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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück zwischen Tradition und Innovation (1870–1914)

Kategorie: Buchtipp, Hunsrückportal, Hauptportal

Alfred Bauer geht in diesem Band den sozialen, materiellen und alltagswirklichen Entwicklungen im Hunsrück des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach. Wie gestalteten sich Produktivitäts- und Produktionsfortschritte der Landwirtschaft in einem Gebiet, das jenseits rasch wachsender städtischer Zentren von äußeren Impulsen zur Veränderung der Wirtschafts- und Betriebsführung ausgenommen blieb?

Aus der Einleitung

Die Rekonstruktion von lokalen und familialen Kontexten sowie die Darstellung individueller Einzelschicksale und Biographien folgt im Wesentlichen mikrohistorischen Leitlinien. »Die Mikrogeschichte stellt eine von der arbeitstechnischen Seite relativ klar definierte Methode für historisch-anthropologisches Forschen bereit.« Im mikrohistorischen Zugriff und der Zentrierung auf den konkreten Menschen gelten die Fragehaltungen seiner subjektiven Befindlichkeit, Betroffenheit, Lebenswelt und Selbsterfahrung. Subjektive Erfahrungen der Menschen, ihr produktiver Umgang mit ihrer sozialen, kulturellen und materiellen Umwelt – sie immer wieder  nachzuzeichnen, gehört zu den großen inhaltlichen und methodologischen Herausforderungen der vorliegenden Studie. Daher ist der »Abstieg in die Niederungen der vielen Dorfbewohner und ihrer face-to-face Beziehungen« auch keine »Modeströmung«, sondern wird im Rahmen des alltagsgeschichtlichen Konzeptes bewusst zum Programm erhoben: »Selbst den Bauern in einem entlegenen Dorf« treten »soziale Gruppen und Institutionen nicht als objektive Gegebenheiten gegenüber«, sondern »sie werden von den ›kleinen Leuten‹ mitgestaltet in Verhandlungen und Konflikten durch eine (›Politik des Alltagslebens, deren Kern im strategischen Gebrauch der sozialen Regeln besteht‹)«. Die damit zugleich nahe liegende Zieldefinition einer auf den Menschen bezogenen »histoire totale« kann immer nur eine Annäherung an ein Ideal, aber kein Programm sein.

Auf der räumlichen Ebene von verschiedenen »Regionen« wird schließlich das geschichtlich gewordene und sich verändernde Profil der Hunsrücker Agrarlandschaft intraregional auf der Basis der Landkreise und kompatibler Agrarregionen wie Westerwald und Eifel immanent komparatistisch beschrieben und extraregional mit anderen großen regionalen Raumeinheiten wie Westfalen, Niedersachsen und Ostelbien verglichen. Die Erbrechtspraxis in der realgeteilten Agrarlandschaft des Hunsrücks und die doppelte Zersplitterung von Besitz und Betrieb bilden den kategorialen Bezugsrahmen des ersten Kapitels.

Auf der Folie der in den staatlichen Verwaltungsakten und der Literatur als säkulare Erscheinung apostrophierten Etablierung des Code civil im Rheinland und des von ihm verkündeten Gleichheitsprinzips in der Erbfolge werden die Modi der lokalen und individuellen Vererbung in den Blick genommen. Besitz- und Ressourcentransfers als soziale Praxis und Aushandlungsprozesse zwischen den Generationen erweisen sich als Wendepunkt im Leben einer bäuerlichen Familie, an dem sich die ökonomischen Interessen und verschränkten Beziehungen aller Familienmitglieder gleichermaßen offenbaren.

Zentral ist weiterhin die Frage, wie sich die Praxis der Besitzweitergabe auf die (Über-)lebensfähigkeit des weitgehend als lohnlose Familienbetriebe konstituierten Eigenbesitzes im langfristigen Trend auswirkte.

Das zweite Kapitel lenkt den Blick auf die Menschen in ihren sozialen, materiellen und alltagswirklichen Lebenszusammenhängen. Es sind Menschen, die in der Regel erst nach dem fünften Lebensjahr die Hürden eines allzu frühen Kindtodes genommen haben und auch weiterhin noch durch ein »Todesursachen-Panorama« höchst gefährdet sind.
Es sind junge Menschen, die in den Etappen ihrer Lebensläufe unter dem Einfluss der Eltern, Familien, Verwandten und »Vermittlern« sich, fern von Emotionen, aufgrund materieller Interessen in arrangierten Ehen wieder finden. Sie zeugen und gebären viele Kinder und sehen die meisten von ihnen häufig noch zu Lebzeiten sterben. Jenseits extremer psychosozialer lebensweltlicher Erfahrungen gehen sie ihrer Arbeit nach, auf dem Feld, im Stall, im Haushalt, der Familie und in nicht-landwirtschaftlichen Tätigkeiten, die eigene und familiäre Subsistenz zuallererst im Blick.

