Erinnerungen an Heimatforscher des 18. und 19. Jahrhunderts mit Kurzbiographien aus dem vorigen Jahrhundert
Ohne dass wir es so recht bemerkten, ist unsere Gesellschaft für Rheingauer Geschichte selbst Geschichte geworden, und es hat unseren Vorsitzenden schon etwas Mühe gekostet, die Akteure und ihr Tun und Treiben vor fünfzig Jahren zu erkunden. Ich möchte nun in einem Kurzreferat dieses Spiel fortsetzen und Ihnen einige Heimatforscher vorstellen, die während der letzten 200 Jahre die Vergangenheit des Rheingaues durchstöberten und damit die Grundlagen für unseren Forschungsdrang geschaffen haben.
So stelle ich an den Anfang Pater Hermann aus dem Kloster Eberbach, der eigentlich als Johannes Bär am Neujahrstag 1742 in Nieder-Olm bei Mainz geboren wurde. Dort befand sich ein Wirtschaftshof von Eberbach, was den Bauernbuben zum geistlichen Beruf bewegte. Mit 18 Jahren wurde er in Eberbach aufgenommen und stieg langsam zur Schlüsselfunktion eines Bursarius auf, der bei seinen Amtsgeschäften auch mit dem reichen Klosterarchiv vertraut war, 1803 wurde Eberbach säkularisiert und Pater Bär zog sich nach Mainz zurück. Hier fand er die Muße, anhand seiner gesammelten Aufzeichnungen die „Diplomatische Geschichte der Abtei Eberbach" zu verfassen. Diese Arbeit basierte ausschließlich auf in Eberbach befindlichen Unterlagen und ist noch heute eine wertvolle Informationsquelle. Bevor er 1814 starb, übergab er sein umfangreiches Manuskript nebst weiteren Akten seinem ehemaligen Vorgesetzten, Abt Leonhard Müller in Rüdesheim. Dessen Erben reichten diese wertvollen Belege an den Nassauischen Verein für Altertumskunde weiter, doch sollte es noch über 30 Jahre dauern, bis Bars Arbeit in einer Überarbeitung von Dr. Rössel von dem Verein gedruckt wurde.
Als Zeitgenosse Bärs folgt Franz Joseph Bodmann, 1754 im unterfränkischen Aula als Sohn eines Landvogts geboren. Bodmann ist auch heute noch für den Heimatforscher ein feststehender Begriff, obgleich seine Vita aus Gründen, die wir noch erfahren werden, kaum bekannt ist: Nach einer Grundausbildung durch Privatlehrer studierte Bodmann zunächst Philosophie in Fulda und Würzburg und seit 1774 Jura in Göttingen. Dieses Studium schloss er mit der Zulassung als Jurist ab und reiste dann zur Erweiterung seiner Fachkenntnisse für zwei Jahre nach Wien und Wetzlar. Am 5.7.1780 wurde er zum Juraprofessor nach Mainz berufen und stieg acht Jahre später zum Rector magnificus sowie zum Hof- und Regierungsrat auf.
Infolge der Französischen Revolution wurde er 1793 von den französischen Besatzungstruppen abgesetzt, da er sich weigerte, einen Eid auf die neue Verfassung zu leisten. 1797 befreiten ihn die preußischen Truppen und ernannten ihn zum Präsidenten des Mainzer Tribunals. Schließlich erfolgte seine Berufung zum Mainzer Stadtbibliothekar, ein Amt, das er bis zu seinem Tode am 21.10.1820 ausübte.
Bei seinem Amtsvorgänger Ferdinand von Gudenus (1679-1758) hatte er bereits 1784 eine riesige private Sammlung von 21.462 Urkunden kennengelernt. Zum Preis von 700 Gulden ließ Bodmann diese abschreiben und in zwölf großen Foliobänden einbinden. Die originale Gudenus-Sammlung veräußerte er 1804 an das Staatsarchiv Darmstadt. Nur der erste Band hiervon ist spurlos verloren gegangen und möglicherweise nach England gelangt.
