Bibliothek

Hertha Hafer

Chemikerin, geb. 1913, gest. 2007.

Bereits auf dem ersten Kongress der Europäischen Arbeitsgemeinschaft für Fluorforschung und Kariesprophylaxe im Jahr 1954 in Salzburg hielt Hertha Hafer das zweite Referat.[Bild: Ina Choate]

Hertha Hafer war in mehrerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Frau. Sie gehörte zu den wenigen Forscherinnen im Mainz der frühen Nachkriegszeit und war weltweit vernetzt. Auf ihre Forschung geht maßgeblich die Entwicklung der Zahnpasta Blend-a-med zurück. In großen Teilen der Welt bekannt wurde Hertha Hafer durch die Veröffentlichung des Buches „Nahrungsphosphat als Ursache für Verhaltensstörungen und Jugendkriminalität“, das auch ins Englische, Französische und Italienische übersetzt wurde. Ab der dritten Auflage im Jahr 1984 hieß das Buch „Die heimliche Droge – Nahrungsphosphat“. 1997 erschien in Deutschland die sechste Auflage.

Bei Blendax, Hertha Hafer in der Mitte, um 1958.[Bild: Ina Choate]

Hertha Elisabeth Wilhelmine Seekatz kam am 6. Mai 1913 in Wetter bei Marburg an der Lahn zur Welt und wuchs bei ihren Eltern in Westerburg im Westerwald auf. Bemerkenswert für ihre Zeit ist, dass sie 1931 das Gymnasium mit der Reifeprüfung abschloss. Zwei Jahre lang absolvierte sie ein Apothekenpraktikum in Westerburg und war im Anschluss daran anderthalb Jahre als Apothekenassistentin in der Pelikan Apotheke in Leipzig tätig. Hier lernte sie den Apotheker Alfred Hesse (1911-1941) kennen, den sie am 14. August 1937 in Westerburg heiratete. 1939 kam ihre Tochter Ina zur Welt.

Alfred Hesse fiel im Oktober 1941 an der Ostfront. Daraufhin immatrikulierte sich Hertha Hesse im Sommersemester 1942 in Leipzig für das Studium der Pharmazie, das das von ihr bereits geleistete Praktikum voraussetzte. Am 8. Dezember 1942 schrieb sie sich an der Universität Frankfurt am Main ein. Nach einem Jahr kehrte sie nach Marburg zurück, wo sie nach drei Semestern an der Philipps-Universität ihr Studium 1945 mit dem Staatsexamen abschloss und die Approbation erhielt. Von 1945 bis 1949 forschte Hesse für die Cariosan K.G. in Dreihausen an der Universität Marburg bei dem Chemiker Dr. Karl Dimroth (1910-1995) über Karies. Dimroth war ab 1944 Assistent, ab 1948 apl. Prof. an der Universität Marburg; 1952 wurde er ordentlicher Professor. Die in dieser Zeit entwickelte Rezeptur für eine Zahnpasta verkaufte Hesse dem Mainzer Großunternehmen Blendax, das im Juni 1949 450 Mitarbeiter beschäftigte und im gleichen Jahr bereits 23,3 Mio. Tuben Zahnpasta herstellte. Die Zahnpasta Blend-a-med kam im Februar 1951 auf den Markt. Neben der Kariesprophylaxe sollte sie auch der Bekämpfung von Zahnfleischentzündungen dienen.

Hartha Hafer vor der West-Apotheke in Frankenthal, 1961.[Bild: Ina Choate]

Ab Juli 1950 forschte Hertha Hesse für Blendax unter dem Forschungsleiter Dr. Ernst Theobald weiterhin über Karies und war an der Einreichung weiterer Patente beteiligt. In den ersten Jahren bei Blendax zielte ihre Arbeit auf eine bessere Verträglichkeit der Zahnpasta ab. Sie testete teils im Selbstversuch, teils mit deren Einverständnis an der Belegschaft. Im Februar 1953 bildete Der Spiegel die „Blendax‘ Chefapothekerin“ in einem Artikel über Chlorophyll-Zahnpasta ab, die Blendax ab Juni 1952 herstellte.

Früh begriff Hesse die Bedeutung von Fluor für die Kariesprophylaxe und wurde 1950 korrespondierendes Mitglied der Fluorkommission des Deutschen Ausschusses für Jugendzahnpflege. Sie war 1953 Gründungsmitglied der European Working Group for Research on Fluorine and Dental Caries Prevention, später European Organisation for Caries Research (ORCA). Auf deren erster wissenschaftlicher Tagung in Salzburg im Mai 1954 hielt sie das zweite Referat und wurde im Jahr 2002 zum Ehrenmitglied der Organisation ernannt. Sie setzte sich in Deutschland für eine Fluoridierung des Trinkwassers wie in den USA ein. Dem Vorhaben war jedoch kein Erfolg beschieden. Einem Aktenvermerk zufolge soll ihr die Fluorkommission selbst nahegelegt haben, „langsam zu tun“. Die Zahnärzte müssten schließlich auch von etwas leben.

