Ein Hamelner Pfründenstreit im Spiegel eines juristischen Gutachtens
von Dieter Brosius
Wer sich mit nur begrenzten Kenntnissen des kurialen Geschäftsgangs und der ihm zugrunde liegenden Kanzleiregeln und kirchenrechtlichen Bestimmungen zum ersten Mal intensiv mit dem Repertorium Germanicum befasst, der wird mit Erstaunen feststellen, dass es in nicht geringer Zahl Einträge gibt, die einander zu widersprechen scheinen: etwa wenn der Papst mit einer und derselben Pfründe zwei oder gar drei Supplikanten providiert, womöglich sogar unter dem gleichen Datum, oder wenn in einem an die Kurie getragenen Pfründenstreit beide Kontrahenten in kurzem Abstand jeweils ein für sich günstiges Urteil davontragen. Wie solche scheinbar unvereinbaren, die Weisheit der Kurie in Frage stellenden Rechtsakte zustande kommen und wie sie aus dem System der päpstlichen Rechtsprechung zu erklären sind, das hat Ernst Pitz vor drei Jahrzehnten überzeugend dargelegt[Anm. 1] – und die Jubilarin hat in ihren einschlägigen Veröffentlichungen viele eindrucksvolle Beispiele dafür angeführt.
Wie Pitz gezeigt hat, sind bei der Konkurrenz von zwei oder mehr Suppliken, die dem gleichen Ziel dienen, von mitentscheidender Bedeutung für den Erfolg die so genannten Klauseln, zusätzliche Bitten, die der Supplik angehängt und vom Papst – oder in dessen Vertretung vom Vizekanzler – genehmigt oder verworfen werden.[Anm. 2] Mit ihnen möchte der Supplikant entweder von Bestimmungen dispensiert werden, die dem erstrebten Pfründengewinn kirchenrechtlich entgegenstehen, oder Prärogativen erlangen, die seine Rechtsposition gegenüber etwaigen Konkurrenten stärken und ihm selbst damit einen Vorteil verschaffen. Den gleichen Effekt konnte man mit einer zweiten, nachgeschobenen Supplik erzielen, welche die Bitte um Dispens oder um einen die Pfründenkarriere fördernden Gnadenerweis enthielt.
Dass man mit seinem auf solche Weise errungenen Rechtsanspruch vor Ort, bei dem Kollator der erstrebten Pfründe, aber auch durchdrang, war keineswegs sicher. Wenn ein Mitbewerber auftrat, der die Unterstützung sei es des Kollators selbst, sei es eines lokalen oder regionalen Machthabers genoss, dann nützte es oft wenig, daß man ein dem Buchstaben nach besseres Recht besaß. Und sogar dann, wenn jede Einwirkung von außen unterblieb und für die Vergabe allein das kirchliche Recht zugrunde gelegt wurde, hatte der vom Papst Meistbegünstigte noch nicht die Garantie, daß er zum Zuge kam. Denn in Extremfällen ergab die scheinbare oder tatsächliche Widersprüchlichkeit der von den konkurrierenden Bewerbern vorgelegten Provisionen und Expektanzen, der Dispense und Prärogativen ein so verwirrendes Bild, daß der Kollator sich nicht im Stande sah, eine Entscheidung zu treffen. Und selbst wenn daraufhin der Klageweg an die römische Kurie beschritten wurde, dann konnte es geschehen, daß der vom Papst mit der Untersuchung beauftragte Auditor die Pfründe dem Kläger, ein anderer nach einer Appellation sie aber dem Beklagten zusprach – ein Beleg dafür, daß auch hoher juristischer Sachverstand bisweilen nicht in der Lage war, in einem komplizierten Fall eine eindeutige und unanfechtbare Lösung zu finden.
Ein weiteres Beispiel für eine fast unentwirrbare Gemengelage von Rechten und Ansprüchen auf ein offenbar einträgliches Benefiz soll hier vorgestellt werden. Aus den Registereinträgen des Vatikanischen Archivs allein wäre der Fall nicht zu rekonstruieren gewesen, zumal lokale Quellen gänzlich darüber schweigen. Überliefert ist er jedoch in einem Gutachten, das einer der angesehensten Kirchenrechtslehrer seiner Zeit, der Professor in Florenz und Padua und spätere Kardinal Francesco Zabarella, dazu angefertigt und für wert befunden hat, in die Sammlung seiner "Consilia" aufgenommen zu werden.[Anm. 3]
Am Kanonikerstift St. Bonifatii in Hameln waren um 1395 – das genaue Datum ist nicht bekannt – durch den Tod des Konrad von Brocke (auch: de Broechem) ein Kanonikat und eine Großpräbende (maior prebenda) vakant geworden. Da der Todesfall außerhalb der römischen Kurie eingetreten war, hatte diese keinen direkten Zugriff auf die Pfründe; die Wiederbesetzung war dem freien Spiel der Kräfte überlassen.