Bei der Überprüfung dieser Urkunden bzw. der Abschriften hat Bodmann bereits festgestellt, dass nicht mehr als 20 Urkunden völlig fehlerfrei waren. Ansonsten fanden sich viele Übertragungsfehler in den Kopien, aber auch zahllose Fälschungen, die bereits viel früher von Klöstern vorgenommen worden waren, um sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern. Bei dem Ende des Mainzer Erzstifts und der Auflösung zahlloser Klöster wurde eine Flut von Archivbeständen herrenlos, die aber immerhin auf Veranlassung der französischen Machthaber -zunächst in wildem Durcheinander - in das Mainzer Departementarchiv eingelagert wurden. Durch Vermittlung des Mainzer Präfekten Jean Bon de St. Andre durfte Bodmann hieraus viele Unterlagen zum Studium mit in seine Wohnung nehmen, und es blieb nicht aus, dass er dabei seine private Urkundensammlung erheblich bereicherte. Welche chaotischen Zustände damals herrschten, beweist auch der Urkunden-Nachlass des Wormser Domvikars Helwich (1582-1632), der uns wegen seiner gründlichen Bestandsaufnahme aller Inschriften - auch in Rheingauer Kirchen - bestens bekannt ist. Diesen Nachlass hat der amtierende Kurfürst Georg Friedrich von Greiffenclau bereits 1629 in sein Archiv auf Schloss Vollrads bringen lassen. 1792 wurde das Vollradser Archiv von Böhmer, dem Sekretär des Generals Custine, geplündert und auch Helwichs Nachlass entführt.
Professor Bodmann konnte also bei seinen geschichtlichen Studien aus dem Vollen schöpfen und veröffentlichte schließlich 1819 bei Florian Kupferberg, Mainz, das zweibändige Werk „Rheingauische Altertümer oder Landes- und Regimentsverfassung des westlichen oder Niederrheingaues im mittleren Zeitalter". Dies war die erste zusammenhängende Gesamtgeschichte des Rheingaues und galt während des 19. Jahrhunderts als elementare Geschichtsgrundlage. Freilich bemerkte man schon früh zahlreiche Ungereimtheiten bei der Wiedergabe von Urkunden, und schließlich entlarvte 1921 der Wiesbadener Bibliothekar Gottfried Zedler in einer umfangreichen Dokumentation Bodmann als gewissenlosen Fälscher. Bodmann und sein Werk waren also fortan als Geschichtsquelle verfemt, auch wenn man später feststellte, dass die Kritik Zedlers überzogen war. Zwar hatte Bodmann mit seinen Mogeleien eine Todsünde begangen, andererseits muss man anerkennen, dass er erstmals die Rheingauer Geschichte umfassend und in ihren Zusammenhängen zutreffend dargestellt hat.
Kommen wir nun zu zwei anderen prominenten Vertretern der Heimatforschung, zu Vater und Sohn Habel. Der Nassauische Hofkammer-Rat Christian Friedrich Habel wurde 1747 als Sohn eines Schultheißen in Wallrabenstein bei Idstein geboren. Nach einer Ausbildung in den Finanz- und Kammeralwissenschaften begann er 1777 bei der Finanzkammer in Wiesbaden und stieg zum Hofkammer-Rat auf. Eine solche Position war damals recht einträglich, so dass er 1808 bei seiner Pensionierung in Schierstein in der Reichsapfelstraße ein stattliches Landgut erwerben konnte. Hier starb Habel senior 1814 an Brustbeschwerden. Habel zählte zusammen mit Pfarrer Luja und Baron v. Geming zu den Vorbereitern des Wiesbadener Vereins für Altertumskunde, der am 5.12.1821 mit 35 Mitgliedern gegründet wurde. Dieser Verein richtete bereits 1822 sein Museum (das heutige Landesmuseum) ein und gab 1827 erstmals als Jahresschrift seine „Nassauischen Annalen" heraus, die bis heute alljährlich als bedeutende Informationsschrift erscheinen.
