Aus dem Tagebuch des Conrad Krapp (1801-1854) Schneidermeister, Wirt, Almosenpfleger und Stadtrat zu Dürkheim
von Werner Krapp, Juli 2005
Brauchrezepte - geschrieben 1821
N o t a
Wo Zugebrauchen Vor Die Laufunte Gücht.
D a ß E r s t e
Man Gähe in eine antre Gemarck: am Sonntag Des Morgents früheohn Berufen. Man: Suge, ein, Bürcken-Bäumgen otereine Hassel Höck, und warte Biß es in: 3: Kirchen MittallenGlocken: Zusammen Leitet, Dan Büge Man Daß Bürcken Bäumgenoter Die Hassel: und Die Persohn Welche Mitt Der KranckheittBehaftett= 3= Mal: Jetes Mal:- 3= Stumb, in einen jungen [Schus]oter in Die Reiser: und Spräche, Mitt, Diesen Worten.Hier: Stehe ich Vor Einem antern Gericht und verKnüpf diesse= gen[annte] Gücht:=:=: Mitt seinem Taufnamen =:=: Mitt :3 Vatterunser und Mitt:== 3== Mahl Dem Glauben: zu Gott Zübäten. Von der: Beisente Von Der Schneitente Von Der Schmertshafftte Gücht: Wieter in Der:== 3== Höchsten Nahmen Gägen Der sonnen aufgang.
D a ß Z w e y t e
Morgens Vor Der Sonnen aufgang: und abens nach Sonnen Untergang Hir Stehe ich auf Meinem: [Öten:=] Nota auf diesem Mist:Gott Weis es Was Mir ist = Gott Helf mir Von Der:77: Zigerley Gücht. Von Der Beisente Von Der Schneitenten Von Der SchmersHaften Gücht=. Mir Mitt Dem TaufnamenMitt: 3: Vaterunser: und: 3. Mahl mitt Dem GlaubenEs mus: 3: Mahl Gebrauchett Werten.
D a ß D r ü t e
Man Schneite Von Hänten und füse Die Nägel auf Kreuz äbund Thu es in ein Babir [St]ücklen: Man Bohre ein Loch ineinen Baum, und Thue: Daß Babir mitt Den Nägelnin Daß Loch Verwahre es Vest Mitt einem Zappen. Des MorgennsOhn Berufen, in den:== 3= Höchsten Nämen Vor Der Sonnen Aufgang und in, nach Hauß Gehn Schaue Man nicht Zurück.Bäte Darauf auch ein Vaterunser.
Unglückstage - geschrieben 1821
Als nämlich= 42: Tage sint Ängstlich in Dem
Ganzen Jahr, wie solches ein Grügischer Autor
Bezeigett, als Welcher an Denen Hernacht Gesätzten Tagen
Kranck Würdt, Kommt nicht Leigt Davon
Als
Den 1. 2. 6. 11. 17. 18.ten - - - - - - - Jenner
Den 8. 16. 17 ten - - - - - - - - - - - - Febrier
Den 1. 12. 13. 15 ten - - - - - - - - - - Mertz
Den 3. 15. 17. 18ten und den: 1ten- - - - Abril
Den 8. 10. 17. 30. ten - - - - - - - - - - May
Den 1. 7. ten - - - - - - - - - - - - - - Juny
Den 1. 3. 6. ten - - - - - - - - - - - - - July
Den 1. 3. 18. 20. ten - - - - - - - - - - August
Den 15ten. 18. 30. ten - - - - - - - - - - Septembris
Den 15. 17. ten - - - - - - - - - - - - - Ocktober
Den 1. 7. 11. ten - - - - - - - - - - - - Nofember
Den 1. 7. 11. ten - - - - - - - - - - - - Decembris
Hir Bey ist zu Bemerken, So ein Kintt in Diesen Tagen
Gebohren Wird, Bleibett, nicht Lange Läben
und so es Gleich Bey Läben Bleibett Württ es
armsälig und Elendt.
Wan sich Einer in Diesen Tagen Verheiradt Die verlasn
Gern, Einanter, und Läben im Streidt und Armudt
Wan Einer Reiset Kommt Derselbe Gewislich Gewislich
Wieter Unglicklich nach Hauß, oter Leitett am
Körber, oter seinen Sonstigen Sachen Schaten.