Drei Bewerber versuchten, die sich bietende Gelegenheit zur Vermehrung ihres Pfründenbesitzes zu nutzen. Am raschesten – das genaue Datum wird nicht genannt - konnte verständlicherweise der Dekan des Hamelner Stifts agieren, Heinrich Corrigiatoris, von 1393 bis zu seinem Tod am 18. Juni 1423 in diesem Amt bezeugt. Warum er sein Augenmerk auf die Präbende richtete, ob sie besser ausgestattet war als die mit seinem Dekanat verbundene oder ob er sie zusätzlich in seinen Besitz bringen wollte, läßt sich nicht ergründen. Corrigiatoris, von Haus aus Hildesheimer Kleriker, hatte bereits Erfahrungen im Sammeln von Pfründen. 1391 erlangte er von Bonifaz IX. eine Expektanz auf ein vom Goslarer Stift St. Simon und Juda zu vergebendes Benefiz; zu diesem Zeitpunkt besaß er schon eine Anwartschaft auf ein Benefi z des Hildesheimer Domkapitels.[Anm. 4] 1398 war er Inhaber einer Vikarie am Dom zu Magdeburg, stritt um den Besitz eines Kanonikats des genannten Goslarer Stifts und ließ sich zusätzlich mit einer Vikarie an der Kirche St. Silvestri in Halberstadt providieren.[Anm. 5] Ein Jahr später führte er einen Prozeß um Kanonikat und Präbende am Hildesheimer Kreuzstift.[Anm. 6]
Am gleichen Tag wie Corrigiatoris, nur später als dieser, erhob auch Heinrich Botzman (Boyceman, bei Zabarella in der verballhornten Form Boesinanus oder Boesnanus), auch er Hildesheimer Kleriker,[Anm. 7] Ansprüche auf das Hamelner Kanonikat. Er war Inhaber der Pfarrkirche im benachbarten Münder (heute: Bad Münder) und war im Jahr 1400 mit Kanonikat und Präbende an der Hildesheimer Domkirche providiert worden.[Anm. 8] 1403 ließ er sich in den Besitz einer Vikarie am Stephansaltar, ebenfalls im Hildesheimer Dom gelegen, einweisen, die er gegen Hermann Wesenberg erstritten hatte,[Anm. 9] und fast gleichzeitig erlangte er eine Provision si nulli mit der Hamelner Pfründe, um die er gegen die beiden Mitbewerber prozessierte.[Anm. 10] Zu diesem Zeitpunkt war er im Besitz der beiden genannten Hildesheimer Pfründen und stritt um die Pfarrkirche in Gronau in der Diözese Hildesheim. 1401 wird Botzman als Prokurator des Kanonikers am Hildesheimer Kreuzstift Heinrich Crampen und des Paderborner Klerikers Johannes Swagher genannt;[Anm. 11] das legt die Vermutung nahe, daß er sich zu dieser Zeit selbst an der Kurie aufhielt. 1405 war er bereits durch Tod aus dem Prozeß um das Hamelner Kanonikat ausgeschieden.[Anm. 12]
Der dritte Bewerber, Requinus Theoderici Cortenacke, Kleriker aus der Diözese Minden, nahm erst mit einiger Verspätung den Kampf um die Hamelner Pfründe auf.[Anm. 13] Seine bisherige Ausbeute an Benefizien war eher bescheiden; lediglich ein Kanonikat am Stift St. Cassii in Bonn und ein weiteres am Hildesheimer Domstift gibt er als seinen Besitz an.[Anm. 14] Seine eigentliche Karriere hatte er an der Kurie in Rom verfolgt, offenbar im Umfeld des Dietrich von Nieheim, für den er nach dessen Ernennung zum Bischof von Verden sich über die Zahlung der Servitien obligierte,[Anm. 15] und später des Kardinaldiakons Landulfus vom Titel S. Nicolai in carcere Tulliano, der sich für ihn als Mitsupplikant einsetzte.[Anm. 16] Cortenacke hatte die Würden eines Magisters der schönen Künste und eines Baccalaureus in decretis erworben und hatte es geschafft, in das Abbreviatorenkolleg aufgenommen zu werden.[Anm. 17] Als Dietrich von Nieheim Rom verließ, um von seinem Bistum Besitz zu ergreifen, übernahm Cortenacke dessen Skriptorenamt in der päpstlichen Kanzlei.[Anm. 18] Mit dem Hamelner Kanonikat ließ er sich 1398 providieren[Anm. 19] – wohl zur Absicherung des Anspruchs, den er schon früher auf Grund einer Expektanz angemeldet hatte. Und als der Prozess um die Pfründe einen unsicheren Verlauf zu nehmen schien, schob er 1402 eine Supplik um eine Provision si nulli nach, die Papst Bonifaz IX. ihm auch gewährte.[Anm. 20]