Der Verein bestellte als ersten Vereinssekretär den jungen Sohn des Hofkammer-Rats, Friedrich Gustav Habel. Dieser, 1792 in Oranienstein an der Lahn geboren, begann 1811 ein Jurastudium in Gießen und Heidelberg, das er aber überstürzt abbrechen musste, nachdem er in Heidelberg bei einem Säbelduell seinen Kontrahenten getötet hatte. Der junge Habel war aber nicht auf einen Broterwerb angewiesen, weil er 1814 das 250 ha große Landgut in Schierstein von seinem Vater geerbt hatte. Entsprechend seinen Neigungen studierte er jetzt in Mainz bei Prof. Bodmann Geschichte. Habel übte das Amt des Vereinssekretärs 30 Jahre lang bis 1851 aus. Daneben war er von 1827 bis 1829 als Archivar bei der Wiesbadener Landesbibliothek angestellt, wo er auch den Bibliothekar Weitzel, einen gebürtigen Johannisberger, kennenlernte. Als Vereinssekretär bestimmte Habel weitgehend die Tätigkeit des Altertums Vereins, was aber mit der Zeit unter den Mitgliedern soviel Widerspruch erregte, dass sie ihn 1851 aus seinem Amt abwählten. Nach einer späteren Darstellung von Wolf-Heino Struck spielten dabei auch politische Veränderungen seit 1848 eine Rolle. Habel hat diese Kränkung nie überwunden und zog sich in ein isoliertes Junggesellendasein zurück, um sich fortan ausschließlich seinen Geschichtsforschungen zu widmen.
Dabei ist er auch auf ungewöhnliche Weise aktiv geworden, indem er die Burgruinen Eppstein, Gutenfels, Deurenburg (Burg Maus) und Reichenberg, welche von den betreffenden Gemeinden auf Abbruch versteigert wurden, aufkaufte und so vor dem endgültigen Niedergang bewahrte. Eppstein wurde 1870 an den Grafen von Stolberg-Wernigerode verkauft, die drei anderen Burgen blieben auch nach seinem Tode noch eine Zeitlang im Familienbesitz. Habel hat in jener Zeit eine Fülle kostbarer Bücher aus dem Mittelalter erworben, daneben einen Großteil der Bodmann'schen Urkundensammlung sowie noch zahlreiche andere Geschichtsbelege. Diese Schätze hütete er eifersüchtig und ließ niemanden dran. So kam es 1859/60 zu einem hässlichen Streit mit anderen Forschern, welche aus dem Besitz Habels die berühmten Urkunden des Klosters Bleidenstadt einsehen wollten. Habel wurde bei soviel Ärger krank und litt seitdem an einem hartnäckigen Halsleiden. Hinzu kam Verdruss mit seinem Schiersteiner Gut. Da er kein gelernter Landwirt war, wurde dessen Bewirtschaftung arg vernachlässigt. Auch die Schiersteiner Bürger machten sich ein Vergnügen daraus, ihn fortwährend zu ärgern. Also verkaufte er den Schiersteiner Besitz in mehreren Teilen, darunter auch an den prominenten Augenarzt Pagenstecher. Von dem beträchtlichen Erlös erwarb er 1859 von den Fürsten Leiningen die Mildenburg über dem malerischen Schnatterloch in Miltenberg am Main. Dieses war im Laufe der Jahrhunderte arg verlottert und musste von Habel erst gründlich instand gesetzt werden. Hier verbrachte er seine letzten Lebensjahre inmitten seiner kostbaren Schätze, bis er 1867 im Alter von 75 Jahren verstorben ist.
