Zum „Gasmaskenball“ nach Verdun
„Ein Jahr im Felde“ – steht auf der Feldpostkarte vom 31. Juli 1915. Ein Gruß des Volksschullehrers Robert Eichberger (1887-1971) aus dem fernen Frankreich an seine Verlobte Barbara in Armsheim. Ein Jahr im Felde und kein Ende des Krieges in Sicht. Dabei hatte das junge 20. Jahrhundert für den Lehrer zunächst recht vielversprechend begonnen.
Robert Eichberger besuchte als Großbürgersohn erfolgreich das Real-Progymnasium in Seligenstadt und entschied sich, wie auch sein älterer Bruder Rudolf, für den Beruf des Lehrers. Nach seinem Studium in Gießen und dem einjährigen freiwilligen Militärdienst (01.10.1910-30.09.1911) bei dem 2. Nassauischen Infanterie Regiment 88, 7. Kompanie, war Robert Eichberger als Volksschullehrer in verschiedenen Gemeinden in Rheinhessen tätig. Die pädagogische Arbeit mit Kindern gefiel ihm und auch mehrmalige Umzüge störten ihn wenig. Schließlich wurde er in die beschauliche Gemeinde Armsheim versetzt. Dort machte er die Bekanntschaft mit der Kaufmannstochter Barbara Emrich (1893-1926). Die beiden jungen Leute verliebten sich ineinander. Doch das große politische Weltgeschehen stellte sich ihnen mit aller Macht in den Weg.
Nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie am 28. Juni 1914 im fernen Sarajewo, manövrierte sich Deutschland durch seine Bündnisse in eine Katastrophe hinein, deren Ausmaß alles bisher da gewesene übertraf. Am 1. August erklärte Deutschland Russland und zwei Tage später Frankreich den Krieg.[Anm. 1]
Statt seine Braut zum Altar zu führen, wurde Robert direkt als Offiziersstellvertreter eingezogen. Bereits am 16. August wurde der zum damaligen Zeitpunkt 27 Jahre alte Lehrer an die Front nach Frankreich geschickt. Tausende von Eisenbahnzügen rollten an die Westfront. Eichberger gehörte durch seinen Militärdienst dem 2. Nassauischen Infanterieregiment Nr. 88 der Reserve an. Mit dem Brigade Ersatz Bataillon 50, 3. Kompanie fuhr er per Reichsbahn von der Garnisonsstadt Mainz in die Gegend um Saarburg an der Mosel. Dort in der Nähe verläuft bis heute die Landesgrenze zu Luxemburg. Die Soldaten passierten zu Fuß die Grenze. Von Luxemburg aus marschierten sie Richtung Belgien. Das Deutsche Reich brach mit seinem Einmarsch in Belgien das Völkerrecht, sodass es zu blutigen Auseinandersetzungen kam. Von Belgien aus rückten die deutschen Streitkräfte nach Frankreich vor.[Anm. 2] Bis zum 17. August war der zweiwöchige Aufmarsch des deutschen Feldheeres abgeschlossen.[Anm. 3]
Am 20. August befand sich Eichberger in Lothringen, im Umland von Metz. Von dort bewegte sich sein Regiment, das immer wieder in Kampfhandlungen verwickelt wurde, langsam weiter westwärts, entlang der Frontlinie zwischen den beiden Städten Nancy und Metz in Richtung Verdun. Das Wetter war wechselhaft und oft regnerisch.[Anm. 4] Robert Eichberger bekleidete als Offiziersstellvertreter den Rang eines Offiziers. Aufgrund seiner Stellung konnte er den Kriegsalltag mit größtenteils selbst aufgenommenen Fotos bildlich festhalten. Er überlieferte uns über 200 schwarzweiße und sepiafarbene Fotografien sowie zahlreiche Feldpostkarten an seine Familie. Dass es ihm gelang, die Bilder durch die Kriegswirren und die anschließende Kriegsgefangenschaft zu retten, grenzt an ein Wunder. Eine Auswahl dieser Fotos soll einen kleinen Einblick in den Kriegsalltag und die damaligen Lebensumstände im 1. Weltkrieg gewähren, jenseits von Glanz und Gloria. In seinen Gedanken weilte der Fotograf oft bei seiner Verlobten Barbara in Armsheim. Am 30. August 1914 gratulierte er ihr per Postkarte herzlich zu ihrem 21. Geburtstag und wünschte sich, dass sie diesen Tag zusammen verbringen könnten. Auf einer zweiten Karte vom gleichen Tag berichtete er voller Begeisterung von einem „erhebenden“ und „zu Herzen gehenden Festgottesdienst“ in Raucourt.[Anm. 5] Mit spürbarer Aufregung fuhr er fort: Jederzeit könnten sie „zum Kampfe gerufen werden“.