Wie wir von Zabarella erfahren, stützten alle drei Konkurrenten ihre Bewerbung auf eine Expektanz und ein diese ergänzendes Indult, hatten das Kanonikat innerhalb der vorgegebenen Frist von einem Monat nach Bekanntwerden der Vakanz (debito tempore) akzeptiert und waren auch damit providiert worden (fecerunt sibi provideri), wobei für Cortenacke sicherlich ein Prokurator tätig wurde. Den faktischen Besitz, also die Einweisung in die Pfründe durch das Stiftskapitel, hatte Corrigiatoris erlangt. Ihn verklagte Botzman an der Kurie auf Herausgabe. Der vor dem Auditor Leonardus von Sulmona[Anm. 21] geführte Prozess war noch nicht zum Abschluss gekommen, als Cortenacke der Klage im eigenen Interesse beitrat. Es ging den Beteiligten nicht darum, den Gegnern falsche Angaben in ihren Suppliken nachzuweisen, die ihre Provisionen unwirksam gemacht hätten; keiner, so wird ausdrücklich gesagt, widersprach den obiectus der anderen. Vielmehr kam es allein darauf an zu klären, welcher der drei Expektanzen und der auf sie bezogenen Indulte die stärkste Rechtskraft innewohnte. Das aber, so stellt Zabarella fest, könne allein durch einen Vergleich der Klauseln (clausulae anteferri seu antelationis, clausulae derogatoriae) geschehen, welche den Prozessbeteiligten jeweils Vorteile oder Nachteile gegenüber den Gegnern verschafften. Die Prüfung der Klauseln sei aber in diesem Fall besonders schwierig, weil sich darunter clausulae novae, et ante nostra tempora inusitatae befänden, über deren Rechtskraft sich sogar berühmte Gelehrte nicht einig seien (praeclari doctores sint pro et contra). Auch an der römischen Kurie, ubi fons est iuris, sei der Streit ja schon verhandelt worden, und da die fraglichen Klauseln vom Papst selbst ausgegangen seien, qui iura in scrinio pectoris habere censetur, hieße es Holz in den Wald tragen (ligna in sylvam ferre), wenn er, Zabarella, den Problemfall noch einmal aufgreife. Doch habe er sich den precibus et iussui nonnullorum maiorum haec poscentium nicht widersetzen wollen. Wer diese Auftraggeber waren, wird nicht gesagt; man geht aber wohl nicht fehl, wenn man die hochgestellten Gönner des Requinus Cortenacke an der Kurie dahinter vermutet.
Zabarella stellt seinen Erörterungen ein „Summarium“ voran, eine Liste von 13 Thesen oder Leitsätzen, an denen entlang er seine Argumentation entfaltet. Er beginnt mit der Feststellung, daß Cortenacke die älteste Expektanz (gratia) besitze und ihm daher ceteris paribus der Vorzug vor den Mitbewerbern gebühre. Es sei nun zu prüfen, ob die Expektanzen der beiden Prozeßgegner potior seien, also ein stärkeres Recht gewährten als die Cortenackes. Zunächst vergleicht Zabarella die Expektanzen Botzmans und Cortenackes und kommt zu folgendem Ergebnis: die des Botzman sticht die des Cortenacke aus, weil sie in der Non-obstante-Formel die wirkungsmächtigeren Klauseln enthält. Diese lautet (nach Zabarella): Non obstantibus etc. seu si aliqui super provisionibus sibi faciendis de huiusmodi vel aliis beneficiis ecclesiasticis in illis partibus generales vel speciales apostolicae sedis vel legatorum literas impetraverint, etiam si per eos ad inhibitionem, reservationem et decretum vel alias quomodolibet sit processum, quibus omnibus etiam authoritate nostra huiusmodi beneficia cum simili vel dissimili vel alia quavis antelationis praerogative expectantibus, praeterquam venerabilibus fratribus nostris sanctae Romanae ecclesiae cardinalibus et dilectis fi liis familiaribus actu domesticis et continuis commensalibus, te in assecutione beneficii seu beneficiorum huiusmodi, constitutionibus, declarationibus et ordinationibus apostolicis contrariis nequaquam obstantibus, volumus anteferri. Mit dieser Formulierung, so folgert Zabarella, wollte der Papst dem Botzman gegenüber früheren Impetranten generell den Vorzug geben. Cortenackes Expektanz dagegen enthalte nur eine ein fache, nicht weiter spezifizierte clausula anteferri und könne die des Konkurrenten nicht übertrumpfen.
