Dr. Heinrich Gaßner
Jurist und Oberbürgermeister von Mainz 1894-1905.
Dr. Heinrich Gaßner wurde im September 1885 zum ersten besoldeten Beigeordneten der Stadt Mainz gewählt, am 24. Februar 1894 dann als Nachfolger von Dr. Oechsner zum Bürgermeister. Die Ernennung zum Oberbürgermeister erfolgte im Juni 1894. Da Gaßner bereits während der letzten Amtsjahre von Oechsner einen Großteil der Geschäfte der Verwaltung leitete, wurde die städtische Politik praktisch 20 Jahre lang durch ihn geprägt. Er ist den "Bürgerlichen Sozialreformern" zuzurechnen und bewirkte wichtige sozialpolitische Weichenstellungen in Mainz.
Überregionale Bedeutung erlangte er durch seine Tätigkeit im "Verband deutscher Gewerbegerichte", dessen Mitgründer und langjähriger Vorsitzender er war. Außerdem förderte er den Zusammenschluß von öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen im Rhein-Main-Gebiet, war führendes Mitglied der "Gesellschaft für soziale Reform" und pflegte den regelmäßigen Meinungsaustausch mit den Oberbürgermeistern anderer Großstädte.
Er setzte sich für eine fortschrittliche Gesundheits- und Jugendpolitik, für eine Reform des Mainzer Armenwesens und für eine aktive kommunale Wohnungsfürsorge ein. Während seiner Amtszeit wurden in Mainz das Gewerbegericht, das Städtische Arbeitsamt, die städtische Wohnungsinspektion und später das Wohnungsamt geschaffen, der Schlacht- und Viehhof, mehrere Volksbäder und weitere stadthygienische Einrichtungen eröffnet, ebenso das Städtische Gas- und Elektrizitätswerk. Gaßner war selbst im Vorstand mehrerer bürgerlicher Wohltätigkeitsvereine.
Durch erfolgreiches Verhandeln in Berlin erreichte er, dass der Kaiser 1904 der Auflassung der nordwestlichen Mainzer Stadtumwallung zustimmte. Nun konnte das Industriegebiet der Ingelheimer Aue erschlossen und die Eisenbahnbrücke nach Wiesbaden gebaut werden. Gaßner war wegen seines Humors und seiner Umgänglichkeit äußerst beliebt und zeichnete sich auch durch seine Offenheit gegenüber Vertretern der Arbeiterschaft aus.
Dr. Heinrich Gaßner wurde am 9. September 1905 überraschend durch ein Herzleiden mitten aus der Arbeit und aus dem Leben gerissen. Die Bestürzung und Trauer der Mainzer Bevölkerung waren groß, war er doch einer der bedeutendsten und beliebtesten Oberbürgermeister, die Mainz je hatte.
Er wurde am 8. Juni 1847 in Mainz als Sohn des Notars Heinrich Gaßner und der Sängerin Anna Maria Gertrud Seeland geboren. Von ihr hatte Heinrich die musikalische Begabung geerbt; er war aktives Mitglied der „Mainzer Liedertafel“ und weiterer Gesangsvereine. Er besuchte das Mainzer Gymnasium, studierte anschließend in Gießen und Heidelberg Jura und war mehrere Jahre als Staatsanwalt tätig. 1874 heiratete Gaßner Therese Margareta Reuleaux, die aus einer bekannten Mainzer Fabrikantenfamilie stammte. Am 23. September 1885 wurde er zum ersten besoldeten Beigeordneten der Stadt Mainz gewählt. Oberbürgermeister Dr. Georg Oechsner, der damals schon krank war, überließ seinem jungen Stellvertreter einen Großteil der Amtsgeschäfte, so dass die politischen Geschicke der Stadt während der folgenden zwanzig Jahre vorwiegend in den Händen Gaßners lagen. Nach Oechsners Versetzung in den Ruhestand schrieb die Stadt Mainz die Stelle aus. Sehr schnell war man sich jedoch – quer durch alle Fraktionen – einig, dass von den acht Bewerbern der Mainzer Dr. Heinrich Gaßner der am besten geeignete Kandidat war. Am 24. Februar 1894 wurde er von der Stadtverordnetenversammlung einstimmig zu Oechsners Nachfolger gewählt.
Die Mainzer Bevölkerung brachte ihre begeisterte Zustimmung zum neuen Stadtoberhaupt am 1. März mit einer Fackelserenade zum Ausdruck. Am 31. März wurde Gaßner in sein Amt eingeführt. Die großherzogliche Ernennung zum Oberbürgermeister folgte am 16. Juni 1894.