Die Schlacht an der Marne im September 1914 endete für Deutschland mit einem absoluten Desaster. Zu dieser Zeit war Eichbergers Regiment in der Nähe der französischen Gemeinde Attilloncourt bei Pont-a-Mousson. Es gab unzählige Gefechte. Die umliegenden Ortschaften wie Fossieux bei Nomeny oder Thiaucourt wurden, wie viele andere französische Orte, durch die Kämpfe verwüstet. So schrieb Eichberger im September, vollkommen ernüchtert durch die blutigen Auseinandersetzungen, per Feldpostkarte an seine Braut:
„Liebe Barbara! Warum so schweigsam? Warte sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen… Lebe noch und bin gesund, die Hauptsache. Mancher musste wieder daran glauben…“
Die Armee kam sehr langsam vorwärts. Nach dem Vorrücken kam das Zurückweichen. Ein nervenaufreibendes Vor und Zurück begann. Schließlich blieben die Soldaten monatelang in dem Gebiet um St. Mihiel. Die Lebensumstände machten den Soldaten schwer zu schaffen. Sie lagerten in primitiven Stützpunkten mit katastrophalen hygienischen Bedingungen, manchmal in Waldlagern. Die Soldaten mussten deshalb gegen Typhus geimpft werden. Diese durch Bakterien hervorgerufene Infektionskrankheit, die mit Fieberschüben einhergeht, wird meist durch verunreinigte Nahrungsmittel und verschmutztes Wasser ausgelöst. Unbehandelt kann die Krankheit tödlich verlaufen.[Anm. 6]
Der Bewegungskampf erlahmte und erstarrte schließlich vollständig. Die Truppen gruben sich ein. So schrieb Robert in einer Feldpostkarte vom 22.Juli 1915 an seine Braut:
„Liebes Babettchen,…bleiben hier in Frankreich im Stellungskampf. Soll besser sein als bei Assenoncourt…“
Doch die Situation sollte sich für die Soldaten nicht verbessern. Um jeden Meter Land wurde brutal gerungen. Es entstand ein ausgeklügeltes System von Kampfgräben, Rückzugslinien, Stollen und Bunkern.[Anm. 7] Eichberger hielt mit seinem Fotoapparat den kräftezehrenden Stollenbau mit Schippe und Bickel fest. Die Soldaten mussten in ihren Uniformen harte körperliche Arbeiten verrichten.
Die Situation in den Gräben war eine wahre Hölle. Regen und eindringendes Grundwasser mussten immer wieder abgepumpt werden. Trotzdem wateten die Soldaten oftmals im Schlamm. Es wimmelte in den Gräben von Ratten. Zu diesen fürchterlichen Lebensumständen kamen die immer wieder aufflammenden Kämpfe mit ihrem ohrenbetäubenden Kanonendonner, manchmal rund um die Uhr. An Schlaf war oft nicht zu denken. Am 3. Mai 1915 erhielt Eichberger das Allgemeine Ehrenzeichen mit der Inschrift für Tapferkeit. Im Juli wurde er versetzt und der 11. Kompanie des Infanterie Regiments Nr. 358 zugeleitet. Bald darauf, im Dezember, wurde ihm das Eiserne Kreuz 2. Klasse verliehen.
Seiner Braut und deren Familie sandte er, so oft es ging, ein paar kurze Zeilen per Feldpostkarte. Meist nur liebe Grüße und Beteuerungen, dass es ihm gut gehe und sie sich keine Sorgen machen müssten. Was hätte er auch sonst berichten können? Die Wahrheit konnte er seiner Verlobten nicht schreiben. Jeder bei Verdun kämpfende Soldat zählte eher zu den Toten als zu den Lebenden. Wenn man Robert selbst auf Fotos betrachtet, ist ihm diese Belastung deutlich anzumerken. Sein Blick ist nachdenklich und meist irgendwo in die Ferne gerichtet. Mit Humor versuchte er die persönlichen Entbehrungen und die ausweglose Situation für sich erträglicher zu machen. So nennt er beispielsweise einen Aufmarsch der Soldaten mit Gasmasken scherzhaft „Gasmaskenball“.
Besonders beschäftigten Eichberger die Verwüstungen, die der Krieg anrichtete. Kirchenruinen tauchen immer wieder wie Mahnmahle in ganzen Bilderserien auf. Am Pfingstmontag 1916 fotografierte der Lehrer den Innenraum der Kirche Montsec. Hinter dem Altar klafft ein riesiges Loch in der Mauer, durch das man die Bäume sehen kann. Es scheint grotesk, trotz der immensen Zerstörung wirkt das Bild nicht abstoßend und erschreckend, sondern durch das einfallende strahlende Licht eher ruhig und freundlich. Die Helligkeit hinter dem Altar scheint alles Bedrohliche fast zu überdecken.