Doch das Ergebnis ändert sich, als Zabarella auch die beiden Indulte in die Untersuchung einbezieht. Botzman könne ein wie die Expektanz motu proprio gewährtes Indult vorweisen, eine Nachbesserung, in welcher der Papst erklärt, die erteilte Anwartschaft gelte für drei Benefizien, und sie sei den Expektanzen anderer sowie den päpstlichen Konstitutionen, Deklarationen, Ordinationen und Indulten mit gleichen oder auch anderen Prärogativen, auch für Personen im Pontifikalstand, sowohl schon gewährten wie noch zu gewährenden, vorzuziehen, sofern die Benefizien nicht einem besonderen Recht unterlägen (in quibus non sit alicui specialiter ius quesitum). Damit sage der Papst dasselbe wie in der Expektanz, nur deutlicher, meint Zabarella, und er fügt mit erkennbarer Distanzierung hinzu: Parendum est eius voluntati, etiam si vix ferendum sit quod iniungitur. Dies gelte besonders im Hinblick auf die Vergabe von Benefizien, cum beneficiorum ecclesiaticorum plenaria dispositio ad Romanum noscatur pontifi cem pertinere.
Dem sei nun Cortenackes zweite litera, das Indult also, gegenüberzustellen. Es enthalte zwar keine plena mentio der ersten, der Expektanz also, wie es erforderlich sei, wenn um das in Rede stehende Benefiz bereits prozessiert werde. Doch da das Indult offenbar vor der Einreichung der Klage durch Botzman ausgestellt worden war, stand seiner Rechtskraft nichts im Wege. Es gab Cortenacke in seiner Non-obstante-Klausel den Vorzug vor solchen, qui apostolica vel alia quavis authoritate in eadem ecclesia in canonicos sint recepti vel ut recipiantur insistant, sowie vor den etiam authoritate nostra in ipsa ecclesia receptis vel maiores praebendas expectantibus in eadem. Dadurch, so Zabarella, sei gesagt: Der Papst will Cortenacke allen Inhabern von Expektanzen vorziehen, und zwar unabhängig davon, ob sie bereits in ein Kanonikat eingewiesen sind oder nicht. Damit weiche der Papst allerdings – so merkt Zabarella wiederum mit kritischem Unterton an – von dem Rechtssatz ab, daß mit der Übertragung des Kanonikats ein Recht auf die zugehörige Pfründe verbunden sei (quia receptio in canonicum dat ius adeo, quod afficit praebendam).
In den beiden literae Botzmans, der Expektanz und dem Indult, heiße es dagegen nur, er solle den Vorrang gegenüber allen haben, die vom Papst mit einer Expektanz versehen seien, etiam si ad inhibitionem, reservationem vel decretum vel alias quomodolibet sit processum. Das sei in diesem Fall nicht ausreichend, denn die Formel "quomodolibet sit processum" beziehe sich nur auf noch nicht realisierte Ansprüche aus einer Expektanz, greife aber dann nicht, wenn ein Kanonikat bereits akzeptiert und der Bewerber rezipiert worden sei: Recepti autem non sunt tantum expectantes, cum receptio aliquid adiiciat supra expectationem. Zwar hält Zabarella eine Klausel, die früher gewährten Gnadenerweisen präjudiziert, generell für suspekt (odiosa) und hält es für erforderlich, sie durch Einschränkungen (dispositiones restringibiles) so weit wie möglich zu begrenzen. Eine so allgemein gehaltene clausula anteferri, wie Botzmans Expektanz sie aufweist, ziele daher nur auf Anwärter, die noch keinen realen Rechtstitel haben (ad eos, quibus non est ius quaesitum), oder auf solche, die ius ad rem non in re besitzen. Der Zusatz in Cortenackes Gratialbrief, der die Vorrangklausel auf rezipierte Kanoniker erweitert, sei aber nun einmal stylus solitus et diu servatus in der römischen Kurie, und dem müsse man Rechnung tragen (cui stylo standum est). Da Cortenacke bereits als Kanoniker des Hamelner Stifts rezipiert war, als Botzman seine Expektanz erhielt, könne er von diesem nicht verdrängt werden.
