie I" werden die damals wenn auch vorübergehend, so doch über Jahre kollidierenden Belastungen vieler Frauen und Mütter in zunehmend marktorientierten ländlichen Gebieten mit ihren fatalen Folgen aufgezeigt, nämlich einerseits der traditionellen saisonalen Verteilung von Schwangerschaften, Niederkünften und Säuglingsbetreuung mit Spitzen im Winter und andererseits einer jahreszeitmäßig immer stärker ins Früh- und ins Spätjahr expandierenden Arbeitsbelastung in Landwirtschaft und Gartenbau.
Historisch-demographisch oder diesmal genauer gesagt mentalitätsgeschichtlich höchst bemerkenswert sind die Konsequenzen, die viele der betroffenen Frauen und Mütter aus der für sie fatalen Situation zogen. Motiviert wie sie angesichts des Sterblichkeitsbooms nun waren, setzten sie ihre nachweislich seit langem vorhandenen, aber bislang nicht oder selten angewandten Kenntnisse in Sachen Geburtenverhütung und Familienplanung in die Tat um und bekamen weniger Kinder. Die neuen wirtschaftlichen Realitäten erwiesen sich als dominanter. Jahrhundertealte Traditionen in der Reproduktion unterlagen – ein erneutes Beispiel mit relevanter Nutzanwendung in Schwellen- und Entwicklungsländern. Kenntnisse allein genügen nicht. Nur bei entsprechend starker Motivierung werden sie auch umgesetzt.
Besteht die Absicht, derlei Arbeiten zu publizieren, sei es weltweit online im Web oder/und als CD-ROM auf dem freien Markt, müssen sämtliche Copyright-Fragen, Bild- und Musikrechte usw. vorgängig minutiös geregelt sein. Bezüglich des Vierjahreszeiten-Projekts war dies von Anfang an der Fall, da das bildbesitzende Museum mit verschiedenen eigenen Personen – mit inbegriffen der Museumsphotograph – als gleichberechtigter Partner mitwirkte. In ähnlicher Weise kam beim Projekt ETHNOHIS (URL: userpage.fu-berlin.de/~ethnohis/) eine Kooperation mit dem Museum für Volkskunde der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz zustande. Das Berliner Volkskundemuseum verfügt über einen eigenen Bestand von rund dreihundert Votivtafeln aus Bayern und Österreich, die sich historisch-demographisch hervorragend als Quellen- und Illustrationsmaterial eignen. Entsprechende Lehr- und Lerneinheiten sind bereits im Netz veröffentlicht. Zum Teil entstanden sie unter Mitwirkung von Lehrveranstaltungsteilnehmern.
Während das Vierjahreszeiten- und das ETHNOHIS-Projekt darauf abzielen, sowohl durch Miteinbeziehung bekannter großer Museen wie auch durch Involvierung einer Vielzahl thematisch berührter Fachdisziplinen mehr in die Breite zu wirken und auf diesem Wege die mitintegrierte Historische Demographie einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, so konzentriert sich das Projekt TELEHIST (URL: userpage.fu-berlin.de/~telehist/) im engeren Sinne auf die Historische Demographie in der universitären Forschung und Lehre. Auf der bereits erwähnten Lehr- und Lerneinheit "Historische Demographie II" aufbauend erstellen derzeit drei Magistranden eine dokumentierte Bilddatenbank des gesamten Votivbildbestandes der Marienwallfahrtskirche Sammarei. Die knapp 1300 Tafeln aus dem 17. bis 20. Jahrhundert stehen als Rohmaterial auf entsprechend vielen Photo-CDs bereits digitalisiert zur Verfügung.
Arbeitsteilig sind nun zusätzlich Informatik-Diplomanden der Universität Halle in die Erstellung und Auswertung dieser Datenbank involviert, wobei die Kooperation, abgesehen von gelegentlichen realen Treffen, ausschließlich über e-mail, FTP, TELNET und im WWW erfolgt. Die Hauptaufgabe der Hallenser (= zugleich Thema von deren Diplomarbeit) bestand / besteht darin, ein auf unsere Votivtafel-Bedürfnisse zugeschnittenes WWW-Browser-fähiges interaktives Eingabeformular in der Programmiersprache Java zu entwickeln (bereits funktionstüchtig; vgl. URL: http:// www.inf.fu-berlin.de/~votex/java/StartVotex.html). Wie man bei dessen Aufrufen feststellt, enthält es mehrere vorgefertigte Pulldown- und Flyout-Menues für die unterschiedlichsten und im weitesten Sinne historisch-demographisch relevanten Votivtafelinhalte: abgesehen von Größe, Rahmung, Bildbeschreibung, architektonischen Besonderheiten, speziellen Inneneinrichtungen, prononcierter Farbgebung, Jahr der Entstehung, allenfalls dem Hersteller (Maler, Handwerker) usw. vor allem für die vielfältigen Votationsanlässe (Gefährdung von Mutter und Kind; Krankheiten unter Mensch und Tier; Naturgewalten und Feuer usw.), Patron/Patronin (in der Regel die Muttergottes von Sammarei), Votant/Votantin/Votanten, Gebetshaltung (der überirdischen Anlaufstelle beziehungsweise dem Geschehen zugewandt), erläuternde Votivtafelbetextung (Original sowie Transkription in den heutigen Sprachgebrauch). Die Eingabe und nach erfolgter Dokumentation und Bildnachbearbeitung Ausgabe aller einzelnen Tafeln inklusive Ansicht in zwei verschieden großen Auflösungen kann im WWW von Interessenten kontinuierlich mitverfolgt werden.
