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Der Mordfall Anna Aumüller – Ein Priester aus Mainz auf dem elektrischen Stuhl

Am 18. Februar 1916 um 5:50 Uhr betritt der 35-jährige Hans B. Schmidt aus Schweinheim bei Aschaffenburg die Todeszelle des New Yorker Staatsgefängnisses von Sing-Sing; er war des Mordes an Anna Aumüller, einer jungen Frau Anfang Zwanzig aus Ödenburg in Ungarn, für schuldig befunden worden. Zwei Jahre hat er in Sing-Sing verbracht, bis das Urteil an diesem Tag vollstreckt wird. 8 Minuten später ist er tot, 18 Zeugen, darunter 5 Pressevertreter, begleiten ihn auf seinem letzten Weg. Der Reporter des ‚Syracuse Herald‘, einer der 18 Zeugen, nennt ihn einen der tapfersten Männer, die je auf dem elektrischen Stuhl, der den zynischen Spitznamen ‚Old Sparky‘ (Alter Funke) trägt, getötet wurden.

Hans B. Schmidt ist nicht irgendwer; er ist bis heute der einzige katholische Priester an dem in den USA je ein Todesurteil vollstreckt wurde. Das allein wäre schon bemerkenswert. Aber die Spur führt direkt ins Bistum Mainz, denn Hans Schmidt war im Dezember 1906 von Bischof Georg Heinrich Maria Kirstein ordiniert worden und hatte u.a. mehrere Monate in der Zeit von Pfarrer Dominicus Grimm als Kaplan in Gonsenheim gewirkt!

Am 5. September 1913 finden zwei Kinder am Ufer des Hudson River ein Paket – beim Öffnen machen sie einen grausigen Fund. Das Paket enthält den Torso eines Frauenkörpers. Wenige Tage später finden zwei Arbeiter in der Nähe ein weiteres Paket mit dem zweiten Teil des Körpers. Weitere Teile, die eine Identifizierung des Opfers hätten ermöglichen können, tauchen jedoch nicht auf – auch wenn einige Personen bezeugen, einen Kopf im Wasser gesehen zu haben. In den nächsten Tagen rätselt New York über die Identität der Toten. Doch alle Spuren erweisen sich als falsch.

Joseph A. Faurot

Die New Yorker Polizei ermittelt jedoch in eine andere Richtung. Geleitet wird die Untersuchung von Joseph A. Faurot, einem der besten Kriminalisten seiner Zeit. Die Leichenteile befanden sich in Kissenbezügen, deren Spur die Polizei verfolgt. Sie hat Glück, denn es handelt sich um ein ungewöhnliches Format. Im Geschäft von Mr. Sachs erhalten sie den entscheidenden Hinweis, an welche Adresse er die Bezüge – zusammen mit Mobiliar – ausgeliefert hat. Faurot und sein Team legen sich auf die Lauer; doch drei Tage lang geschieht nichts. Schließlich dringen sie in die Wohnung in der Bradhurst Ave. Nr. 68 ein. Schnell erkennen sie, dass sie am Schauplatz einer Bluttat sind, denn überall finden sich Blutspuren, die nur notdürftig und unvollständig beseitigt worden sind.

Mieter der Wohnung ist ein Hans Schmidt, doch das hilft den Ermittlern nicht weiter – denn Schmidts gibt es seinerzeit in New York nicht gerade wenige. Dafür stoßen sie auf Briefe, die an eine Anna Aumüller gerichtet sind. Unter den Absendern taucht häufiger der Name Igler auf. Dort erfahren die Polizisten, dass Anna Aumüller in der Pfarrei St. Boniface in der 47. Straße gearbeitet hat. Pfarrer Braun bestätigt dies, sagt aber, dass Anna Aumüller die Pfarrei inzwischen verlassen habe. Auf Verdacht fragt Faurot, ob der Pfarrer einen Hans Schmidt kenne. Es ist ein zweiter Glückstreffer. Schmidt hat tatsächlich in St. Boniface als Pfarrer gearbeitet, ist aber nun zur Pfarrei St. Josephs in der 125. Straße gewechselt.