Es folgen Erörterungen darüber, ob die clausula anteferri des Cortenacke sich nur auf frühere (priores in data) oder auch auf spätere Mitbewerber (posteriores in data) um die Pfründe bezieht. Logischerweise, meint Zabarella, könne man einen Vorzug nur gegenüber bereits gewährten Rechtstiteln erlangen, et hoc ex vi clausulae anteferri, quia eius natura solita est concernere priores tantum. Er hält deshalb die Expektanz Cortenackes für wirksam nur im Hinblick auf die priores – entgegen der Meinung anderer (gemeint sind offenbar die zuvor mit dem Fall befassten Auditoren), die posteriores seien dem Sinn der Klausel nach mit eingeschlossen. Der Wille des Papstes, eine so weitreichende Derogation zu gewähren, müsse nämlich klar erkennbar sein, und unter eine generelle Konzession fielen nicht Dinge, die der Derogierende verisimiliter concessurus non fuisset. Ausschlaggebend sei deshalb erst das Indult Cortenackes, das ausdrücklich auch den posterioribus habentibus similem vel dissimilem praerogativam derogiert. Diese Klausel übertrumpft die allein auf die priores zielende des Botzman, der nur gegenüber anderen Konkurrenten den Vorzug beanspruchen kann, nicht aber gegenüber Cortenacke – denn sonst wäre sie ja frustratoria oder superflua.
Daß dennoch ein Widerspruch zwischen den beiden Gratialbriefen bestehen bleibt, sieht auch Zabarella. Er zitiert ausführlich Bestimmungen des Testamentsrechts, wonach es bei von der Erstverfügung abweichenden Zweitverfügungen darauf ankomme, den eigentlichen Willen des Testators zu erkennen, und wendet das auf den vorliegenden Fall an: Cum papa concesserit Requino quod sua gratia habeat potioritatem ad gratias posteriores, non est verisimile quod si papa de hoc constitisset, voluisset in literis Boesmani gratiam Requini sine causa revocare vel impedire. Andernfalls wäre ein wesentlicher Grundsatz der päpstlichen Rechtsprechung in Frage gestellt: Est enim summa vilificatio dignitatis apostolicae et status ecclesiastici, quod ex nulla causa fiant mutationes in ecclesiasticis beneficiis. Wenn das aber doch einmal geschehe, so müsse man unterstellen, daß der Papst getäuscht worden sei (papam fuisse circumventum quando recedit a priori dispositione sine causa).
Nach längeren Erörterungen über die Notwendigkeit, in einem auf dieselbe Sache bezüglichen zweiten Rechtsakt den voraufgegangenen ausdrücklich zu erwähnen, heißt es dann weiter, allgemein derogiere zwar eine gratia specialis, wie sie Cortenacke vorweisen könne, da sie für eine bestimmte Kirche gewährt wurde, einer gratia generalis. Dennoch seien bei Benefizialbriefen jeweils der Sinn und die Wortwahl zu beachten (attenditur tenor et verborum proprietas). Auf den vorliegenden Fall angewendet, müsse man deshalb fragen: Quid enim aliud voluit princeps in gratia Requini, nisi quod staretur illi gratiae et non posterioribus contra ipsam, etiam si in posterioribus essent paria verba seu par vel dissimilis clausula, etiam si in posterioribus esset clausula quaecunque non obstantium? Stemus ergo menti papae, de qua ex tenore praemissae gratiae apparet evidenter.
