Liebfrauenkirche
Erstmals erwähnt wird eine Marienkirche im Jahr 1213. Die Anfänge reichen aber wohl weiter zurück. Zwei Achtecksäulen an den Treppenaufgängen des Lettners stammen wahrscheinlich aus der Entstehungszeit. Am 26.12.1258 erhob der Trierer Erzbischof Arnold II. von Isenburg die Marienkirche zu einem Kollegiatsstift. Patronatsherren waren zunächst die Ritter von Milewalt, von Pfaffenau und von Walbach, später auch die Herren von Leyen.
Im Jahr 1308 wurde mit dem Bau der heutigen Liebfrauenkirche begonnen (Inschrift eines verlorenen Glasgemäldes). Es ist ein verputzter, rot gestrichener Bruchsteinbau (deshalb wird sie auch rote Kirche genannt). Altar- und Chorweihe fanden 1331 statt (Urkunde). Als letzter Bauabschnitt wurde der Westturm kurz nach 1351 vollendet (dendrochronologische Datierung eines Zugankers im obersten quadratischen Turmgeschoss).
In seiner stereometrisch klaren Form bei bewusstem Verzicht auf jede Schmuckform ist das Haus einer der bedeutendsten Kirchenbauten hochgotischer Zeit in Deutschland.
Besonders hervorzuheben sind der Lettner, die Fresken mit Darstellungen von Schutzheiligen und ihren Kirchen und der Hochaltar von 1331 sowie die Altarbilder und die Orgel (2788 Pfeifen), die Grablegungsgruppe und die Grabdenkmäler.
Baubeschreibung nach Dehio:
Dreischiffige, querhauslose Basilika mit hoch aufragendem Mittelschiff und eingebautem Westturm, Seitenschiffe außen flach geschlossen, innen mit nicht ganz regelmäßigem 5/8-Schluss; Strebepfeiler wahrscheinlich in der Nachfolge der Bettelordensarchitektur konsequent nach innen gezogen (bis auf die der westlichen Turmecken), so dass aus dem streng geschlossenen, völlig gradlinigen Baukörper (Sakristei nicht zum ursprünglichen Plan gehörig) in der Horizontalen nur die über 5/8-Grundriss errichtete Hauptapsis und in der Senkrechten der Turm herausragen. Bewusste Fassadengestaltung der vier Hauptseiten: Steil aufragendes Chorhaupt (wegen des abfallenden Geländes über hohem Sockel) mit umlaufendem Kaffgesims, darüber die fünf schlanken, 18,50 m hohen Fenster mit dreiteiligem Maßwerk, in halber Höhe mit Dreipasssteg. Am Obergaden setzt sich die Fensterreihe in regelmäßiger Abfolge bis in die heute vermauerten Fenster des Turmes fort.
Starke Betonung der Horizontalen durch die Dächer und die aus langgestreckten Rechtecken gebildeten Flächen des Obergadens und der Seitenschiffe, die Mitte des südlichen durch ein vortretendes Portal mit barockem Giebel betont. Über den vier Außenecken der Seitenschiffe je ein vorkragendes Achtecktürmchen mit barocker Haube.
Einzelheiten zum Kirchenbau
Turm
Der Turm entwickelt sich ohne eigenen Unterbau aus dem Mittelschiff; die beiden ersten freiliegenden, quadratischen Geschosse reichen bis zur Firsthöhe des Mittelschiffdaches, darüber ein achtseitiges Geschoss mit nicht abgesetzten Giebeln und achtseitigem Helm, an den Diagonalseiten des Oktogons jeweils ein wiederum achtseitiges Türmchen; im Grunde das System von Freiburg, aber bei gänzlichem Verzicht auf Maßwerkschmuck durch strenge Proportionierung der glatten Wandflächen zum Großartig-Herben gesteigert.
