0.4. Memoiren des Joseph Hay
0.1.4.1. Vorstellung seiner Person
Joseph Hay wurde am 14.12.1914 geboren. In seiner Jugend spielte er Handball und Fußball und engagierte sich in der katholischen Jugendarbeit. Er leistete seinen Wehrdienst in einer Kaserne in Mainz ab. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kam er als Soldat an die Westfront. Nach Aussage seines Sohnes wollte er andere Menschen nicht töten. Deshalb meldete er sich schon als Wehrpflichtiger zu dem Sanitätsdienst. Seine Familie berichtete, dass er während des Frankreichfeldzuges unter Beschuss die Verwundeten barg. Aus diesem Grund wurde er mit dem Eisernen Kreuz Klasse I ausgezeichnet. Nach seinem Einsatz in Frankreich nahm er am Russlandfeldzug teil. Sein Überleben verdankte er dem Umstand, dass er auf Heimaturlaub war, als seine Kompanie aufgerieben und fast alle Mitglieder getötet wurden. In Russland bekam er Fleckfieber, das in Wien behandelt wurde. Auf Genesungsurlaub in Bad Kreuznach lernte er seine spätere Frau kennen. Von dort kehrte er nach Österreich zurück. Hier wurde er von den Amerikanern gefangen genommen und anschließend nach Heilbronn in ein Kriegsgefangenenlager gebracht. Bei Wind und Wetter lebten er und seine Kameraden auf freiem Feld. Anschließend kam er als Sanitäter zum Dienst in das dortige Krankenhaus. Dort wurde er im Jahre 1946 entlassen. Nach dem Krieg arbeitete er bis zu seiner Pensionierung zunächst als Gärtner, später als Büroangestellter auf dem Hauptfriedhof in Mainz.
0.2.4.2. Aufzeichnungen über die NS-Zeit
Die folgenden Ausführungen sind vor dem Hintergrund zu beachten, dass Hay sie ca. 50 Jahre nach den eigentlichen Ereignissen aufschrieb und es sich um persönliche Eindrücke handelt.
Hay beginnt seine Schilderungen über die Nazizeit mit seinen Erinnerungen an den 30. Januar 1933 – dem Tag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. An diesem Tag erblickte er an der örtlichen Schule die ersten Hakenkreuzfahnen. Zuerst kam ihm der Gedanke, dass er sich in Stadecken – das damals Hitlerhausen genannt wurde – befand. Bereits im Jahr zuvor hingen dort am Ortseingang bzw. -ausgang Fahnen mit der Aufschrift: „Hier befinden sie sich in Hitlerhausen!“ Zum ersten Mal kam er mit der Einübung des Theaterstückes Schlageter[Anm. 1], das nach dem von den Nazis als Märtyrer stilisierten Albert Leo Schlageter benannt wurde, mit der Naziideologie in Berührung. Dies war dem damals 17/18-jährigen laut eigener Aussage aber nicht bewusst. Herr Renkel, der Dorflehrer, kam wutentbrannt auf eine Spielersitzung des örtlichen Sportvereins und fragte „wie man als katholische Jugend sowas spielen könne?“
Im Jahr 1931/32 kam Dr. Eckert als Lehrer nach Drais. Hay sagt, dass dieser zu diesem Zeitpunkt ein noch frommer, unscheinbarer Bürger gewesen war, der aber ab dem Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten seine wahre Gesinnung zur Schau stellte und später als „Führer“ und „Diktator“ von Drais tituliert wurde[Anm. 2].
Wie in vielen anderen Gemeinden ging auch an diesem Abend ein Fackelzug durch den Ort. Am damaligen „Kirschplätzchen“ wurde eine Flasche samt Zeugnis dieses Ereignisses vergraben und eine sog. „Hitlerlinde“ gepflanzt, die bereits kurz nach dem Krieg wieder entfernt wurde.
Ein weiteres Ereignis, das er detailliert beschreibt, ereignete sich am Abend des 24. Juni 1933. Man feierte das 50-jährige Bestehen der Freiwilligen Feuerwehr Drais. Nach der Rede des Ortsgruppenleiters aus Finthen wurden das Deutschland- sowie das Horst-Wessel-Lied gespielt. Als die Menschen begannen sich von ihren Sitzen zu erheben und die rechte Hand dabei hoben, schauten sich Hay und seine Freunde nur ratlos an, weil keiner von ihnen wusste, was der Deutsche Gruß überhaupt war. Plötzlich näherten sich mehrere SA-Männer ihrem Tisch und begannen auf einen seiner Freunde einzuprügeln. Hay, der am Rande des Tisches saß, kroch unter dem Zelt hinaus ins Freie und rannte voller Angst nach Hause. Seine Freunde wurden nach dem Fest verhaftet und in eine „alte Mühle“ in Osthofen gebracht. Einer davon erzählte ihm später, dass damit das KZ Osthofen gemeint war. Des Weiteren berichtete dieser, dass er gemeinsam mit einem Juden die Treppen nur mit einer Zahnbürste reinigen musste. Hay selbst wurde nur aus dem Grund nicht in das KZ gebracht, weil am selben Abend seine Schwester starb[Anm. 3].