Damit ist für Zabarella entschieden, daß die Expektanz Botzmans trotz ihrer ihn begünstigenden Klauseln gegen die Cortenackes den kürzeren zieht. Zu diskutieren bleibt aber noch, ob das von Botzman danach erlangte Indult ihn, wie manche meinen könnten, in die bessere Position bringe, zum einen weil es motu proprio gewährt sei, zum anderen weil der Papst darin seinen Willen ausdrücke, suae intentionis esse, quod provideatur ipsi Boesmano non obstantibus quibuscunque literis sub quacunque forma prius hactenus concessis et in posterum concedendis, cui intentioni standum est, und zum dritten, weil er sage, er habe das ex certa scientia verfügt, so daß man nicht behaupten könne, der Papst habe von den zuerst gewährten Gratialbriefen keine Kenntnis gehabt, da er sie doch als pro sufficienter expressis bezeichne. Diese Argumentation weist Zabarella jedoch zurück (etiam hoc indultum non praeiudicat literis Requini multis rationibus). Botzmans Indult sei in sich widersprüchlich (continet in se repugnantiam): Es ordne an, ihn mit einer Pfarrkirche und einer Vikarie zu providieren, sofern zum Zeitpunkt der Gewährung nicht einem anderen ein bestimmtes Recht daran zustehe (dummodo tempore datae non sit in eis alicui specialiter ius quaesitum), und danach kassiere es die Provisionen und Kollationen dieser anderen. Es bestätige also zunächst die Rechte derer, die eben durch solche Provisionen oder Kollationen ein ius in re besäßen, um sie dann zu widerrufen. Wenn gesagt werde, dieser Widerspruch beträfe andere Benefizien, nicht aber die zur Rede stehende Präbende, und sei daher für den Fall unerheblich, so gibt Zabarella darauf zur Antwort: Wenn ein Instrument sich in nur einem Punkt als falsch erweist, so ist es insgesamt kraftlos (si instrumentum in aliquo probetur falsum, totum quod in illo continetur caret robore firmitatis). Insofern, als es die anderen gewährten Provisionen wieder kassiert, widerspreche das Indult dem am Recht orientierten Willen des Papstes (contra intentionem papae iure subnixam), denn man müsse unterstellen, er habe nicht der Provision eines anderen derogieren wollen, die durch einen speziellen Rechtstitel erlangt sei (praesumimus principem nolle dero-gare iuri alterius sibi competenti de iure speciali).
Auch den Einwand, das Indult Botzmans sei motu proprio konzediert worden, läßt Zabarella nicht gelten: Der zweite Gratialbrief Cortenackes sei ebenfalls motu proprio gewährt, und er trage ein früheres Datum, sei also prior ergo potior. Zudem könne der "motus proprius" nicht bewirken, daß die damit gewährte Vergünstigung das Recht eines anderen verletze.
Es sei (wie man unterstellen darf, zugunsten Botzmans) argumentiert worden, dem Willen des Papstes müsse entsprochen werden (quod standum est intentioni papae). Doch gelte das nur, soweit dieser Wille dem Wortlaut des Indults zu entnehmen sei (quatenus colligitur ex verbis ipsius indulti). Es habe sich ja aber gezeigt, daß kein Wille des Papstes zu erkennen sei, er wolle der gratia des Cortenacke, die mit speziellen Klauseln späteren Gratialbriefen derogiert, durch eben solche später gewährten literae derogieren. So habe er auch in Botzmans Indult keine ausdrückliche Erwähnung (specifi cam et singularem mentionem) einer solchen Absicht formuliert, und dieses sei vom Wortlaut her nicht rechtskräftiger als dessen erster Gratialbrief.
Es bleibt noch die Frage offen, welche Bedeutung der Formel "ex certa scientia" zukommt, welche sich in der gratia Botzmans findet. Diese Worte, so sagt Zabarella, beziehen sich nur auf die Gewährung der litera selbst; sie bedeuten nicht etwa, daß der Papst sich dabei an die Gratialbriefe Cortenackes erinnert – es sei sogar davon auszugehen, daß er sich nicht erinnert, da es sich um einen abgeschlossenen Vorgang handelte (quarum etiam praesumitur non meminisse, cum sint facti et in facto consistant).
Damit schließt Zabarella die Gegenüberstellung der Expektanzen und Indulte der beiden Hauptgegner ab und wendet sich Heinrich Corrigiatoris als dem dritten Prozeßbeteiligten zu. Bei ihm beschränkt er sich auf wenige Zeilen. Corrigiatoris, so erfahren wir, verdankte seine beiden Gratialbriefe dem Bischof Wilhelm von Minden, der vom Papst ermächtigt worden war, gewisse Benefizien authoritate apostolica cum praerogativis antelationis zu vergeben. Die gratia Cortenackes sei jedoch älter (est prior tempore) und sei deshalb vorzuziehen, wenn sonst nichts dem entgegenstehe (aliis non obstantibus, sicut non obstant). Die Gründe, aus denen Cortenacke der Vorrang vor Botzman gebühre, hätten auch in bezug auf Corrigiatoris Geltung, und die in dessen Indult vom Mindener Bischof gewährten Prärogativen seien nicht wirksamer (non sunt efficaciores) als jene in den beiden Gratialbriefen Botzmans. Bei diesem klaren Sachverhalt sei es gar nicht mehr nötig, einigen Ungereimtheiten nachzugehen (pro sequi quasdam ineptitudines in constructione et in stylo), die sich in den Briefen Bischof Wilhelms für Corrigiatoris fänden. Mit dieser lapidaren Feststellung und einem Laus individuae trinitati endet der Text.