Verständlicherweise ist diese interuniversitär-interdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen des TELEHIST-Projektes für alle Beteiligten gleichermaßen von Vorteil: Historiker beziehungsweise Historiker-Demographen brauchen sich nicht auch noch umfangreiche Kenntnisse in Java-Programmierung anzueignen. Vielmehr nutzen sie den diesbezüglichen Beitrag von Informatikern und konzentrieren sich im übrigen auf ihre eigenen Belange. Informatiker ihrerseits erhalten umfangreiches Testmaterial mit sinnvoller Nutzanwendung frei Haus geliefert und üben sich marktorientiert und berufsbezogen in themenbasierter interurbaner Interdisziplinarität.
Was die angesprochene Konzentration auf die eigenen Belange betrifft, so eröffnet der geschilderte arbeitsteilige Einsatz neuer Technologien den drei Historiker-Magistranden zudem die Möglichkeit, theoriegeleitete Fragen auf völlig neue, zeitgemäße Art zu behandeln. Während sich der eine anhand der entstehenden Votivbilddatenbank der Entwicklung der Farbsymbolik vom 17. bis zum 20. Jahrhundert widmet, so der zweite der Verifizierung beziehungsweise Falsifizierung der Dechristianisierungstheorie. Im ersten Fall geht es darum, dem Festhalten an beziehungsweise dem allmählichen Verblassen der mittelalterlich geprägten Tradition "vornehmer" beziehungsweise "übler" Farben nachzuspüren, also etwa dem teuren Lapislazuli-Blau für den Mantel der Muttergottes beziehungsweise dem Judasgelb für marodierende Soldaten oder streitsüchtige Nachbarn. Im zweiten Fall wird mittels des prozentualen und über das Java-Programm direkt ablesbaren Anteils der auf den Votivtafeln durch Wolkengebilde stets deutlich abgegrenzten überirdischen Sphäre am Gesamtbild die gegebenenfalls rückläufige Rolle eben jener überirdischen Sphäre bei unseren Vorfahren in Notsituationen dokumentiert. Der dritte Kandidat schließlich widmet sich aufgrund desselben Ausgangsmaterials der – auch diesem Beitrag zugrundeliegenden – historiographischen Frage, inwiefern die neuen medialen Technologien eine Herausforderung für eine zeitkonforme Geschichtsschreibung darstellen.
Positive Schlußbilanz
Bezogen auf die Historische Demographie fällt es leicht, sich den Herausforderungen durch die neuen medialen Technologien nicht nur zu stellen, sondern sie mit ihren stimulierenden neuen Möglichkeiten in Forschung und Lehre sowie beim Ansprechen breiterer Kreise auch wirklich willkommen zu heißen. Demographie ist per se überall auf der Welt, wo Menschen leben, in der einen oder anderen Form immer aktuell – von "Babyboom" und "Babyboost" über "Bevölkerungsexplosion" und neue oder altneue Seuchen wie Aids und Tuberkulose bis hin zu "Kriegerwitwen" und "Überalterung". Da der Großteil der heutigen Menschheit in Schwellen- und Entwicklungsländern lebt, können sich europäische Historiker-Demographen einer quasi weltweiten Aktualität ihrer Kenntnisse und Erkenntnisse stets gewiß sein. Historische Demographie ist überwiegend nur bei uns historisch; die anderen folgen uns mit geringerer oder größerer Zeitverzögerung in vielen Belangen nach. Historische Demographie ist dort aktuelle Demographie. Nutzanwendung aus unseren Erfahrungen ist gefragt. Diesbezüglich sind die neuen Medien, vor allem das WWW und die CD-ROM-Technologie, besonders geeignet, da bildgestützt einprägsam und leicht verfügbar.
Wem der globale Aspekt zu weit ausholt, mag mit Bezug auf heimischere Gefilde von den endlich realisierbaren Möglichkeiten Gebrauch machen und unter Einsatz der neuen medialen Technologien Historische Demographie nicht länger nur schwarz-weiß und nicht mehr bloß zweidimensional erforschen, lehren und darstellen, sondern inklusive Sprache, Töne, farbige Bilder, Bewegungen, dreidimensionale und damit der Realität näher kommende Rekonstruktionen. Wer sich hierauf einläßt, für den ist es dann auch nur noch ein kleiner Schritt zu ganz neuen Formen distanzunabhängiger interdisziplinärer Kooperation.
Von dieser Aufbruchstimmung profitieren schließlich nicht zuletzt die Studierenden, die sich – wenn hierzulande auch eher zögerlich und noch in geringer Zahl – den neuen Herausforderungen stellen. Sie erhalten nicht nur umfassendere Einblicke in ihr Fachgebiet, sondern sie erhöhen dadurch erfahrungsgemäß auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
(Anschrift des Verfassers: Professor Dr. Arthur E. Imhof, Freie Universität Berlin, Fachbereich Geschichtswissenschaften, Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin) e-mail: A. E. Imhof (mailto= aeimhof@zedat.fu-berlin.de) WWW: A. E. Imhof (URL= userpage.fu-berlin.de/~aeimhof)