Innenraum
Der Innenraum in großartiger Einseitigkeit als Hochraum entwickelt. Chor aus zwei Jochen und 5/8-Schluss von den Seitenchören durch Mauern getrennt; Dienste an den eingezogenen Strebepfeilern, nur in der Apsis bis auf Bodenhöhe heruntergezogen, sonst bis zum oberen Abschluss des Gestühls. An den Polygonseiten Nischen, darüber vor den Fenstern ein Laufgang, der die Streben durchbricht und sich über dem Gestühl zum Lettner fortsetzt. Auf das Mittelschiff als ununterbrochene Fortsetzung des Chores fallen drei Joche; zwei weitere, etwas schmalere bilden die durch eine Empore geteilte, sich sonst aber in voller Höhe öffnende Turmhalle. Arkadenpfeiler aus unregelmäßigen Sechsecken, die zum Mittelschiff vorgesetzten Strebepfeiler gehen in tiefe Schildbögen über, so daß die Hochwände in Nischen liegen; das gleiche an den Außenmauern im Innern der Seitenschiffe; die Scheidbögen ungegliedert und kämpferlos. Die außen flach schließenden Seitenschiffe innen als unregelmäßige Polygone (bedingt durch die in den äußeren Ecken befindlichen Treppentürme) gestaltet. Das Maßwerk der Fenster oberrheinischem eng verwandt, vor allem dem Oktogonfenster am Freiburger Münsterturm. Das im ganzen Kirchenraum einheitliche Kreuzrippengewölbe im Langhaus und an den Seitenschiffen auf Konsolen.
Überaus bezeichnend sind die Proportionen: Mittelschiff im Lichten ungefähr ein Drittel der Gesamtbreite; Mittelschiffsbreite (9 m): Höhe des Gewölbeansatzes (Kämpferzone): Höhe des Gewölbescheitels (25 m) = 1:2:2,8; dagegen die Seitenschiffe (Breite: Höhe des Gewölbeansatzes = 1:2) gelagerte Räume, die in spannungsvollem Kontrast zum Mittelschiff stehen.
Wandmalereien
Ausgedehnter Zyklus (aber ohne einheitliches Programm) an den Mittelschiffspfeilern, größtenteils erstes Drittel 16. Jahrhundert; unter den ungefähr lebensgroß dargestellten Heiligenbildern sind hervorzuheben: die Darstellung des hl. Kastor mit dem Odell seiner Koblenzer Titelkirche und dem Stadtbild im Hintergrund; der hl. Martin mit der Oberweseler Martinskirche; der hl.Goar mit seiner Kirche, die hl.Ursula mit dem Kölner Stadtbild.
Überaus reiche Ausstattung, obwohl bei den Restaurierungen von 1842-44 und 1895-97 vieles z.T. zerstört und verschleudert wurde; unter dem Erhaltenen aber noch Stücke von einzigartigem Wert.
Hochaltarretabel/Chor
Dass es bei der Chorweihe 1333 fertig war, ist zwar nicht notwendig, nach dem stilistischen Befund aber anzunehmen. Eines der ältesten ausgebildeten und kostbarsten Flügel- und Schreinretabeln Deutschlands. Der Schrein 2,45 m hoch, geöffnet 6,50 m breit. Gegliedert durch eine zweigeschossige Pfeiler- und Bogenstellung, die in feinster und reichster Holzschnitzerei die Formen der hochgotischen Großarchitektur benutzt; allein die prächtigen Rosen unter den Wimpergen der oberen Arkadenreihe zeigen acht verschiedene Formen auf der Grundlage des Straßburger Formengutes mit engen Beziehungen zur Oppenheimer Katharinenkirche; im Schrein sieben, auf den Flügeln dreieinhalb Achsen. Die Plastik beschränkt sich in strenger Unterordnung unter das architektonische System auf Einzelfiguren (in der unteren Reihe 30 cm, in der oberen 45 cm hoch), die einen Zyklus des Erlösungswerkes darstellen, mit dem Sündenfall beginnend und der Krönung Mariens im Kreise der Apostel und Märtyrer endend. Die Figuren der oberen Reihe sind fraglos von anderer Hand als die der unteren, diese mehr im oberrheinischen Stil, jene mit Beziehungen zu Köln, beide aber gleichzeitig. Einzelne Figuren fehlen oder sind ergänzt. Die kleinen Nischen zuunterst für Reliquien. Eine Predella ist nicht vorhanden. Auf den Außenflügeln Temperabilder, 1974/75 restauriert: unter Arkaden in zwei Reihen Apostel und Heilige (über den barocken Aufbau s.u.; auch das neugotische Baldachinwerk von 1895 in purifizierendem Eifer entfernt).
Aus derselben Werkstatt das Chorgestühl (jetzt teilweise in den Seitenchören) mit hervorragender figürlicher Plastik an den Wangen.