Was mit der Andeutung im letzten Satz des Gutachtens gemeint ist, wird ein wenig deutlicher durch eine Bulle Papst Innozenz' VII. vom 21. April 1405, die durch Cortenacke erwirkt worden war.[Anm. 22] Darin wird zunächst, weitgehend übereinstimmend mit dem Gutachten Zabarellas, der Ablauf des Pfründenstreits geschildert. Zusätzlich erfahren wir, daß Leonardus von Sulmona bereits ein Urteil (diffinitiva sententia) zugunsten des Heinrich Corrigiatoris gesprochen, daß Cortenacke aber dagegen an Papst Bonifaz IX. appelliert und dieser die Sache daraufhin dem Auditor Bertramus von Arnassano übertragen hatte. Der damit neu aufgerollte Prozeß war noch nicht bis zu einem Urteil gelangt, als ihm durch Innozenz VII. – Bonifaz IX. war am 1. Oktober 1404 gestorben – der Boden entzogen wurde. Corrigiatoris hatte nämlich seine Ansprüche, was Zabarella verschweigt oder nicht gewusst hat, auf eine angebliche facultas und eine concessio gegründet, die Bonifaz IX. dem Elekten Wilhelm von Minden am 1. Oktober und am 26. November 1399 verliehen hatte und worin er ihn ermächtigte, Expektanzen auf vier Kanonikate und Präbenden am Mindener Domstift sowie 20 andere Benefizien in Stadt und Diözese Minden an geeignete Personen zu vergeben.[Anm. 23] Diese beiden Dokumente, so stellt Innozenz VII. fest, habe er untersuchen lassen, und es habe sich gezeigt, daß sie in vielem nicht dem Stil der Kurie entsprächen (manifestum contineant in constructione peccatum ac etiam exorbitent in plerisque a stilo cancellarie nostre in qua eas inspici fecimus diligenter). Damit unterlagen sie natürlich dem Verdacht der Fälschung, und der Papst erklärt sie denn auch für fuisse et esse nulla nullumque robur in iudicio vel extra iudicium habuisse vel habere, neque illis fuisse aut esse credendum sive standum.
Nachprüfen läßt sich dieser Fälschungsvorwurf nicht; weder die Fakultas noch die Concessio für den Mindener Elekten sind in den Registern des Vatikanischen Archivs aufgezeichnet, und auch in der Überlieferung des Bistums Minden findet sich kein Hinweis darauf.[Anm. 24]24 So bleibt auch ungewiß, ob Cortenacke in der Tat eine betrügerische Machenschaft aufgedeckt oder ob er nur seinen Gegner unter geschickter Ausnutzung seiner Kenntnisse der Personen und Verhältnisse an der Kurie ausgetrickst hat. Er hielt jetzt zwei Trümpfe in der Hand: neben dem für ihn positiven Gutachten Zabarellas auch die Nichtigkeitserklärung des Papstes hinsichtlich der Vergabevollmacht für den Mindener Elekten. Ob in dem Appellationsprozeß überhaupt noch ein Urteil gesprochen wurde, ist unbekannt; möglicherweise resignierte Heinrich Corrigiatoris angesichts dieser Sachlage und überließ Cortenacke das Feld. Er starb laut einer Grabinschrift am 18. Juni 1423 als Dekan des Hamelner Bonifatiusstifts, hatte dieses Amt also nicht etwa wegen der behaupteten Fälschung verloren, die ja auch – wenn der Vorwurf denn zutrifft – wohl nicht ihm, sondern dem Elekten anzulasten war. Für Cortenacke hatte der Aufwand sich offenbar gelohnt; er konnte nun ungehindert von Kanonikat und Präbende Besitz ergreifen. Daß er in Hameln auch residierte, ist eher unwahrscheinlich. Schon 1403 hatte er die Genehmigung erwirkt, die Einkünfte seiner Benefi zien in Abwesenheit genießen zu dürfen, zog es also vermutlich vor, weiterhin an der Kurie tätig zu sein.[Anm. 25] 1414 resignierte er, der immer noch dem Abbreviatorenkolleg angehörte, das Hamelner Kanonikat zugunsten des Arnold Lorber[Anm. 26] und beendete damit sein Engagement für eine Pfründe, deren Erlangung ihm viel Mühen und vermutlich auch Kosten verursacht hatte.