Habels wissenschaftliche Leistungen liegen vor allem auf dem Gebiet der Ausgrabungen in und um Wiesbaden, auch in der Saalburg, als er seit 1853 Mitglied der deutschen Limes-Kommission war. Ferner wirkte er bei der Stiftung des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz mit. Mit zunehmendem Alter galt er als ein Sonderling, zwar von großer, stattlicher Figur, aber nachlässig in einen verblichenen Radmantel gekleidet. Nach seinem Tod öffnete man in Miltenberg einen wegen fehlenden Schlüssels jahrelang verschlossenen Schrank, in dem einsam sein altmodischer Frack hing, den seine Kollegen auf der Saalburg den „Limesfrack" genannt hatten. Habels Universalerbe wurde der Sohn seiner Schwester Louise, der Kreisrichter Wilhelm Conrady. Dieser wurde 1829 in Rüdesheim als Sohn des Rentmeisters Friedrich Conrady geboren und hatte Wilhelmine Pagenstecher, die Tochter des oben erwähnten Augenarztes Pagenstecher, geheiratet (Ein Johannisberger Zweig der Conradys war mit dem Rüdesheimer Winzer Johann Mang und mit der Johannisberger Familie Labonte verwandt).
Zu den Altertumsforschern jener Tage zählt auch Nikolaus Kindlinger, 1749 in einer Mühle bei Martinsthal geboren, also ein echter Rheingauer. Nach einer Ausbildung bei den Jesuiten in Mainz wählte er die geistliche Laufbahn und trat als Bruder Venantius in ein Kölner Minoritenkloster ein. Schon damals faszinierte ihn die Altertumsgeschichte, und da ihm die Kölner Klostermauern zu eng wurden, ließ er sich zum Weltgeistlichen umwidmen. Er begab sich nach Westfalen, um dort seit 1790 viele öffentliche, aber auch private Adels- und Klosterarchive zu ordnen. Damals gab er nicht nur mehrere eigene Veröffentlichungen heraus, sondern legte auch den Grundstock für eine eigene große Urkundensammlung. 1802 kam er zu Quellenstudien nach Mainz und brachte diese Sammlung von 40 Foliobänden mit. Nun hatte er Gelegenheit, die Bodmann'schen Bestände auszuwerten und im Gegenzug seine Akten den Mitforschern zugänglich zu machen.
Eigentlich hatte er vor, dauernd in Mainz zu bleiben, und erwarb 1804 ein eigenes Haus in der Mainzer Großen Pfaffengasse. Doch erhielt er bald eine Berufung nach Fulda, um dort die Archive des Prinzen Wilhelm von Oranien zu ordnen. Dabei überraschte ihn 1806 der Niedergang der alten Landesherrschaften, und er erlebte, welch ein chaotisches Schicksal die alten Klosterbibliotheken von Weingarten und Dortmund erlitten. Die neuen Machthaber und deren Beamte bedienten sich nach Herzenslust aus diesen Beständen, und auch Kindlinger raffte für seine Urkundensammlung weitere 150 Foliobände zusammen. Skrupel empfand er dabei nicht, denn was er sich nicht angeeignet hätte, wäre über kurz oder lang als Altpapier verkauft worden.
Erst 1817 quittierte Kindlinger aus Altersgründen seinen Fuldaer Archivarsposten und zog sich mit seinen vielen Folianten in sein Mainzer Haus zurück. Aber sein Lebensabend währte nicht lang; denn 1819 erlitt er einen Betriebs- oder Berufsunfall, indem er von einer Bibliotheksleiter stürzte, unter einem kippenden Buchregal begraben wurde und so schwere Verletzungen erlitt, dass er wenige Tage später, am 15.9.1819, im Alter von 70 Jahren starb. Seine berühmte Sammlung von geschichtlichen Belegen wurde 1820 versteigert. Ein Großteil davon ist vom preußischen Staat aufgekauft worden und gelangte nach Münster/Westf. Die auf Nassau und den Rheingau bezogenen Unterlagen wurden vom Herzogtum Nassau für das Idsteiner Staatsarchiv erworben. Darunter waren auch kritische Notizen zu den Unterlagen von Bodmanns Fälschungen, obgleich auch Kindlinger selbst nicht frei von Fehlern gewesen ist.