Es ist zwar schon nach Mitternacht, doch Faurots Team fährt direkt zu St. Josephs – die Namensgleichheit zwischen Mieter und jenem Pfarrer ist doch zu offensichtlich. Als sie Schmidt mit der Frage konfrontieren, ob er Anna Aumüller kenne, leugnet er zunächst, bricht dann aber zusammen und gesteht, die Frau getötet zu haben. Das sei ihm von der Heiligen Elisabeth von Ungarn aufgetragen worden. Er habe Anna doch so geliebt – die Aussagen sind ziemlich bizarr und verwirrend. Am folgenden Tag zeigt Schmidt bei einem Ortstermin in der Wohnung dann wieder völlig beherrscht, wie er die junge Frau getötet hat.

Inzwischen ist auch die Öffentlichkeit informiert. Ein wahrer Sensationstourismus zur Kirche St. Josephs und zum Tatort setzt ein. Junge Frauen kommen ins Untersuchungsgefängnis und wollen das ‚Ungeheuer‘ sehen. In den folgenden Tagen kommen weitere Details ans Tageslicht. Schmidt hat mit dem Zahnarzt Dr. Muret eine Geldfälscherwerkstatt eingerichtet, angeblich um Bedürftigen mit Geld auszuhelfen. Außerdem findet die Polizei in seinen Räumen Blanko-Totenscheine und vermutet, dass er mit Muret zusammen Abtreibungen vornimmt und die Totenscheine benutzen will, wenn die Operation misslingt.

Ein Paukenschlag ist dann eine Nachricht aus Mainz. Schmidt ist bereits 1909 vom kirchlichen Dienst suspendiert worden. Anlass dafür war eine Verurteilung in München wegen Urkundenfälschung. Schmidt hätte als Priester in den USA also gar nicht arbeiten dürfen! Er muss unmittelbar nach der Suspendierung ausgewandert sein und mit (vermutlich gefälschten) Papieren von den örtlichen Kirchen an verschiedenen Orten eingestellt worden sein. Für die katholische Kirche in den USA ist dieser Vorgang zweifellos sehr unangenehm.

Anfang Oktober beginnt der Prozess gegen Schmidt. Die Jury ist prominent besetzt, u.a. mit Vincent Astor, dem zu der Zeit reichsten Junggesellen in New York. In einer turbulenten Sitzung, in der Schmidt auch einen Rosenkranz auf den Untersuchungsrichter wirft, wird die Schuld des Angeklagten eindeutig festgestellt. Doch bis zur Hauptverhandlung soll es noch 2 Monate dauern, denn Schmidts Anwalt Alphonse Koelble versucht mit allen Mitteln, die Unzurechnungsfähigkeit seines Mandaten feststellen zu lassen. Dazu werden Aussagen der Familie Schmidt aus Schweinheim über angeblich abnormes Verhalten des Angeklagten vorgelegt. Wichtigstes Argument der Verteidigung ist das Urteil aus München; denn die Richter dort hatten Schmidt für unzurechnungsfähig erklärt. Die Psychiater geben sich in diesen Wochen daher praktisch die Klinke der Zellentür in die Hand, kommen aber nicht zu dem von Koelble gewünschten Ergebnis. Schmidt selbst fällt seinem Anwalt oft genug in den Rücken, indem er steif und fest behauptet, er sei geistig normal.

Schließlich beginnt am 7. Dezember 1913 die Hauptverhandlung, in der auch der Vater und die Schwester des Angeklagten als Zeugen aussagen. Als sie berichten, dass er als Kind Tiere gequält habe, wird Schmidt wütend. Er wolle sich nicht als Geisteskranker bezeichnen lassen, er wolle die Strafe für seine Tat. Er bittet regelrecht um das Todesurteil. Doch die Jury wird sich nicht einig, es gibt kein einstimmiges Votum. Nach einer solchen ‚Hung Jury‘ kann ein Urteil nicht gesprochen werden – das weitere Verfahren liegt in den Händen von  Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Der Versuch der Anwälte – inzwischen sind es vier – mit dem Staatsanwalt eine Verständigung auf ein Urteil wegen Mordes zweiten Grades (das nicht die Todesstrafe zur Folge hätte) zu erreichen scheitert.

