Westerwald

Friedrich Wilhelm Raiffeisen und zeitgenössische Sozialreformer

Porträt von Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) aus einer Ausgabe der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ aus dem Jahr 1863

Bereits im Mittelalter bestanden neben den Zünften freiwillige Bruderschaften, die u. a. die Versorgung von Witwen und Waisen übernahmen. Auch gab es in verschiedenen Branchen vor der Mitte des 19. Jahrhunderts Genossenschaften, so in der Forst-, Deich- und Mühlenwirtschaft.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat also das Genossenschaftsprinzip nicht erfunden, aber parallel zu Hermann Schulze-Delitzsch auf ein neues Fundament gestellt. Beide gelten daher im deutschsprachigen Raum als die einflussreichsten Initiatoren von Genossenschaften – Raiffeisen für den ländlichen Raum, Schulze-Delitzsch für Handwerker und städtische Gebiete. Darüber hinaus trugen zahlreiche Vordenker zur Genossenschaftstheorie bei, wie Theodor von der Goltz und Viktor Aimé Huber, oder waren parallel zu ihnen in verwandten Feldern aktiv, wie Wilhelm Emmanuel von Ketteler oder Eduard Gotthilf Pfeiffer. Raiffeisen war kein Politiker oder Revolutionär, sondern ein Sozialreformer. Dies unterscheidet ihn beispielsweise von dem Trierer Zeitgenossen Karl Marx (1818 –1883) oder auch von Ferdinand Lassalle (1825 –1864).

Gründer und Mitarbeiter des Mayschosser Winzervereins, 1870. [Bild: Mayschoß-Altenahr eG]

Mitte des 19. Jahrhunderts waren Raiffeisen laut seinen Angaben keine Kredit- oder Vorschussvereine bekannt, sodass er seine Vorstellungen zunächst auf der Grundlage eigener Erfahrungen entwickelte. Am 15. Mai 1862 schrieb er an Schulze-Delitzsch und berichtete über seine Vereine und die Unterschiede ihrer Systeme. Raiffeisen setzte zu diesem Zeitpunkt noch auf die Unterstützung wohlhabender Bürger, berücksichtigte mit längeren Kreditlaufzeiten die landwirtschaftlichen Bedürfnisse und schloss eine staatliche Beteiligung am Genossenschaftswesen nicht aus. Zunehmend sah er jedoch mehr Nutzen in privaten Vereinen, da man ihm staatlicherseits wenig entgegenkam.

Titelblatt des Berichtes der „Enquête- Commission“ aus dem Jahr 1876.

Eine Antwort von Schulze-Delitzsch ist nicht überliefert. Statt seine Genossenschaften dem Anwaltschaftsverband von Schulze-Delitzsch anzuschließen, gründete Raiffeisen eigene Verbände.

Zwar wurde das Preußische Genossenschaftsgesetz von 1867 vom Abgeordneten Schulze-Delitzsch initiiert und berücksichtigte eher die Bedürfnisse seiner „Vorschußvereine“. Es schuf aber einen gesetzlichen Rahmen für die
gesamte Genossenschaftsbewegung. Die Phase vom Ende der 1860er-Jahre bis 1879 wird als „Systemstreit“ zwischen beiden Genossenschaftsgründern bezeichnet (zu den Streitfragen siehe die Infobox). Verschiedene Theoretiker pflichteten dem einen oder dem anderen bei. Bedeutende Förderer von Raiffeisens Darlehnskassen waren die Fürsten zu Wied und der Landwirtschaftliche Verein für Rheinpreußen. Mitte der 1870er-Jahre ließ der preußische Landwirtschaftsminister die Raiffeisen’schen Kassen von einer Enquetekommission überprüfen. Diese zeichnete insgesamt ein positives Bild der Darlehnskassen.