Ein oder zwei Generationen später begegnen wir dem Wiesbadener Obermedizinalrat Dr. Karl Reuter, der 1803 in Geisenheim als Sohn des gräfl. Ingelheim'schen Amtmanns David Reuter geboren wurde. Seine erste Ausbildung vermittelte ihm der ehemalige Wormser Domkanonikus Prof. Jacob Stassen, der sich nach der Säkularisation in Geisenheim niedergelassen und u.a. auch den späteren Limburger Bischof Josef Blum unterrichtet hatte. Diese Ausbildung war so gründlich, dass Reuter mit 17 Jahren direkt zum Universitätsstudium in Bonn und Heidelberg übergehen konnte. Als junger Mediziner reiste er zunächst zur Weiterbildung nach Paris, wo er zahlreiche prominente Persönlichkeiten kennenlernte. Weitere Studienreisen nach Wien, Prag, London und Dublin folgten, bis er 1834 als Medizinalrat in Idstein Anstellung fand. Hier weckte das Nassauische Staatsarchiv in Idstein sein Interesse an der Altertumsforschung. Und seit er 1848 als Medizinalrat nach Wiesbaden versetzt worden war, nutzte er während der nächsten 20 Jahre jede Gelegenheit, als Mitglied des Nassauischen Altertumsvereins an der Aufdeckung römischer Bauspuren in und um Wiesbaden teilzunehmen. Die Stadt wuchs in jener Zeit von einer ländlichen Residenz zu einer florierenden Bäderstadt, und in zahllosen Baugruben stieß man immer wieder auf umfangreiche römische Baureste. Auch in der Umgebung, in Orlen, Rambach und Heddernheim, wurde er in reichem Maße fündig. Hierbei sammelte der Autodidakt Reuter so viele Fachkenntnisse, dass er für den Nassauischen Verein eine ganze Reihe aufschlussreicher Fundberichte verfassen konnte, die in den Jahren 1871 bis 1884 erschienen sind. Zeitlebens Junggeselle geblieben, zog er sich 1887 nach Rüdesheim zurück, wo seine Verwandten an der Grabenstraße ein stattliches Weingut betrieben. Hier starb er am 12. November 1889 im gesegneten Alter von 86 Jahren.
In jenem Jahr war ein anderer Rheingauer Altertumsforscher schon recht aktiv, nämlich Ferdinand Wilhelm Emil Roth. Dieser wurde 1853 als Sohn des Rezepturbeamten Heinrich Roth in Eltville geboren. Vier Jahre später ist seine Familie nach Wiesbaden in die Emser Straße gezogen, wo Roth das Gymnasium besuchte. Sein Geschichtslehrer, der Vorsitzende des Nassauischen Altertumsvereins, Dr. Friedrich Otto, weckte sein Interesse an der Historie. Nach Aufenthalten in Mainz und Frankfurt ließ Roth sich 1877/78 in Freiburg/Breisgau in das Archivwesen einführen und betreute einige Zeit aushilfsweise das Freiburger Stadtarchiv. Aus dieser Tätigkeit leitete er später den selbstverliehenen Titel Archivar ab, ohne jemals als solcher eingestellt gewesen zu sein. Ja, er legte sich gelegentlich sogar den Titel „Dr. phil." zu, obgleich er nie ein ordentliches Universitätsstudium absolviert hatte. Doch sein Umgang mit vielen rheinischen Gelehrten verführte ihn zu solchen Mogeleien.