Anmerkungen:
- E. PITZ, Supplikensignatur und Briefexpedition an der römischen Kurie im Pontifikat Papst Calixts III. (BiblDHIR 42), Tübingen 1972. Zurück
- Der einschlägige Beitrag von B. HOTZ, Von der Dekretale zur Kanzleiregel: Prärogativen beim Benefizienerwerb im 14. Jahrhundert, in: M. BERTRAM (Hg.), Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert (BiblDHIR 108), Tübingen 2005, S. 197–219 lag mir bei der Abfassung meines Beitrags leider noch nicht vor. Zurück
- Zu Zabarella, geb. um 1339 oder 1360 in oder bei Padua, gest. 1417 in Konstanz, s. LThK, Bd. 10, Freiburg/Br. 2/1965, Sp. 1295–1296, und Enciclopedia Italiana, Ed. 1949, Bd. 35, Rom 1950, S. 857–858 (mit Literaturhinweisen). Seine mehrfach gedruckten Gutachten wurden benutzt in einer 1581 in Venedig erschienenen Ausgabe (Francisci de Zabarellis consilia quinque), dort fol. 107v–110v: „De collatione canonicatus et maioris praebendae in ecclesia sancti Bonifatii Hamelensis diocesis Mindensis“. Zurück
- RG II: Urban VI., Bonifaz IX., Innocenz VII. und Gregor XII. (1378–1415), bearb. v. G. TELLENBACH, Berlin 1933–1938 (ND Berlin 1961), Sp. 417, 1391 Nov. 15. Zurück
- Ebd., 1398 Juni 14. Zurück
- Ebd., Sp. 422 (Henricus Dorhaghen), 1399 Jan. 16. Zurück
- Ebd., Sp. 407 (Henricus Boyczeman). Zurück
- Ebd., 1400 Juli 18. Zurück
- Ebd., 1403 März 16. Zurück
- Ebd., 1403 März 26. Zurück
- Ebd., Sp. 419 und 770. Zurück
- Botzman starb an der Kurie ("in eadem curia decessisset": ASV, Reg. Lat. 120, fol. 19v), hat also den Prozeß dort offenbar persönlich betrieben. Zurück
- Er darf nicht verwechselt werden mit Requinus Frederici Cortenacke, wohl einem älteren Verwandten, der ebenfalls am Hamelner Stift bepfründet war; Nachweise im O. MEINARDUS/ E. FINK (Hg.), Urkundenbuch des Stifts und der Stadt Hameln, Bd. 1, Leipzig 1887. Zurück
- RG II, Sp. 1017, 1395 Juli 18. Zurück
- Ebd., Sp. 1093, 1395 Juli 31. Zurück
- Ebd., Sp. 1017, 1402 Aug. 15. Zurück
- Ebd., 1395 Juli 18. Zurück
- Desgl.; s. auch B. SCHWARZ, Die römische Kurie und das Bistum Verden im Spätmittelalter, in: B. KAPPELHOFF/T. VOGTHERR (Hg.), Immunität und Landesherrschaft. Beiträge zur Geschichte des Bistums Verden, Stade 2002, S. 107–174, hier S. 125, Anm. 116. Zurück
- RG II, Sp. 1017, 1398 März 16. Zurück
- Ebd., 1402 Aug. 15. Zurück
- Der volle Name des Auditors findet sich nur im Registereintrag ASV, Reg. Lat. 120, fol. 19r– 20v, nicht aber in dem Regest RG II, Sp. 1307 und nicht bei Zabarella. Zurück
- Wie Anm. 21. Für die Hilfe bei der Beschaffung des Textes danke ich Dr. Thomas Bardelle, DHI Rom. Zurück
- Auch diese Reservatio war mit Prärogativen ausgestattet. Die vom Mindener Elekten ausgesuchten Kandidaten sollten, so besagt die Bulle Innozenz' VII., "in assecucione prebendarum ac dignitatum, personatuum vel officiorum aut beneficiorum huiusmodi omnibus eciam auctoritate dicti predecessoris (= Papst Bonifaz IX.) eciam cum simili vel alia quavis antelacionis prerogativa in dicta maiori ecclesia receptis vel prebendas ac dignitates vel personatus seu officia in eadem aut huiusmodi benefi cia tunc expectantibus preterquam venerabilibus fratribus nostris sancte Romane ecclesie cardinalibus et dilectis filiis familiaribus ipsius predecessoris protunc domesticis continuis commensalibus" vorgezogen werden. Zurück
- Auskunft des NRW Staatsarchivs Münster, das die Reste der Mindener Überlieferung verwahrt. Zurück
- RG II, Sp. 1017, 1403 Aug. 31. Zurück
- RG III, Sp. 56 (Arnoldus Lorber), 1414 Mai 26. Zurück