Bibliothek

Renata Schwarz - Wie ein Baum ohne Wurzeln in der Fremde?

Renata Rosenthal und ihre Familie mussten als Juden vor den immer bedrohlicher werdenden Aktionen der Nationalsozialisten 1939 fliehen und siedelten sich in Bolivien an; Renata Rosenthal ging später in die USA. Ihr Onkel hatte ihnen schon zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur prophezeit, dass eine einmal notwendig werdende Emigration dazu führen würde, dass sie sich fühlten wie „Bäume ohne Wurzeln“. Doch wie sah die Situation dann in der Realität aus?

1926 wurde Renata Rosenthal in Groß-Gerau als einziges Kind einer wohlhabenden jüdischen Metzgerfamilie geboren. Auch wenn sie in begüterten Verhältnissen aufwuchs, fühlte sie sich nicht immer behütet, da sie ihre Eltern selten sah. Allerdings bezeichnet sie ihre Kindheit dennoch als glücklich; schließlich hatte sie viele Freunde -auch Sozialbenachteiligte-, mit denen sie viel Zeit verbrachte. Darunter war ihre „erste Liebe“ Horst, der wie die meisten ihrer Freunde nicht-jüdisch war. Während ihr anfangs der Unterschied der Religionen gar nicht bewusst war, änderte sich dies nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, die in die Zeit ihrer Einschulung fiel. Auf einmal wurde sie von ihrem Lehrer als „rassisch minderwertig“ diskriminiert und in ihrem Sozialleben eingeschränkt. Erstaunlicherweise konnte Renatas Mutter diese Zustände zunächst noch verbessern, indem sie sich beschwerte. Frau Rosenthal war politisch sehr interessiert und weitsichtig und nutzte ihre Fähigkeiten im Umgang mit Nationalsozialisten, die sich von ihrer Stärke oftmals beeindrucken ließen. Dennoch konnte sie natürlich nichts an der Gesamtentwicklung ändern und so war auch die Metzgerei des Vaters von den allgemeinen Boykottaktion betroffen, sodass sich die Familie einige Zeit später entschloss, nach Mainz umzuziehen und einen Weinhandel zu betreiben. In Groß-Gerau kannte man sich schließlich und für Juden wurde dies immer gefährlicher und einschränkender- so trat beispielsweise Horst in die Hitlerjugend ein. Obwohl er den Kontakt mit Renata aufrecht halten wollte, war dies in der allgemeinen Situation in Groß-Gerau unmöglich.