Roth war also zeitlebens Autodidakt und als Privatgelehrter tätig, wozu ihm das elterliche Erbe genug Unterhalt gewährte. 1881 heiratete er Elise Feilenz, aus dieser Ehe ging eine Tochter hervor. Zur gleichen Zeit vollendete Roth sein zweibändiges Hauptwerk, die Urkundensammlung „Fontes rerum Nassoicarum". Zur Drucklegung hatte er den Nassauischen Altertumsverein um finanzielle Unterstützung gebeten, doch entschied sich der Verein zugunsten eines Konkurrenz-Unternehmens, der ebenfalls zweibändigen Urkundensammlung „Codex Diplomaticus Nassoicus", da deren Verfasser, Archivrat Dr. Wilhelm Sauer, dem Wiesbadener Staatsarchiv angehörte.
Aus Zorn über diese Brüskierung zog Roth zunächst nach Frankfurt, dann nach Darmstadt, 1888 wieder nach Wiesbaden und schließlich 1891 nach Geisenheim. 1889 fand er aufgrund der Tatsache, dass er bereits in Freiburg ein verschollenes Hausarchiv der Grafen von Sickingen bearbeitet hatte, eine befristete Anstellung beim Grafen Karl zu Eltz, um dessen Hausarchive zu ordnen und eine zweibändige Hausgeschichte herauszugeben.
Die Zusammenarbeit mit dem Hause Eltz wurde durch Roths Hang zur Arroganz, zu krankhafter Empfindlichkeit und zu cholerischen Wutanfällen so sehr erschwert, dass ihn schließlich Krankheiten, wie Augen- und Magenleiden sowie schwere Depressionen, in die völlige Isolation trieben. Hinzu kamen Vorwürfe, dass Roth sich bei Besuchen in Archiven allerlei Urkunden angeeignet habe, die er dann an Antiquare und gar ins Ausland verhökert habe. Sogar das Vollradser Greiffenclau-Archiv äußerte solche Vorwürfe, die aber letztendlich nicht schlüssig zu beweisen waren. Bei mehrfachem Wohnungswechsel verbrachte Roth die nächsten Jahrzehnte damit, sein fundiertes historisches Wissen zu insgesamt 470 kleineren und größeren Aufsätzen in Zeitschriften umzusetzen. In den letzten beiden Dezennien seines Lebens zog er sich in ein kleines Landhaus in Niedernhausen zurück. Als er am 8. Februar 1924 bei einem Besuch im Offenbacher Hause seiner Tochter mit 70 Jahren verstarb, war er weitgehend vergessen, und die Öffentlichkeit nahm keine Notiz mehr von ihm.
Wenden wir jetzt einmal den Blick über den Rhein, so begegnet uns bereits 1853 in Bingen Hofrat Anton Joseph Weidenbach, der unter anderem die „Regesten der Stadt Bingen, des Schlosses Klopp und des Klosters Rupertsberg" verfasst hat. Weidenbach kam 1809 als Sohn eines Schuhmachers in Linz am Rhein zur Welt und wählte die Laufbahn eines Pädagogen. Zunächst Lehrer in Linz und Bacharach, seit 1835 Stadtarchivar in Ahrweiler, musste er in den Wirren von 1848 wegen seiner liberalen Gesinnung vorübergehend ins Exil nach Belgien fliehen. 1849 gründete er dann außerhalb Rheinpreußens in Bingen ein Töchterinstitut, das er bis 1864 leitete. Gleichzeitig verlieh ihm Hessen-Darmstadt den Titel eines Hofrats und eines Richters am Friedensgericht. 1864 verlegte er mit seiner Frau Emilie Karoline, aus Bacharach gebürtig, seinen Wohnsitz nach Wiesbaden, wo er im Auftrag des Herzogs ein statistisches Büro einrichtete und leitete. 1871 ist er hier im Alter von 62 Jahren verstorben.