So soll Man auch an Diesen Tag Keinen Bau anfangen
Kein junges Fühabsätzen, Daß Zur Zucht bleiben soll
Es Hat Kein Gedeien, Vül weniger aufführungen
machen, oter [aufpflan]tzen. Manfange an, was Man Will
so Kommt alles Zuschaden.
In Diesen abgesätzten 42: Tagen, sein nur 5 Tage
Die Änglickste, Darinnen, Man auch nicht Reisen Soll.
Item 5ten Mertz
Item 17ten August
Item 1. 2. und 30ten Säbtemmber
Hier Bey ist Wieter Zu Bemercken Daß noch Drei Tagen
sintt Unter Den oben Bezeigentten 42: Tagen Welche
Die aller Unglicklichste sind und Welcher Mensch
Darinnen Blutt Läß, Der Stürbt gewis in: 7 oter: 8 Tagen.
N e m l i c h
Den 1. April ist Jutas Der Verräter Gebohren.
Den 1. August Soll Der Teufel Vom Himmel
Geworfen Worten Seyn
Den 1. Septembris ist Sodom und Gumorra
Versuncken =
Anmerkungen zu den beiden Tagebuchblättern
Das vor- und rückseitig beschriebene Blatt mit den 'Unglückstagen' weist ein ovales Wasserzeichen auf, ca. 11 cm x 9 cm. Es zeigt einen nach rechts gewendeten pausbäckigen Portraitkopf mit der Umschrift MAX IOSEPH KOENIG VON BAIERN. [König ab 1806, gest. 1825; dieses Wasserzeichen findet sich beschrieben in "Pfälz. Museum", 96 (1932) als "Velinpapier um 1823"]
Der Text der Blätter wurde in der Transkription unter Beibehaltung seiner Anordnung im Original und der Schreibweise wiedergegeben. Die Bedeutung der über den Text verteilten Zeichen : und = ist unklar. Einerseits schrieb mein Ururgroßvater durchaus flüssig und nicht wie einer der nur wenig mehr als drei Kreuze zu Papier bringen konnte. Für das Pfälzer Idiom Typisches scheint mir eher zu fehlen, wenngleich er womöglich sein Pfälzisch unterdrückt und so geschrieben hat, wie er sich Schriftsprache vorstellte. So könnte er aus dem Gefühl heraus, dass der Pfälzer z.B. dazu neigt 'ü' durch ein 'i' zu ersetzen dies etwa bei 'Gicht' invers getan haben, in der Vermutung, dass 'Gücht' schriftsprachlich korrekt sei, zumindest klingt es ja vornehmer; auch an anderen Textstellen zeigt sich ein auffallendes Faible für Umlaute. Grundsätzlich habe ich Zweifel, wenn man versucht aus schriftlichen Äußerungen einfacher Leute auf deren Umgangssprache zu schließen; es könnte sich m.E. um eine "künstliche Hochsprache" handeln.
Insgesamt erscheint uns sein 'Schreib-Mut' schon beängstigend; vielleicht ein früher Fall von Legasthenie?
Auffallend ist das wiederholte Auftreten der Zahl 77 im Zusammenhang mit der 'Gücht'. Womöglich handelt es sich dabei um ein 'Fluch-Kürzel' etwa im Sinn von 'vermaledeit', denn unter der Internet-Adresse www.esoterikforum.at finden sich Hinweise, wonach es "77 Dämonen" geben soll; zudem ist 77 zweimal die 'Heilige Zahl' 7.
Kurioserweise fand sich beim Suchen im Internet nach der 'Magie' der Zahl 77 auch die Angabe, dass 77% der Bevölkerung - im Jahr 2005(!) - Horoskope lesen. – Die Menschen wollen offenbar mehrheitlich glauben und nicht wissen ...
Worteigentümlichkeiten: Das recht deutlich lesbare "zigerley" (Gücht) könnte eine obsolete Form von 'vielerlei' sein(?). – Das nicht ganz sicher lesbare [aufpflan]tzen in der 7. Zeile auf der Rückseite des anderen Blatts irritiert ebenso. Gebräuchlich ist einem dieses Wort wohl nur im Zusammenhang mit Bajonetten, worum es hier sicher nicht geht. 'Anpflanzen' oder schlicht 'pflanzen' würde dem Zusammenhang eher gerecht werden. Tatsächlich erfährt man aber in "Deutsche Etymologie" von Mackensen von 1977 auf S.143 sinngemäß: "Das XVIII. Jh. neigte dazu, längere Wörter zu verkürzen. So begann man z.B. in 'Auferziehung' die Vorsilbe wegzulassen." Demzufolge hätte der Vorfahre diese Entwicklung verpasst und eine altertümliche Wortform beibehalten.