In Mainz hingegen war ein „normales“ Leben innerhalb der jüdischen Gemeinde gewährleistet. Renata besuchte die Jüdische Bezirksschule, die von der liberalen Gemeinde betrieben wurde. Allerdings gehörten ihre Eltern der orthodoxen Gemeinde an, sodass sie sich in beiden bewegte. Trotz der Zugehörigkeit zur Orthodoxie standen die Eltern dem Zionismus distanziert gegenüber- im Gegensatz zu Renatas Onkel, der schon 1900 eine Verschlechterung der Lebenssituation für Juden befürchtete und einen Ausweg in Palästina sah. Nachdem die Rechte der Juden immer weiter eingeschränkt wurden, sollten auch Renatas Eltern ihre Meinung ändern, sahen aber zu großes Konfliktpotenzial mit den Arabern, um Palästina als potenziellen Wohnort akzeptieren zu können. Zunächst sah die Familie sich auch noch gar nicht genötigt, Deutschland zu verlassen. Renata ging es in der Schule relativ gut; sie hatte neue Freunde in der einen und neue „Feinde“ in der anderen Clique gefunden und lernte gerne. Vorfälle wie ihre Verwandten sie in Oberhessen erleben mussten (ein Onkel wurde z.B. von einem Nazi angeschossen) kamen in Mainz noch nicht in dieser Härte vor. Jedoch wurde Renata einmal von BDM-Mädchen ohne Grund verprügelt. Wegen der relativ erträglichen Beziehung zu den nicht-jüdischen Mainzern war die Reichspogromnacht dann ein großer Schock für Familie Rosenthal: Renata musste zusehen wie die Synagoge und ihre Schule niederbrannten und der Vater hatte seine Lizenz, auf Geschäftsreise gehen zu können, verloren, Nationalsozialisten stürmten in die Wohnung, zertrümmerten die Einrichtung und konnten tatsächlich von dem Vater vertrieben werden, der aus Empörung und Zorn den Anführer angriff und sich wehrte. Auch hier wird wieder deutlich, dass Stärke den Nazis imponierte und vorteilhaft sein konnte. Allerdings gab es auch genug Menschen, die versuchten, den Rosenthals zu helfen und die Konsequenzen abzuwenden, die möglicherweise gefolgt wären. Nach diesem Vorfall bemühte sich die Familie nun ernsthaft, zu emigrieren und konnte sich eine Bürgschaft für die USA organisieren. Problematisch war nur, dass sie eine hohe Quotennummer erhielten, was eine Wartezeit von mehreren Jahren bedeutet hätte. Genau wie die Rosenthals versuchten nun auch die anderen jüdischen Familien, zumindest ihre Kinder außer Landes zu bringen, was für Renata sehr belastend war, da sie dadurch viele ihrer Freunde verlor. Bevor auch sie endgültig Deutschland verließ, wurde die Situation aber noch einmal bedrohlich: Renata bekam eine akute Blinddarmentzündung, die lebensgefährlich war. Offiziell durften jedoch die Krankenhäuser keine Juden aufnehmen. So wurde Renata unter einer falschen Identität in das Städtische Krankenhaus gebracht und dort von einem Arzt operiert, der tatsächlich mit Göring verwandt war. Auch wenn einige die Wahrheit herausfanden, verriet sie doch keiner.

Gerüchte über den geplanten Einmarsch in Polen machte die Familie Rosenthal nervös, ein genauer Plan, wie die Emigration ablaufen sollte, wurde benötigt. Schließlich erfuhren sie von der bolivianischen Grenzöffnung und konnten sich ein Visum besorgen. Nun stellte sich die Frage, wie sie möglichst viel von ihren Ersparnissen und ihren Wertsachen mitnehmen könnten, um genügend Startkapital für einen Neuanfang zu haben. Grundsätzlich waren die Nationalsozialisten darauf bedacht, dies zu behindern, so mussten die Emigranten ihr Geld auf deutschen Sperrkonten belassen. Im Endeffekt scheiterte der Plan von Familie Rosenthal, ihr Geld in Gütern, die sie als gebraucht deklarierten, anzulegen, da der deutsche Einmarsch in Polen eine überstürzte Abreise notwendig machte. Die Familie legte mehr Wert darauf, sich um ihre Verwandte, die mit ihnen emigrieren wollten, als um ihr Gepäck zu kümmern, sodass ihnen nur drei kleine Koffer und ein wenig Bordgeld blieben. Später kam es mit den Verwandten dann zum Zerwürfnis. Glücklicherweise schafften die Rosenthals es aber noch rechtzeitig, in die Niederlande zu reisen, wo ihr Schiff auslaufen sollte. Das nächste Hindernis, das sich ihnen stellte, war der Kriegszustand; die Briten betrachteten alle Deutschen, also auch die deutschen Juden, als ihre Feinde und das Schiff musste durch britisches Gebiet. Auch jetzt hatte die Familie Glück: der Kapitän löste das Problem, indem er die britische Blockade mit gehisster neutraler Flagge einfach durchbrach. Ansonsten war die Schiffsreise eine unbeschwerte Zeit vor den Schwierigkeiten, die sie in Bolivien erwarten sollten. Nur manchmal spürte Renata Heimweh, was vor allem mit ihren Freunden zusammenhing: Der Nationalsozialismus hatte sie dauerhaft von ihrer Heimat entfremdet.