Ferner im Chor: auf der Südseite Grablegung Christi, der Sockel mit Kleeblattbogenblenden und der Baldachin um 1500. Die Holzbildwerke vielleicht von einem im Lütticher Raum geschulten Meister, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Gegenüber auf der Nordseite turmförmiges Sakramentshaus, am Gitter kleine zinnerne Wappenschilde (Reichsadler und böhmischer Löwe. Hinweis auf Karl IV. 1347-78?). Daneben Votivrelief Valentin Schonagels, 1524, in einer muschelbekrönten Renaissancenische stehende Muttergottes, vor der ein Stifter kniet, vorzügliche Arbeit eines Schülers Hans Backoffens.
Lettner
Die Bühne auf einer gewölbten siebenjochigen Laube, getragen von überaus dünnen Säulen auf achtseitigen hohen Sockeln in rhythmisch wechselnden Abständen; die Bögen mit offenem, die Zwickel mit vorgeblendetem Maßwerk ausgesetzt; zwei Reihen von Statuetten, über den Säulen vier Evangelisten, die ihre Symbole in den Händen halten, die obere Reihe an der Brüstung verloren. Die Rückwand ist ähnlich behandelt; sie ist in zwei fensterartig aufgelöste Schalen zerlegt, zwischen ihnen gerade Treppenaufgänge; die mittlere Öffnung besitzt prächtig geschnitzte, wohl neugotische Türflügel; zu den Seiten je ein Altar. „Das ganze ein Wunder der Materialbeherrschung und des Erfindungsreichtums, zierlich und zart in der Empfindung, die genaue Geometrie des Zirkelschlags strömt eine Art geheimer Musik aus" (Dehio). Seitlich setzte sich der Lettner als Abschluss der Nebenchöre in Gittern aus Stein und Eisen fort, sie wurden bei der Restaurierung im 19. Jahrhundert beseitigt.
Altarretabel
Drei von derselben Hand gemalt mit guter Beobachtung des Figürlichen und Landschaftlichen; jedes mit dem Bilde des Stifters, des Chorherrn Lutern (sein Grabmal s.u..); das erste im südlichen Chor, 1503. Christus mit den Aposteln zu Tisch bei Maria und Martha, in freier Anlehnung an das Abendmahlsbild von Dirk Bouts in Löwen, im Hintergrund der Turm der Liebfrauenkirche, der Ochsenturm und die Schönburg; auf den Flügeln innen Heilige, außen Kreuzigung und Beweinung.
Das zweite vom Nikolausaltar, heute im nördlichen Chor, 1506, oben Legende des Heiligen, unten ein Schiff mit Menschen aller Stände gefüllt, beschützt vom Heiligen, dem Patron der Schiffer; auf den Flügeln Heilige, auf der Predella Christus mit den Aposteln.
Das dritte im nördlichen Seitenschiff mit fünfzehn Bildern, die letzten fünfzehn Tage der Welt darstellend, nach Hieronymus, dessen ,,Autorenbildnis" oben links dargestellt ist.
Ferner im Westen des südlichen Seitenschiffes Retabel, ehemals in St. Martin, mit gemalten Flügeln (Begegnung an der Goldenen Pforte, Heimsuchung, Heilige), in der Mitte teilweise vollplastische Darstellung der Anbetung Christi wohl von einem in Worms geschulten Meister um 1480.
Im südlichen Seitenschiff reizvolles Triptychon, angeblich aus der Kapelle der Schönburg, thronende Muttergottes umgeben von Heiligen in Art einer heiligen Sippe, auf den Flügeln hl. Ursula mit Schutzmantel und Marter der Zehntausend, außen Kreuzigung; von einem oberrheinisch (Umkreis Meister des Frankfurter Paradiesgärtchens) beeinflussten Maler des frühen 15. Jahrhunderts.
Ehem. barocker Hochaltaraufsatz
Über dem gotischen Retabel wurde 1625 ein vortrefflich in den Raum komponierter Barockaufbau errichtet. 1895 in puristischem Eifer aus der Kirche entfernt, 1924 zurückgebracht und im Westen des nördlichen Seitenschiffes aufgestellt. Mehrgeschossige Säulenarchitektur mit vollrunden Figuren (Muttergottes, Apostel, Kreuzigung).