Aus zahlreichen urkundlichen Quellen hatte Weidenbach in seinem eben zitierten Werk nicht nur die Binger Geschichte, sondern auch die des Schlosses Ehrenfels und der Abtei Rupertsberg mit Eibingen zusammengestellt und damit eine verlässliche Arbeitsunterlage für die Rheingauer Heimatforschung geschaffen.
Noch einen verdienten Rheingauer Heimatforscher möchte ich aus dem Sumpf des Vergessens ziehen: Albert Keuchen, der sich vor allem der Lorcher Stadtgeschichte gewidmet hat. Eigentlich war er branchenfremd, wurde 1805 in Wuppertal-Barmen als Sohn eines Kaufmanns geboren, studierte in Bonn und Berlin Pharmazie und war in den Apotheken von Bad Schwalbach und Bad Ems tätig. Aber seine schwache Gesundheit zwang ihn zu einem mehrjährigen Aufenthalt in Italien. Danach wieder gekräftigt, ließ er sich in London nieder und war dort als Kaufmann so erfolgreich, dass er sich mit 40 Jahren ab 1845 in Lorch als Junggeselle zur Ruhe setzen konnte. Er unternahm fortan viele Reisen nach Frankreich, Spanien und Algier und knüpfte zahlreiche Beziehungen zu hochherrschaftlichen Kreisen, zu denen er Zugang hatte, da seine Tante den französischen Marschall Nicolas Soult, von Napoleon 1807 zum Herzog von Dalmatien ernannt, geheiratet hatte.
Durch diese Beziehung begegnete er 1848 zufällig der Herzogin von Orleans mit ihrem Sohn, dem Grafen von Paris, der eigentlich in Frankreich als Thronfolger vorgesehen war, aber vor der Pariser Februarrevolution von 1848 nach Deutschland fliehen musste, wo die Herzogin Helene aus dem groß- herzoglich-mecklenburgischen Hause sich sicher fühlte. Keuchen nahm sich dieser erlauchten Flüchtlinge an, brachte sie zunächst in Bad Ems und dann in Fulda unter. Nach einem beschaulichen Lebensabend starb Keuchen am 3. März 1890 im gesegneten Alter von 85 Jahren in seinem Lorcher Wohnsitz. Noch etliche andere Persönlichkeiten hätten es verdient, als erfolgreiche Heimatforscher hier genannt zu werden. Sie werden in den folgenden Kurzbiographien vorgestellt.
Kurzbiographien Rheingauer Heimatforscher
Conrady, Wilhelm, Jurist und Altertumsforscher. *25.7.1829 Rüdesheim-1.12.1903 Schloss Miltenberg, Frau: Wilhelmine Pagenstecher. Vater F.H.L. Conrady, Hofkammerrat, Mutter Luise, geb. Habel; war also Neffe von F.G. Habel. Kindheit in Idstein, stud. jur. in Heidelberg, 1852-67 in nass. Justizdienst, zuletzt Kreisrichter in Rüdesheim, erbte Schloss Miltenberg von Onkel Habel, bekannt durch Limesforschung. Lit.: Nassovica 1(1930-37)747.
Diel, Johannes, Geistlicher. * 11.2.1862 Loren-16.3.1929 Hattenheim. Vater Peter war Dachdecker, Mutter Cath. Pohl aus Loren. Gymn. Hadamar, Stud. in Bonn, 1887 Priesterweihe. In Wirges, Weilbach, Höchst, Hattersheim, Sonnenberg und Hattenheim tätig, schrieb viel über nassauisches Brauchtum. Lit.: Nass. Hbl. 1929/154.
Haas, Dr. Robert, Geistlicher und Publizist.
*18.8.1806 Dillenburg-1872 Frankfurt /M. War bis 1848 Geistlicher in Dotzheim, Dickschied und Haiger, trat 1848 zurück und wurde in Wiesbaden Publizist, veröffentlichte eine Rheingau-Chronik.