Mit Kollegen und allein veröffentlichte sie von 1951 bis 1960 zwanzig Beiträge über Karies. Mit dem am Hygienischen Institut der Johannes Gutenberg Universität Mainz tätigen Dr. med. Theo Lammers publizierte sie darüber hinaus 1956 das Buch „Biologie der Zahnkaries“. Lammers lehrte in den 1950er Jahren als Privatdozent Hygiene und Bakteriologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ab 1959 war er dort außerplanmäßiger Professor und wurde später Direktor des Städtischen Hygiene-Instituts Dortmund.

Die Phoenix-Apotheke in Mainz, um 1964.[Bild: Ina Choate]

An der Universität Marburg hatte Hertha Hesse den bei Boehringer Ingelheim beschäftigten Chemiker Dr. Herbert Hafer kennengelernt, den sie am 3. Februar 1951 heiratete. Nach einigen Jahren siedelten sie von Wiesbaden nach Mainz, nach Mainz-Bretzenheim über. Auch nach der erneuten Heirat setzte die Apothekerin ihre Tätigkeit bei Blendax fort, bis es mit dem Unternehmen zu Differenzen bezüglich ihrer Beteiligung am Export von Blend-a-med kam. Ende 1959 verließ sie Blendax. Anschließend führte Hafer die West-Apotheke in der Hessheimer Straße 23 in Frankenthal. Zum 1. April 1964 eröffnete sie in Mainz an der Goldgrube 38 ihre eigene Phoenix Apotheke, die sie bis Januar 1975 leitete. Anschließend verpachtete sie diese an Hans-Herbert Sachse, der das Geschäft später übernahm. Seit 2007 führt seine Tochter, Julia Gentz, die Apotheke fort.

Hertha und Herbert Hafer adoptierten in den frühen 1960er Jahren einen Sohn, der sich als verhaltensauffällig erwies. Ausgehend von ihren Erfahrungen und den Veröffentlichungen des Allergologen Ben F. Feingold identifizierte Hafer Nahrungsphosphate als ursächlich für ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung). Sie unternahm zahlreiche Versuche, Studien anzuregen, staatliche Stellen für ihre Erkenntnisse zu interessieren und ein Verbot oder zumindest eine Kennzeichnungspflicht von Phosphatzusätzen zu erwirken. Eine ihres Erachtens zuverlässig Studie zur Wirkung von Phosphat bei betroffenen Kindern wurde nie veröffentlicht, und einer vom Bundesamt für Gesundheit durchgeführten Untersuchung sprach sie die Ernsthaftigkeit ab. Daraufhin veröffentlichte sie 1978 ihr Buch über Nahrungsphosphate, das weit über Deutschland hinaus ein Bestseller wurde. Zahlreiche betroffene Eltern konsultierten sie.

Von 1982 bis 1992 lebte Hertha Hafer in Chernex in der Schweiz. Nach dem Tod ihres Mannes kehrte sie nach Mainz zurück und lebte über 15 Jahre im Seniorenheim Frankenhöhe. Hafer hörte nicht auf, vor den Gefahren von Phosphatzusätzen in Nahrungsmitteln zu warnen. Sie urteilte selbst im Jahre 2003: „[Die] Mediziner sind eine Männergesellschaft, wenn etwas von Frauen kommt, ist es nichts wert.“ Hertha Hafer verstarb am 19. Oktober 2007 in Mainz.

Nach oben

Verfasser: Ute Engelen

erstellt am: 13.11.2015

Ich danke Ina und Stanley Choate für die Zugänglichmachung zahlreicher Unterlagen von Hertha Hafer.

Quellen:

  • Auskünfte der Städte Mainz, Westerburg und Wetter, des Archivs der Philipps-Universität Marburg. Blendax (Hg.), Blendax … erst 25 Jahre alt. Ein Bericht über die Gründung und die ersten 25 Jahre der Blendax-Werke in Mainz, Mainz 1957.
  • Chlorophyll. Ein guter grüner Spaß, in: Der Spiegel, Nr. 9, 25.2.1953.
  • Duschner, Heinz, Early History of ORCA, überarb. Fassung Juli 2014.
  • Gewerbekartei, StA Mainz.
  • In den Ruhestand getreten, in: Deutsches Ärzteblatt, H. 44/30.10.1985, Ausgabe A S. 3292.
  • Kurze Übersicht über die Entwicklung des Fachs Chemie an der Philipps-Universität Marburg von 1609 bis zur Gegenwart, September 20146.
  • Vorlesungsverzeichnis der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Sommersemester 1954.