Mainz befand sich zu dieser Zeit auf dem Weg einer stürmischen Entwicklung von einer etwas zurückgebliebenen Provinzhauptstadt zur modernen Großstadt. Von 1885 bis 1905 wuchs die Zahl der Einwohner von 66.000 auf 91.000. Dies stellte die Kommunalpolitiker vor keine leichten Aufgaben, denn noch immer war Mainz von Festungsmauern eingeschnürt. Eine der Hauptbemühungen Gaßners galt deshalb der Niederlegung der Nordwest-Umwallung. Nach jahrelangen Verhandlungen erhielt er am 20. Januar 1900 vom Festungs-Gouvernement die Mitteilung, dass auf Befehl des Kaisers „die Auflassung der Nordwestfront von Mainz, vom Fort Hartenberg bis zum Rhein, in Aussicht zu nehmen sei“. Dies bedeutete, dass sich die Stadt ausdehnen, die Ingelheimer Aue als Industriegebiet erschlossen und eine Eisenbahnverbindung nach Wiesbaden hergestellt werden konnte. Auch für die 1899 begonnenen Eingemeindungsverhandlungen mit Mombach war diese Entscheidung von großer Bedeutung. Es dauerte jedoch noch bis zum 11. Juli 1905, bevor der endgültige „Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und der Stadt Mainz über die Auflassung und den Verkauf der Umwallung“ von Gaßner mitunterzeichnet werden konnte.
Stellte der Vertragsabschluss mit dem Deutschen Reich von 1905 gewissermaßen die Krönung von Gaßners Wirken dar, so waren in den zwanzig vorangegangenen Jahren unter seiner Mitwirkung, häufig auf seine persönliche Initiative hin, bereits zahlreiche Weichen für die wirtschaftliche, technische und städtebauliche Entwicklung von Mainz gestellt worden. 1887 wurde der Zoll- und Binnenhafen eingeweiht, 1885 übernahm die Stadt das zuvor private Gaswerk in eigene Regie und begann 1898 mit dem Bau eines neuen Gaswerks auf der Ingelheimer Aue; 1899 kam das städtische Elektrizitätswerk hinzu. Im selben Jahr fiel auch die Entscheidung, die Pferdebahn zu kommunalisieren und auf elektrischen Betrieb umzustellen. Auch auf dem Gebiet der Stadthygiene kam man in Mainz in jenen Jahren entscheidend voran. 1888 kaufte die Stadt das Rautert'sche Wasserwerk in der Walpodenstraße und begann mit der Verlegung von Wasserleitungen in der gesamten Stadt. Auch der Neubau des modernen, von Stadtbaumeister Eduard Kreyßig geplanten Schlacht- und Viehhofs weit außerhalb der Stadt, an der Hattenbergstraße, 1898 von Gaßner eröffnet, erwies sich trotz der anfänglichen Skepsis der Metzger als zukunftsweisende Entscheidung.
Die zunehmenden Aufgaben der Stadt erforderten eine Ablösung der traditionellen Honoratiorenverwaltung durch zusätzliche hauptamtliche Fachdezernenten. Mit dem 1895 zum Bürgermeister gewählten Dr. Georg Schmidt berief die Stadt erstmals einen „Sozialdezernenten“, der umgehend die überfällige Reform des Armenwesens in Angriff nahm, den Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenfürsorge herauslöste und mit der „Städtischen Zentrale für Jugendfürsorge“ eine Vorform des Jugendamtes schuf. Die um die Jahrhundertwende unglaublich rasch wachsende Zahl der Kinder stellte für die Kommunalpolitik eine große Herausforderung dar. Zwischen 1885 und 1905 wurden allein sechs Volksschulhäuser neu gebaut. Da der schlechte Gesundheitszustand vieler Kinder, besonders aus der Altstadt mit ihren dunklen, überfüllten Wohnungen, Anlass zur Besorgnis gab, wurden alle Schulhäuser mit Brausebädern ausgestattet. 1903 wurden die ersten Schulärzte in Mainz berufen. Mit städtischer Unterstützung verschickte der „Mainzer Verein für Ferien-Colonien“, in dessen Vorstand Gaßner selbst mitarbeitete, alljährlich mehrere hundert Kinder zur Erholung. Bedürftige Schulkinder erhielten auf Kosten der Stadt ein warmes Frühstück. 1902 wurde die erste städtische Kinderkrippe im Mädchenwaisenhaus eingerichtet. Auch beim Versuch, die „Wohnungsfrage“ zu lösen, beschritt man in Mainz zur Amtszeit Gaßners ab 1893 mit der Einführung der „städtischen Wohnungsbeaufsichtigung“ neue Wege.
Die rasche Verwirklichung der vielen kostspieligen Projekte innerhalb eines so kurzen Zeitraums deutet darauf hin, dass in jenen Jahren eine Art Pioniergeist im Stadthaus herrschten. Man hatte den Ehrgeiz, ein modernes Mainz zu schaffen, und wollte nicht hinter den anderen Großstädten zurückstehen. Gaßners Begabung, seine Zeitgenossen zu überzeugen und zu begeistern, trug einen guten Teil zu den Fortschritten jener Jahre bei. Auch beim Großherzog in Darmstadt genoss er hohes Ansehen.