Wie dem auch sei, bei Conrad Krapp ist, seines vorbeugenden Interesses an Gicht-Rezepten wegen zu vermuten, dass auf seinem Speiseplan des öfteren Fleischspeisen gestanden haben, er also nicht zu den ganz Armen gezählt haben wird. Dass die schwer lösliche Harnsäure das Endprodukt unseres Purin-Stoffwechsels ist und Purine in fleischlicher Kost stark vertreten sind hat er sicher nicht gewusst, doch vermute ich, dass es den Damaligen schon aufgefallen sein wird, dass es eher eine Reiche-Leute-Krankheit war (s. Karl V.) und bei denen, die sich von Grütze ernährt haben kaum aufgetreten ist.
Helmut Koch schreibt in 'Westricher Heimatblätter', Nr.2, S.25 (2005) "Ein Sammelbegriff für vielerlei Unpässlichkeiten waren die 'Gichter'.", darunter die 'kreischende Gichter'. Ein vom Autor zitierter Dr. F. Pauli hatte 1842 ein Werk über Volksheilmittel in der Pfalz veröffentlicht. Darin beklagt dieser, dass die Gicht vom Laien häufig mit Rheuma verwechselt werde. "Den gebildeten Laien ist das Podagra [Fußgicht] ein zwar bekannter, aber höchst unwillkommener Gast, den sie jedoch lieber von Zeit zu Zeit beherbergen, als dass sie Mäßigkeit im Essen und Trinken einhalten ..".
H. Koch schreibt weiter, dass noch um die Wende zum 20. Jh. die Medizin "auf zwei Ebenen betrieben wurde. Neben der Schulmedizinern gab es noch ein gewaltiges Potenzial an 'Heilkundigen', die sich zwischen Ärzteschaft und Hausmittel drängten. ... Wir sollten uns nicht über diesen Aberglauben mokieren; finden doch auch in unserer aufgeklärten Zeit Wunderheiler und Scharlatane ihr Publikum." Und schließlich: "Einen besonderen Aspekt heiltätigen Glaubens bietet auch heute noch die katholische Volksfrömmigkeit, die in unzähligen 'Gnadenorten' fast jedem körperliche Gebrechen eine Heilung oder Besserung in Aussicht stellt. Berühmtestes Beispiel ist hier Lourdes."
Der Inhalt dessen was ihm wichtig war um es zu notieren mutet uns Heutige mittelalterlich an, doch hat er seine Aufzeichnungen ja in der Neuzeit festgehalten.
Freilich war im Jahr 1979 in der Illustrierten "Stern" (Heft Nr.41, S.106) folgendes zu lesen: "Mittelalter ist zum Beispiel die Eiche am Ortsausgang von Ollarzried, einem Dorf im Unterallgäu, nicht weit von Memmingen. In diese Eiche hat der Johann Sandholser, 76, aus Ollarzried erst kürzlich wieder zwei Löcher gebohrt und darin die einem Säugling abgeschnittenen Fingernägel versenkt. Er hat dabei bestimmte Gebete gemurmelt, um das Baby von der englischen Krankheit zu heilen. In dem bereits erwähnten Buch heißt es auf Seite 12: Gegen englische Krankheit. Schneide am Freitag, die Nägel an Händen und Füßen, und zwar so, erst an der linken Hand, dann am rechten Fuße, hernach an der rechten Hand, dann am linken Fuß, binde die Nägel in ein Leinenläppchen, bohre ein Loch in die junge Eiche, stecke das Läppchen mit den Nägeln in das Loch und spunde das Loch dann mit einem Aste zu."
Erläuterndes zu "Daß Erste" und "Daß Drüte" Brauchrezept des Conrad Krapp von 1821 wider die "Gücht" findet man unter www.reinhard-doehl.de:
"Die kultische Verehrung [von Bäumen] vor allem bei indogermanischen Völkern ist aus verschiedenen Wurzeln entsprungen. Der Aberglaube kann sich auf verschiedene Bäume beziehen: Apfelbaum, Buche, Eibe, Eiche, Esche, Linde, Hasel, Holunder, Kirsche, Walnuß(baum), allgemein Obstbaum, (Fruchtbarkeitskulte), Weihnachtsbaum, Yggdrasil
In der Volksmedizin dienen viele Bäume zum Übertragen von Krankheiten, die Krankheit wird in den Baum gebannt. Ganz allgemein werden die Krankheiten auch in den Wald verbannt. Gegen Gicht wird ein Gichtbaum gesetzt, mit dessen Wachsen die Krankheit abnimmt. Ebenso werden die Krankheiten in Bäume verkeilt oder verpflöckt. Die ersten ausgefallenen Zähne eines Kindes müssen in einen hohlen Baum geworfen werden, das schützt gegen künftiges Zahnweh. Besonders gern werden Finger- und Zehennägel, Haare, aber auch Kleidungsstücke (oder Fetzen davon) des Kranken in den Baum verbohrt. Kleidungsstücke werden auch an den Baum (Lappenbaum) gehängt."