Es ist ein facettenreiches Ensemble, das uns da in den Hunsrückdörfern begegnet, neben den wenigen dörflichen Intellektuellen immer wieder Bauern auf unterschiedlichen Besitzgrößen, die aber doch nicht »soweit auseinanderliegen«, als dass die Charakterisierung »Ländliche Klassengesellschaft« angemessen wäre. Als »Halbagrarier« sind es Handwerker, die über Generationen dasselbe Gewerbe in der Familie weitervererben und einer lokalen Bedarfsdeckung genügen. Auf der untersten Stufe des sozialen Spektrums schließlich Knechte und Mägde, in der Regel zur »familia« gehörend, nicht zuletzt die Tagelöhner, zwar landarm, aber nicht landlos, in Mehrfachexistenzen immer auf der Suche nach dem Nahrungserhalt und seit den 80er Jahren auch als Pendler und Wanderarbeiter in den Industriegebieten des Rheinlandes unterwegs.

Staatliche Agrarpolitik als Interventionsmaßnahmen, vermittelt über die landwirtschaftliche und bäuerliche Vereinskultur, ist das Thema des dritten Kapitels. In der Rezeption bürgerlicher Vergesellschaftungsformen (Verein, Casino) werden vor allem neue Kenntnisse einer fortschrittlichen landwirtschaftlichen Produktion, staatliche Subventionen und genossenschaftliche Handlungsressourcen, aber auch konfessionelle und politische Dispositive transportiert. Zentral ist die Perspektive auf das Wirken der Lokalabteilung Simmern des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen (LVR) und den Hunsrücker Bauernverein, der sich in der Abschottung und Distanzierung zum katholischen Trierer Bauernverein zunehmend als protestantisches Milieu formierte und in der Konfrontation mit ihm und dem Bund der Landwirte als politische »presssure group« mobilisiert wurde.

Nach den Modernisierungsimpulsen »von oben« weitet sich der Blick im vierten Kapitel auf die Initiativen und Anstrengungen der Bauern, ihre Produktion und die Produktivität ihrer Betriebe zu steigern: Erfolg und Misserfolg (eines Krisenjahres) werden an ökonometrischen Datenreihen ablesbar. Es ist das fortwährende Bemühen neben dem immer schon hohen Einsatz von Arbeit auch den Produktionsfaktor Boden durch eine Intensivierung seiner Bearbeitung, Fruchtwechsel und Futterkräuterbau zu mobilisieren, schließlich auch das umlaufende Kapital »in der Form von auf dem Markt gekauften Inputs« (Dünger, Saatgut) gewinnsteigernd einzusetzen. Hier wird dann auch die Frage der Kapitalbeschaffung virulent, die sich weiterhin in den traditionellen Bahnen der privaten Geldleihe und Verschuldung bewegt, aber auch zunehmend von öffentlichen Kreditinstituten wahrgenommen wird. Diesen Th emen wird in einem weiteren Kapitel Rechnung getragen.

»Wie gestalteten sich Produktivitäts- und Produktionsfortschritte der Landwirtschaft in einem Gebiet, das jenseits rasch wachsender städtischer Zentren von äußeren Impulsen zur Veränderung der Wirtschafts- und Betriebsführung ausgenommen blieb? Welchen Anteil an diesem Prozess hatte der Betriebsleiter, der darauf bedacht sein musste, einen Teil seines Gewinns abzuzweigen und zu investieren, um die zukünftige Erzeugung noch gewinnträchtiger zu machen? Wie musste ein Betrieb organisiert sein, wenn er nicht nur der Selbstversorgung von Familie und Haustieren diente, sondern sich auch die ›Vermarktung‹ landwirtschaftlicher Produkte zum Ziel setzte?« Auf diese Fragen wird in der Fallstudie »Peter Mayer/Wahlbach« im letzten Kapitel eine Antwort versucht.
Die Kapitel selbst sind als weitgehend geschlossene Einheiten (»Solitäre«) konzipiert, mit je eigener Anbindung an den Forschungsstand und Hinweisen auf die Quellen und das methodische Vorgehen. Ihre Vernetzung erfolgt nicht nur durch Querverweise (zumal in den Anmerkungen), sondern auch im Resümee.

Alfred Bauer: Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück zwischen Tradition und Innovation (1870–1914) Trier 2009 (Trierer Historische Forschungen 64).
ISBN 978-3-89890-123-9
geb., 512 S., 158 × 240 mm, zahlr. Tab. u. Diagr.
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Auslieferung ab 15.10.2009