Trotz dieser infernalischen Umstände um ihn herum war Eichberger noch in der Lage, kurze Momente des „Friedens“ wahrzunehmen und sie mit seiner Kamera einzufangen. Auf seinen Fotos kann man Männer Karten spielen sehen, ein Soldat hat sich aus einer Zigarrenkiste eine Geige gebaut. Der Kompaniekoch und sein Gehilfe lachen herüber. Das Essen ist fertig – die Gulaschkanone steht bereit.
Es gibt auch Bilder, die friedliche Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung dokumentieren, beispielsweise mit einem älteren französischen Ehepaar. Vielleicht war Eichberger dort einquartiert. Man sieht im Vordergrund drei volle Gläser und eine Flasche auf einem runden Tisch, an dem das Paar sitzt. Hinter den beiden Eheleuten steht Robert. Beide Männer rauchen Zigarren. Eichberger hat seine linke Hand freundschaftlich locker auf die Schulter des Mannes gelegt. Die Frau lächelt in die Kamera. Es existieren auch Aufnahmen von französischen Landschaften, Herrenhäusern und Schlössern sowie von unterschiedlichen Tieren. Manchmal ist Eichberger selbst mit einer Katze auf dem Arm zu sehen.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Kriegshandlungen in einem Waldstück, das Eichberger in seinen Aufzeichnungen den „Priesterwald“ nennt. In einer kurzen Fotoserie zeigte er ein völlig zerstörtes Waldgebiet, in dem nur noch Baumstümpfe stehen. In der Regimentsgeschichte heißt es über Waldkämpfe: „Im Wald selbst war es kaum zum Aushalten, da Bäume von 20-30 Zentimeter Durchmesser von der feindlichen Artillerie abgefegt wurden.“[Anm. 8]
Robert Eichberger schreibt zu den Fotos: „Eine Eigentümlichkeit der Priesterwaldtruppen: Helme ohne Spitzen, weil die Spitzen bei der Nähe des Feindes den Mann verraten.“ Die feindlichen Truppen waren zum Greifen nahe. Die „Pickelhauben“ hatte somit ausgedient. Es ist historisch belegt, dass 1916 erstmals spitzenlose Stahlhelme ausgegeben wurden.[Anm. 9]
Während Barbara und ihre Mutter daheim versuchten, die Armee mit Näharbeiten zu unterstützen, rückte Robert mit seiner Kompanie immer näher an Verdun heran. Es gab unzählige Opfer, ohne nennenswerte Geländegewinne. Trotzdem bildete er nur wenige Verwundeten ab und keinen einzigen Toten – dafür Friedhöfe und Beerdigungen. Die Fotodokumentation endet mit einem Aussichtsposten vor Verdun. Ab diesem Zeitpunkt gibt es keine Kriegsfotos mehr. Ob sie vernichtet wurden, oder ob Robert vielleicht nicht mehr in der Lage war zu dokumentieren, muss ungeklärt bleiben.
Ende Mai 1916 kämpfte fast eine Million Soldaten auf dem Schlachtfeld von Verdun. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Verdun-Kämpfers betrug damals weniger als dreißig Tage. In den Gräben stand das Wasser zum Teil kniehoch. Beißender Leichengeruch lag in der Luft. Läuse, Ratten und Ausschläge plagten die Soldaten.[Anm. 10] Die Deformierungen der Landschaft um Verdun sind auch heute nach rund hundert Jahren noch sichtbar. Allein im Inferno um Verdun starben rund 150.000 Deutsche und 167.000 Franzosen.[Anm. 11]Der 1. Weltkrieg forderte insgesamt ca. 17 Millionen Opfer – 10 Millionen Soldaten und 7 Millionen Zivilisten.[Anm. 12] Europa war zu einem gigantischen Friedhof geworden. Eichberger geriet am 26. September 1916 bei Rancourt an der Somme in französische Kriegsgefangenschaft. Dieses Ereignis rettete ihm vermutlich das Leben in dieser ausweglosen Situation. Er wurde als Kriegsgefangener Nr. 1780 auf die Insel Île de Ré an der französischen Westküste deportiert. Seltsamerweise gibt es von dieser Zeit einige wenige Fotoaufnahmen.