Gibt man das Suchwort "Unglückstage" in eine Suchmaschine des Internets ein, so findet sich unter www.folklore.ee/rl/pubte/ee/vanad/aiale/17.html das Nachfolgende aus Estland, welches sich im Tenor und Inhalt ganz auffallend mit den diesbezüglichen Eintragungen im Tagebuch des Conrad Krapp aus dem Jahr 1821 deckt (die genannten Unglückstage stimmen etwa zur Hälfte überein).
"Manche andere Omina drohen, wenn auch nicht gerade oder nicht immer der Tod, so doch Unheil. Einige Tage sind vorzugsweise Unglückstage. An diesen geborene Kinder werden unglücklich oder leben nicht lange, Mädchen, welche sich verloben oder heiraten, haben eine unglückliche Ehe, leben in Uneinigkeit mit ihren Männern und haben keinen Segen im Hause; an diesen Tagen Erkrankte kommen schwerlich auf, Alles, was man an ihnen unternimmt, misslingt, man darf nicht in eine neue Wohnung ziehen, keine Reise unternehmen u. d. gl. Diese 45 Unglückstage in jedem Jahre sind der l., 2., 6., 11., 14., 18. Januar, 8., 16., 17. Februar, l., 3., 12., 16. März, 1., 3., 12., 16., 18. April, 8., 10., 17., 30. Mai, l., 7., 12., 13. Juni, l., 5., 16. Juli, l., 3., 17., 18. August, 12., 15., 18., 30. September, 12., 15., 17. October, 11., 17. November, 1., 17., 18. December. Unter diesen sind drei, der l. April (wo Judas den Heiland verkaufte), der l. August (wo der Teufel aus dem Himmel geworfen wurde) und der l. December (wo Sodom und Gomorrha unter gingen), in besonderer Weise unglücklich, da verliert man vor Gericht jede Sache, Gewächse, welche man pflanzt, gehen aus, die dann geborenen Kinder sterben eines schweren Todes."
[F. J. Wiedemann, Aus dem innerem und äußeren Leben der Esten]
Museen zeigen traditionell Dinge mit denen unsere Vorfahren in ihrem Alltag umgeben waren. Doch nur authentische persönliche Aufzeichnungen lassen zumindest erahnen was unsere Altvorderen gedanklich beschäftigt hat und wie sie ihre Welt wahrgenommen haben.
Als Mensch unserer Tage überrascht einen schon der Inhalt dieser Tagebuchaufzeichnungen, erscheint uns doch was Historiker und Geisteswissenschaftler aus oder über die Zeit, in der diese Notizen verfasst worden sind durchaus nicht derart 'mittelalterlich' fremd. Auch wenn 77% der Heutigen Horoskope lesen sollen, so ist doch davon auszugehen, dass die Meisten dies zu ihrer Unterhaltung tun und sich über die Beliebigkeit dieser durchweg schwammig formulierten 'allgemeinen Lebensregeln' letztlich im Klaren sind. Dagegen überrascht bei den vorliegenden Notizen das Ernsthafte, Präzise und Konkrete der Aussagen. Die Zahl der Anhänger damit vergleichbarer esoterischen Strömungen in der Gegenwart mögen doch wohl eher im Promille-Bereich liegen.
Dies lässt erkennen wie sehr ein Angehöriger der damaligen bürgerlichen Mittelschicht, nicht erreicht von der Aufklärung, noch im okkulten Denken verhaftet war. Goethe und Hegel waren Zeitgenossen des Conrad Krapp, offenbar war aber die Diskrepanzzwischen Ober- und Mittelschicht in Fragen weltanschaulicher Orientierung erheblich größer als heute – hat sich doch die Bildungspyramide seitdem 'demokratisch verflacht'.