So wird eine zweite Jury einberufen. Der Prozess beginnt am 19. Januar 1914 und endet mit einem Genickschlag für die Verteidigung. Denn am letzten Prozesstag präsentiert der Staatsanwalt einen Zeugen, der erklärt, Schmidt habe bei der Versicherung, für die er tätig sei, eine Lebensversicherung für Anna Aumüller abgeschlossen. Das Ergebnis der Jury am 5. Februar 1914 ist diesmal eindeutig, so dass Richter Davis eine Woche später das Todesurteil verkündet.

Schmidt macht ein neues Geständnis; Anna Aumüller sei bei einem missglückten Abtreibungsversuch gestorben. Tatsächlich gibt es dafür einige medizinische Anzeichen. Doch der Berufungsrichter lehnt eine Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Schließlich richtet Schmidt ein Gnadengesuch an den Gouverneur – doch der ist ausgerechnet der zuständige Staatsanwalt zur Zeit des Prozesses gewesen. So endet Schmidts Leben mit den Worten „Meine letzten Gedanken gelten meiner Mutter.“

Nachbemerkung

Der Mord und der Prozessverlauf finden ein enormes Echo in der amerikanischen Presse. Auch der Mainzer Anzeiger bringt in der Zeit vom 17. – 20. September 1913 eine Reihe von Artikeln. So heißt es z.B.:

„Aschaffenburg 17. Sept. 6 Uhr abends. Soeben besuchten mehrere Journalisten, darunter auch Berliner Vertreter Pariser und Neuyorker Blätter, die Eltern des Mörders Schmidt, die sich hier des besten Ansehens erfreuen. Frau Schmidt ist gänzlich gebrochen und liegt an einem schweren Herzleiden darnieder. Der Vater erzählte in dem Interview u.a.: Sein Sohn habe schon auf dem Klerikalseminar in Mainz den Spitznamen ‚Der verrückte Doktor‘ gehabt. Vor etwa 7 Jahren haben sich bei ihm in Frankfurt a.M. die ersten Spuren stärkerer geistiger Erkrankung gezeigt, indem sein früher sehr melancholisches Wesen in völlige Ausgelassenheit umschlug. Es traten deutliche Spuren von Größenwahn hervor. U.a. legte er sich den Doktortitel zu, ohne daß er das Recht dazu hatte. In seinen Kanzelreden in Gonsenheim brachte er oft so krauses und absonderliches Zeug vor, daß die Kirchenbesucher laut lachten. Von hier verschwand er plötzlich, um dann in München aufzutauchen, wo er wegen verschiedener Vergehen, u.a. hat er dort Maturitätszeugnisse gefälscht, vor Gericht stand. Eines Tages wurde dann Herr Schmidt nach München gerufen, wo der Staatsanwalt ihm den Sohn mit den Worten überantwortete: Ihr Sohn ist geistig unzurechnungsfähig. Wir können ihn nicht mehr verfolgen. Tun Sie ihn in eine Anstalt.“

Nachweise

Verfasser: Gunnar Schwarting

Verwendete Quellen und Literatur:

  • Die Fakten sind vor allem den Zeitungsberichten entnommen, die unter www.genealogy-quest/thriller-thursday ausführlich über die Ermittlungen und den Prozess informieren.
  • In einer Monographie befasst sich mit dem Fall Mark Gado (2006): Killer Priest – The Crimes, Trial and Execution of Father Schmidt.
  • Eine geraffte Darstellung findet sich bei Judith Buddenbaum (2009): Religious Scandals im Kapitel „The Hudson River Mystery“, S. 60ff.
  • Eine ausführliche Darstellung des Falles gibt in seiner Biographie über den Berufungsrichter Cardozo Richard Polenberg (1999): The World of Benjamin Cardozo – Personal Values and the Juridical Process, S. 51ff.
  • Im Übrigen kann auf das Buch Gunnar Schwarting (2018): “Der Killing Priest aus Mainz" verwiesen werden.

Erstellt am: 20.04.2020