Sonstige Ausstattung:
Gotisches Taufbecken in romanischem Typ, sechseckig mit Spitzbogenkranz, Säulen und Basen erneuert. - Drei steinerne Weihwasserbecken aus der Erbauungszeit. - Gnadenstuhl mit zwei Heiligen unter Baldachin, ländlich, wohl schon 3.Viertel des 15. Jahrhunderts (nördliches Seitenschiff). - HI.Georg 2.Viertel 15. Jahrhundert; kreuztragender Christus, 2. Viertel des 15. Jahrhunderts (nördlicher Nebenchor). - Orgel, 1740-45 von dem Schlesier Franz Joseph Eberhardt.
In der Sakristei: Steinerner gotischer Tischaltar; schmiedeeisernes Stehpult, 15. Jahrhundert; Ziborien, Kelche, Monstranzen (darunter eine von Nikolaus Wilmers, Koblenz, 1754), Anfang 18. Jahrhundert bis 1773.
Am Äußeren der Kirche zwei hervorragende Muttergottesstatuen, jede ein charakteristisches Werk ihrer Zeit; die am Chorhaupt in Baldachinnische um 1330, in der typisch geschwungenen Haltung einer mittelrheinischen (?) Variante oberrheinischer Bildwerke wie die Innenportalmadonna des Freiburger Münsters (vgl. Boppard, Karmeliterkirche); die andere am Südportal in ihrer kräftigeren Art ein Werk der Parlerzeit, der 1356 datierten Augsburger Madonna geschwisterlich verwandt.
Grabdenkmäler
Im nördlichen Nebenchor fünf figürliche Grabsteine der Familie von Schönburg: der älteste von 1387 mit eingeritzten Figuren eines Ehepaares, nur die Gesichter in Flachrelief; der zweite von 1555 mit ganzfigurigem Reliefbildnis in reicher Renaissanceädikula; die drei letzten von 1601, 1606 und 1608, sicherlich von einer Hand ausgeführt, mit ganz- und halbfigurigen Bildnissen.
In der südlichen Apsis zwei Bildnissteine der Dechanten Johannes (gest. 1336), unter dem der Chor erbaut wurde, und Hartmann von Landsberg (gest. 1339). Im nördlichen Seitenschiff Epitaph Wilhelma Lorbecher (gest. 1601) mit Hl. Dreifaltigkeit.
An der Westwand des südlichen Seitenschiffs Epitaph des Kanonikers Peter Lutern (gest. 1515), unverkennbar von der Hand des Mainzer Bildhauers Hans Backoffen, in der schlichten Charakteristik der Bildnisfigur ein Meisterwerk ersten Ranges.
Am dritten nördlichen Mittelschiffpfeiler (von Westen) Epitaph für Ludwig von Ottenstein und seine Gemahlin Elisabeth, geb. Freiin von Sehwarzenburg, das Todesdatum der Frau (1520) wohl auch Datum der Entstehung; sehr an Hans Backoffen erinnernd, doch nicht von ihm selbst, sondern von einem sehr begabten Schüler; der barocke Zug Backoffens tritt zurück zu Gunsten eines Strebens nach Idealität mit leichtem Anklang an italienische Hochrenaissance. ,,Das einzigartige Werk stellt ein Menschentum von schlichter Größe hin; ein auf neuem Lebensgefühl beruhendes Selbstbewusstsein und tiefe Verpflichtung halten sich die Waage“.
Ehem. Stiftsgebäude
Von den ehem. Stiftsgebäuden sind erhalten die Außenmauern des Konventsaals an der Westseite der Kirche und sieben Achsen des an die Nordseite anstoßenden spätgotischen, größtenteils netzgewölbten Kreuzgangflügels mit einer Anzahl von Grabsteinen des 14. bis 17. Jahrhunderts, die zwar abgetreten oder verwittert, für die Geschichte dieser Gattung am Mittelrhein aber dennoch beachtenswert sind.
Quelle (Text und Bilder): Dehio, Georg: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Rheinland-Pfalz Saarland. Bearb. von Hans Caspary u.a. Darmstadt 1985; Krämer; Schwarz, Anton Ph.: Eine Zeitreise durch Oberwesel. Historischer Stadtführer. Hrsg. vom Bauverein Historische Stadt Oberwesel. 2000; Klockner, Werner (Fotos): Die Kirche unserer Lieben Frau zu Oberwesel. Texte von Anton Ph. Schwarz. Hrsg. v. Katholischen Pfarramt Liebfrauen und St. Martin. Oberwesel 2001; Imhof-Verlag; Redakt. Bearb. S.G.