In Bolivien wurde Renata dann mit der Realität konfrontiert: Sie vertrug den niedrigen Luftdruck auf der Zugfahrt nicht, war von der Landschaft und den Menschen, die für ihre Verhältnisse sehr schmutzig waren, enttäuscht und v.a. ihre Unterkunft in dem Flüchtlingsheim des Jüdischen Komitees entsprach wegen ihrer schlechten Qualität so gar nicht ihren Vorstellungen. Damals wusste sie ja noch nicht, welchen Torturen sie entkommen war. Die Eltern planten, mit Geld, das ihnen ein Bekannter aus den USA geschickt hatte, eine Metzgerei zu eröffnen. Doch ihr Traum zerplatzte schnell, als ihnen das Geld gestohlen wurde. Nun mussten die Eltern eine Anstellung im Polnischen Club annehmen, was für Renata bedeutete, dass sie für einige Zeit ins Kinderheim musste. Dort fühlte sie sich sehr unglücklich, da sie die Arbeiten der Angestellten erledigen sollte und zusehen musste, wie andere Kinder schlecht behandelt wurden. Renata nahm ihr Schicksal jedoch selbst in die Hand und weigerte sich, dort zu bleiben. Auch die Mutter hatte Probleme; sie ertrug das Klima in La Paz, ihrem Aufenthaltsort, nicht. So beschlossen sie, nach Santa Cruz umzuziehen und dort auf einer Farm zu arbeiten. Allerdings waren sie hereingelegt worden; die Farm existierte nicht. Statt zu verzweifeln vertraute Vater Rosenthal auf die Hilfe Gottes, woraus er schon oft hatte Kraft schöpfen können. Letztendlich wendete sich doch alles zum Guten: Familie Rosenthal mietete sich bei Frau Urdaneta unter, die ihnen eine große Hilfe war, sie etwa beim Aufbau ihrer Metzgerei unterstützte. Das Geschäft lief gut und so hatten sie wenigstens keine gravierenden finanziellen Schwierigkeiten mehr. Auch sonst lebte sich die Familie ein. Renata fand Freunde und begann, sich an die bolivianische Kultur anzupassen. Manches wirkte jedoch befremdlich und konnte von ihr nicht angenommen werden wie z.B. das Schlagen von Hausangestellten. Trotz der Akzeptanz der Familie in der Gesellschaft gab es allerdings auch in Bolivien Vorurteile gegenüber Juden, die meist auf Unwissenheit und Tradierungen aus der Zeit der spanischen Inquisition beruhten. Dennoch standen hier Renata alle Möglichkeiten offen- soweit sie nicht aus Geldgründen verbaut waren- und sie konnte Betriebswirtschaft studieren. Außerdem gab es in Santa Cruz noch andere jüdische Emigranten, durch die ein Stück des alten Lebens bewahrt werden konnte. Später lernte Renata Rosenthal ihren Mann, der ebenfalls aus Deutschland stammt, kennen und emigrierte mit ihm nach New Jersey, USA. Ihre Eltern kamen einige Jahre später nach.

Festzustellen ist also, dass die Familie Rosenthal in Bolivien, nachdem sie die Anfangsschwierigkeiten überwunden hatte, wesentlich glücklicher bzw. unbeschwerter als in Deutschland sein konnte. Es war auch möglich, durch Kontakt zu Leidensgenossen oder durch Beibehaltung von grundsätzlichen Elementen der eigenen Kultur seine Identität zu wahren. Dennoch war Bolivien zu fremd, als dass es dauerhaft eine Heimat für Renata Rosenthal hätte sein können.

Wer mehr über das Schicksal von Renata Rosenthal und ihrer Familie wissen möchte, sollte in ihren Aufzeichnungen „Von Mainz nach La Paz“, herausgegeben vom Verein für Sozialgeschichte Mainz, nachlesen.

Verfasserin: Simone Wagner

Redaktionelle Bearbeitung: Evelyn Heid