Kappus, Christian Jakob, Lehrer und Heimatforscher. *21.12.1882 Weisel - 4.4.1945 Wiesbaden. War zweimal verheiratet. Vater Phil, war Bauer, Mutter Anna Magdalena Knecht aus Weisel. Lehrerseminar Usingen, Lehrer in Herborn, Dausenau, Wiesbaden; Ehrensenator der Uni Marburg. Mundartforschung und Heimatgeschichte Kaub. Lit.: NA 1950/244.
Kehrein, Joseph, Historiker, Philologe.
*20.10.1808 Heidesheim b. Mainz-25.3.1876, Frau Elis. Holz, Wachholderhof b. Erbach, Vater Andreas Bauer, Mutter Elis. Bender; stud. phil. Gießen, Lehrer in Darmstadt, Mainz, Hadamar
und Montabaur, Dir. d. dortigen Lehrerseminars. Lit.: Nassovica 1901/216.
Lüstner, Prof. Gustav, Biologe. *8.10.1869 Bad Ems-17.2.1947 Geisenheim, 2 Frauen, davon Elis. Birk, Vater Karl war Cellist, Mutter Emilie Dünkelberg; stud. Naturwissenschaft in München und Jena, seit 1897 Prof. Lehranstalt Geisenheim, schrieb Aufsätze zur Rheingauer Geschichte. Lit.: NA 1950/247; WK 22.2.1947 u. 8.10.1969.
Schmelzeis, Johann Philipp, Pfarrer und Heimatforscher. *7.2.1825 Rüdesheim-3.6.1895 in Lorch. Eltern unbekannt. 1848 Priesterweihe, Kaplan Kiedrich, 1864 Pfr. Eibingen, 1884 Rüdesheim, 1885 Wicker, 1886 Lorch. Schrieb Rüdesheimer Ortsgeschichte.
Stellwaag, Friedrich Ludwig, Dr. habil. Prof., Zoologe. *14.6.1886 Schwabach-25.3.1976 Ginsheim. Frau Hedwig Kittler; stud Naturwissenschaften in Erlangen und München, seit 1929 Prof. in Geisenheim, Mitbegründer der AG Rhg. Heimatforscher, schrieb über Heimatpflege im Rheingau.
Sternberg, Leo, Jurist und Dichter. *10.1876 Limburg-26.10.1937 Insel Hvar/Yug., Frau Eise Mönch, Rüdesheim, Vater Bernhard, Kfm., Mutter Marie Belmont aus Alzey; stud. jur. in München, Marburg und Berlin, Richter in Hadamar, Hechingen, Hachenburg, Wallmerod und Rüdesheim. Verfasste nass. Literaturgeschichte. Lit.: NA 1990/173.
Stramberg Christian, eigentlich Johann Christian Hermenegild Stramberger von Großburg, * 1783 Koblenz. Stud. Jura und Geschichte in Erlangen, Paris und Wien, lebte in Koblenz als Privatgelehrter. Mutter Nachfahrin von Nikolaus v. Cues, vererbte ihm große Güter an Rhein und Mosel, die bei der Revolution verloren gingen. Befreundet mit Levin Schücking. Verfasste in 26 Bänden den „Rheinischen Antiquarius" 1845. Lit.: J. Jundt, Der Rheingau 1954.
Vogt, Johannes Nikolaus (Niklas). *5.I2. 1756 Mainz-19.5.1836 Johannisberg, Vater Ignaz, Stadtrat, Mutter Maria Theresia Xaveria Deuerkauf, Frau Eva Margareta Pfeiffenbringg aus Mainz-Kastel. Schule bei Pfr. Müller, Geisenheim. 1772 Studium Mainz, Göttingen, Marburg, Gießen, 1783-1803 Prof. Geschichte Uni Mainz, 1793-96 Exil in Mainz, 1807 Senator in Frankfurt. Lit.: HJ. Peters, Biographie 1962.