In der Fastnachtssitzung von 1934 thematisiert er diese Erfahrungen in seinem Protokoll[Anm. 4]:
„Dr. Eckert is gege die Arme gut (Notstandsarbeiter),
Drum wenn ihn seht, zückt euern Hut,
streckt aus die Hand, weil mir halt muß
begrüßt ihn halt mit Deutschem Gruß
sonst gibt es wieder so e Theater
un´s geht wieder ab net in de Prater (Osthofen)
um mich zog sich damals auch der Kreis
doch weil ich grad de Schnuppe hat, do blieb ich halt in Drais.“
Dr. Eckert – Lehrer und ab 1933 Bürgermeister – bestellte Joseph Hay als Reaktion auf seine Anspielungen in sein Büro. Dort teilte er ihm mit, dass er in Zukunft solche Anmerkungen zu unterlassen habe. Andernfalls würde er sich das nächste Mal ebenfalls im KZ Osthofen wiederfinden. Bis zum Ende des Krieges vermied er solche Passagen in seinen Vorträgen. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er u. a. an der Ostfront und schrieb währenddessen weiter Fastnachtsvorträge, in denen er versuchte, das Geschehene zu verarbeiten. Die folgenden Zeilen entstanden in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Heilbronn im Jahre 1945:
„Behüt Gott, es wär so schön gewese,
damit wolle wir vergesse
unser Leid und unsere Sorgen,
all´verschieben mal auf morgen
freuen uns, denn heut is heut
drum stoßt an und ruft mit mir:
F r e i h e i t neues Jahr bring mir!“
Die erste Sitzung nach dem Krieg fand 1947 statt, die erst kurz zuvor von der französischen Militärregierung genehmigt wurde. In seinem Protokoll thematisiert Hay die Erlebnisse der Soldaten im Zweiten Weltkrieg:
„Barras, Stacheldroth, Kanone,
Schlambesrutsche, blaue Bohne,
Jabo-Angriff, Bunker flitze,
in Afrika in der Sonne schwitze,
Gefrierfleischhorde, stinkische Häusjer, kalte Finger, de Kopp voll Läusjer,
Kommißbrotnascher, Eintopf esse,
ja bald hawe mer´s schun vergesse
denk ich noch an diese Zeite,
mein ich´s, wärn schun Ewigkeite her,
wo dieses alles war,
dabei sin´s noch net 2 Jahr.
Ich glaub, ich darf es ruhig sage,
dess lieht uns heit noch uff em Mage.“
Anmerkungen:
- Schlageter war das letzte Werk des nationalsozialistischen Schriftstellers Hanns Johst, das Adolf Hitler gewidmet war. Es geht zurück auf Albert Leo Schlageter, ein Freikorps-Mitglied im Ruhrkampf von 1923, der sich an Sprengstoffanschlägen sowie Sabotageakten beteiligte. Ein französisches Kriegsgericht verurteilte ihn zum Tod. Vgl. Déculot, Elisabeth: Politische und hermeneutische Positionen der französischen Germanisten zwischen Hitlers Machtübernahme und dem Kriegsausbruch. In: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, hg. v. Holger Dainat/Lutz Danneberg. Tübingen 2003, S. 318. Zurück
- Diese Schilderungen stimmen mit den Äußerungen des Hessischen Kreisamtes vom 8. Mai 1933 überein. Darin wird Eckert als „Führer“ der dortigen NSDAP bezeichnet. Vgl. LA Speyer H53 Nr. 303. Zurück
- Die Ausführungen Hay’s stimmen mit den offiziellen Berichten überein. In dem Bericht des Hessischen Kreisamtes Mainz vom 6. Juli 1933 steht: […] Die Inhaftnahme erfolgt, weil die Vorgenannten gelegentlich des 50-jährigen Jubiläums der freiwilligen Feuerwehr Drais beim Absingen des Deutschlandliedes und des Horst-Wessel-Liedes trotz Aufforderung durch die Amtswalterschaft der Ortsgruppe Finthen der NSDAP sich nicht von ihren Plätzen erhoben und durch dieses Verhalten die öffentliche Ordnung und Ruhe in Drais – sie mußten gewaltsam aus dem Festzelt entfernt werden – gestört haben. […]. Vgl. LA Speyer H53 Nr. 303. Ein ausführlicher Bericht des Zeitzeugen Paul Baumann ist abgedruckt in: Hellriegel, Ludwig: Widerstehen und Verfolgung in den Pfarreien des Bistums Mainz 1933–1945. Bd. 1. Teil 1: Dekanate Mainz-Stadt, Mainz-Land und Alzey. Eltville am Rhein 1989, S. 113–116. Zurück
- Protokoll bezeichnet den ersten Vortrag auf einer Fastnachtssitzung und besitzt in der Regel einen inhaltlichen politischen Schwerpunkt. Zurück