Entscheidende Impulse gingen von Gaßner auch auf dem Gebiet der Arbeiterschutzpolitik aus. Unmittelbar nach Erlass des vom Reichstag im Juni 1890 beschlossenen „Gesetzes über die Einführung von Gewerbegerichten“ trieb er die Errichtung eines Gewerbegerichts in Mainz voran und übernahm selbst einige Jahre lang den Vorsitz dieser Einrichtung, die am 1. Juli 1891 erstmals zusammentrat. Aufgabe der Gewerbegerichte (der Vorläufer unserer Arbeitsgerichte) war es, Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern rasch und billig zu schlichten. Das besondere an den Gewerbegerichten waren die paritätisch besetzten Laienbeisitzergremien, die zu einer hohen Akzeptanz führten, sowie die Schnelligkeit der Entscheidungen, die meist innerhalb einer Woche fielen. Das Gewerbegericht fungierte auch als Einigungsamt, z.B. bei Streiks. Auch das auf eine Initiative des Mainzer Gewerkschaftskartells zurückgehende städtische Arbeitsamt wurde während Gaßners Amtszeit im Jahr 1897 eröffnet.
Gaßners Wirken beschränkte sich nicht auf seine Stadt. Sein Blick richtete sich auf den gesamten Rhein-Main-Raum und darüber hinaus, auch wenn er sich nie um ein Landtags- oder Reichstagsmandat bemühte. Er pflegte Kontakte zu den Oberbürgermeistern vieler anderer deutscher Großstädte, gehörte der „Gesellschaft für Soziale Reform“ an und versuchte, auch auf überregionaler Ebene an der Lösung der sozialen Probleme seiner Zeit mitzuwirken. Gemeinsam mit seinem Frankfurter Freund und Kollegen, dem Sozialpolitiker und Stadtrat Karl Flesch, rief er den „Verband deutscher Gewerbegerichte“ ins Leben, der sich am 11. Juni 1892 in Mainz konstituierte und dessen Vorsitz Gaßner von 1892 bis zu seinem Tod 1905 innehatte. Gaßner nahm auch persönlich an der „Ersten deutschen Arbeitsnachweiskonferenz“ teil, die 1897 auf Initiative des Berliner Staatswissenschaftlers Dr. Jastrow in Karlsruhe stattfand. Als Ergebnis schlossen sich die öffentlichen Arbeits-Vermittlungsstellen der Rhein- und Main-Gegend 1898 zu einem Regionalverband zusammen, die über eine Zentralstelle in Frankfurt ihre Stellenangebote austauschten.
Auch die Initiative zum Wiederaufleben des Städtetages im Großherzogtum Hessen geht maßgeblich auf Gaßner zurück. 1890 lud er erstmals wieder zu einem Hessischen Städtetag nach Mainz ein und arbeitete den Entwurf für die „Satzungen des Städtetags für das Großherzogtum Hessen“ aus. Als Folge der negativen Auswirkungen der Reichsfinanzpolitik auf die Städte kam es Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem überregionalen Zusammenschluss der Kommunen. Auf Einladung von Gaßner berieten am 25. Mai 1903 in Mainz die Vertreter von süd- und mitteldeutschen Städten „Schritte zu gemeinsamen Maßregeln gegenüber dem § 13 des Zolltarifgesetzes“. Im September 1903 folgte in Dresden die Gründungsversammlung zum Deutschen Städtetag.
Die Nachricht von Dr. Heinrich Gaßners plötzlichem Tod am 9. September 1905 traf die Mainzer Bevölkerung wie ein Schock. Eine ganze Stadt trauerte und säumte die Straßen, als ihr beliebtes Oberhaupt zwei Tage später in einem langen Leichenzug, eskortiert von Abordnungen der Mainzer Vereine mit trauerumflorten Fahnen und Standarten, zur letzten Ruhestätte geleitet wurde. In den zahlreichen Grabreden klang immer wieder an: Hier wurde nicht irgendein Bürgermeister zu Grabe getragen, nein, Gaßner hatte in vielerlei Hinsicht Besonderes geleistet und über die Stadtgrenzen von Mainz hinaus großes Ansehen erworben. Sogar im „Vorwärts“, dem in Berlin erscheinenden zentralen Presseorgan der deutschen Sozialdemokratie, wurde dem aus dem bürgerlichen Lager stammenden Mainzer Oberbürgermeister ein Nachruf gewidmet, sehr zum Missfallen der nationalliberalen Presse. Gaßner selbst hätte über diese Empörung wahrscheinlich geschmunzelt und sich über den Nachruf gefreut. Ihm waren Engstirnigkeit und kleingeistige Berührungsängste fremd.