Während seiner Odyssee in Frankreich an der Front und seiner späteren Kriegsgefangenschaft wurde Eichberger durch Briefe und Postkarten über die Vorgänge daheim auf dem Laufenden gehalten. So wusste er auch von dem angegriffenen Gesundheitszustand seines Vaters Theodor. Barbara war inzwischen zu Roberts Familie gereist, um bei der Pflege des zukünftigen Schwiegervaters zu helfen. Robert war sehr in Sorge um seinen Vater und schrieb aus der Kriegsgefangenschaft von St. Martin auf Île de Ré am 13. Mai 1917 an Barbara:
„Geliebtes Mädel! Am 08. Mai deine Karte vom 16. April erhalten, vielen Dank. Ich bin Mutter und Dir sehr dankbar, daß ihr so handelt, aber wird er (der Vater) noch durchhalten bis ich wiederkomme? Seine lange Krankheit beunruhigt mich sehr. Da ist nicht mehr viel zu hoffen, wenn er nicht kräftig genährt werden kann. Tue bitte was Du kannst…Dich grüße und küsse ich von Herzen… Dein Robert.“
Die Hoffnung auf ein Wiedersehen erfüllte sich nicht. Sein Vater Theodor Eichberger (1835-1917), ein angesehener Mainzer und Seligenstädter Kaufmann, Bildhauer und Schriftsteller, war bereits am 03. Mai 1917 verstorben.
Erst nach fast dreieinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft durfte der Lehrer am 31. Januar 1920 zu seiner Verlobten Barbara heimkehren. Fast sechs Jahre war er fort gewesen.
Im Frühling, am 3. April 1920, konnte in Armsheim endlich die lang ersehnte Hochzeit gefeiert werden. Roberts und Barbaras Leben schien eine positive Wendung zu erfahren, als der erste Sohn Heinrich geboren wurde. Doch das Glück war nur ein kurzer Gast. Dem Paar waren nur wenige schöne Jahre vergönnt. Bereits 1926 verstarb Barbara kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes Theodor. Auch in den folgenden Jahren wendete sich das Blatt nicht. Sein Schwiegervater Emrich und der erstgeborene Sohn Heinrich kamen im 2. Weltkrieg ums Leben. Robert Eichberger arbeitete trotz aller Schicksalsschläge weiter als Lehrer und wurde bald nach dem 2. Weltkrieg Bürgermeister von Armsheim. Er starb am 26. April 1971 im 85. Lebensjahr.
Verfasser: Marc Amstad
erstellt am: 20.11.2015
Quellen:
Alle hier abgebildeten Fotos sind der Teil der Fotodokumentation und befinden sich im Privatbesitz des Autors. Als weitere Quellen wurden Feldpostkarten und Unterlagen der Familie Eichberger aus Armsheim herangeszogen.
Literatur:
- Clark, Christopher, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München ²2013.
- Knopp, Guido, Weltenbrand, München 2012.
- Michel, Alexander, Allgemeine Zeitung vom 28.06.2014, Artikel: Vor 100 Jahren: Wie die Welt in einen Krieg taumelte.
- Piekalkiewicz, Janusz, Der 1. Weltkrieg, Augsburg 1995.
- Rogge, Walter, Das Königlich Preußische 2. Nassauische Infanterie-Regiment Nr. 88, Berlin 1936.
Anmerkungen:
- Knopp, Guido, Weltenbrand, München 2012, S.23-26. Zurück
- Rogge, Walter, Das Königlich Preußische 2. Nassauische Infanterie-Regiment Nr. 88, Berlin 1936, S. 52. Zurück
- Piekalkiewicz, Janusz, Der 1. Weltkrieg, Augsburg 1995, S. 55. Zurück
- Rogge, Walter, Das Königlich Preußische 2. Nassauische Infanterie-Regiment Nr. 88, Berlin 1936, S. 86. Zurück
- Der Festgottesdienst wird auch in der Regimentsgeschichte von Walter Rogge erwähnt, S. 92. Zurück
- Artikel Typhus, in Wikipedia, Abruf am 1.10.2015. Zurück
- Knopp, Guido, Weltenbrand, München 2012, S. 36. Zurück
- Rogge, Walter, Das Königlich Preußische 2. Nassauische Infanterie-Regiment Nr. 88, Berlin 1936, S. 75. Zurück
- Knopp, Guido, Weltenbrand, München 2012, S. 45. Zurück
- Knopp, Guido, Weltenbrand, München 2012, S. 54. Zurück
- Michel, Alexander, Allgemeine Zeitung vom 28.06.2014, Artikel: Vor 100 Jahren: Wie die Welt in einen Krieg taumelte. Zurück
- Allgemeine Zeitung vom 28.06.2014, Artikel: Vor 100 Jahren: Wie die Welt in einen Krieg taumelte. Zurück