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Friedrich Karl Joseph von Erthal (1719–1802), Karl Theodor von Dalberg (1744–1817) und das Ende von Reichskirche und Reich

von Heinz Duchhardt

In dem Zyklus über die Mainzer Erzbischöfe und Kurfürsten haben sich die Veranstalter nur in einem Fall entschieden, zwei Personen in einem einzigen Vortrag behandeln zu lassen. Diese Pärchenbildung gründet sicher nicht nur darin, dass damit dem Gedenkjahr, an dessen Schwelle wir uns befinden, dem des 200. Jahrestags der Auflösung des Alten Reiches, noch flüchtig Tribut gezollt werden kann, ein Ereignis, das der eine der beiden Protagonisten noch erlebte und zumindest indirekt auch mit zu verantworten hatte. Sie gründet vor allem wohl darin, dass beide Männer für einen relativ langen Zeitraum je auf ihre Weise die Blicke der deutschen und europäischen Welt nachhaltig und nachdrücklich auf den Kurstaat und auf sich persönlich zogen. Man muss schon etwas weiter in die Geschichte zurückgehen, vielleicht sogar bis zu dem ersten Schönborn auf der Sancta Sedis Moguntina, um einen Mainzer Kurfürsten bzw. seinen Koadjutor zu finden, die in vergleichbarer Form im Fokus des öffentlichen Interesses standen – und zudem die "öffentliche Meinung" nachhaltig polarisierten.
Methodisch – und das heißt auch: darstellerisch-kompositorisch – kann man dieser Herausforderung wohl nur gerecht werden, wenn man sich auf das Wagnis eines Doppelporträts einlässt, wie es in jüngerer und jüngster Vergangenheit etwa am Beispiel Friedrichs des Großen und seines Bruders Prinz Heinrich[Anm. 1] und der Gebrüder Lilienthal[Anm. 2] versucht worden ist. Dieser Weg bietet sich um so mehr an, als die Wegstrecke, die beide Protagonisten gemeinsam zurücklegten, beträchtlich war und sich in Jahrzehnten bemisst. Ob sie in diesen Jahrzehnten wirklich aneinanderrückten, nachdem ihr Verhältnis auch nach der Koadjutorwahl von 1787 ausgesprochen kühl blieb und beide vom Habitus her zumindest nicht deckungsgleich waren – Erthal eher auf Repräsentation bedacht, zwar geistvoll, aber ohne langen Atem, Dalberg nicht uneitel, um Effekte bemüht, nicht immer zuverlässig und zudem sprunghaft, was bei aller Wert- und Hochschätzung seiner geistigen Beweglichkeit und Vermittlungsgabe vielen Zeitgenossen nicht verborgen blieb – , ob sie also in diesen Jahrzehnten eine wirkliche persönliche Beziehung aufzubauen wussten, muss bei alledem offen gelassen, ja eher wohl mit einem dicken Fragezeichen versehen werden. Aber auch bei diesem methodischen Vorgehen eines Doppelporträts müssen selbstverständlich Schwerpunkte gesetzt und muss der Mut zur Lücke bewiesen werden.
Der Vortrag gliedert sich in vier Schritte; in einem ersten soll dem sozialen Umfeld der beiden Protagonisten und ihren "Vorkarrieren" nachgegangen werden.
Bei Männern, die es bis an die Spitze des rheinischen Kurstaats brachten, erstaunt es nicht, dass sie derselben sozialen Schicht entstammten, dem stiftsfähigen ritterschaftlichen Niederadel[Anm. 3], der mit Argusaugen darüber wachte, dass ihm für die einträglichen Präbenden in den rhein-mainischen Domkapiteln und Ritterstiften keine unliebsamen Konkurrenten – etwa aus dem landsässigen Adel Westfalens oder gar aus dem Hochadel – erwuchsen. Die Familie Erthal war über die vier Brüder des Vaters Friedrich Karl Josephs von Erthal fest in die Hoch- und Erzstifte der sog. Pfaffengasse integriert; selbst der Vater war ursprünglich in Mainz als Domizellar aufgeschworen worden, hatte seine Präbende aber dann zugunsten eines jüngeren Bruders resigniert und 1714 eine Bettendorf geheiratet – eine Verbindung mit einer anderen Familie des stiftsfähigen Adels, aus der dann 1719 Friedrich Karl Joseph hervorging.
All das Gesagte – soziale Schicht, Stiftsfähigkeit der Familie, Konnubium mit Familien, die dasselbe soziale Interesse teilten, somit also Patronage und Familienräson in großem Stil – gilt ohne jede Einschränkung auch für unseren zweiten Protagonisten, Karl Theodor von Dalberg – vielleicht mit dem einen Unterschied, dass die Dalberg im 16. Jahrhundert schon einmal geistliche Fürsten – in Worms und in Mainz – gestellt hatten und zumindest punktuell-periodisch insofern immer wieder öffentlicher Aufmerksamkeit teilhaftig wurden, als ihre Familie bei jeder Kaiserkrönung aufgerufen zu werden pflegte und mit der Ehre des ersten Ritterschlags des Gekrönten ausgezeichnet wurde. Auch diese Familie, die ihren Besitzschwerpunkt im Wormsischen hatte, war in den Hoch- und Erzstiften fest verankert und mit ihnen allen versippt, ob das nun die Ingelheim, die Sickingen oder vergleichbare Geschlechter waren. Karl Theodors Mutter war eine Eltz, eine Nichte des Mainzer Kurfürsten Philipp Karl, der von 1732 bis 1743 die Geschicke des Kurstaats – in einer am Ende wegen des Erlöschens des Hauses Habsburg in der männlichen Linie schwierigen Zeit – bestimmt hatte. Der erste Unterschied, der festzuhalten ist, ist allerdings die Alterskohorte, der Dalberg angehörte. 1744 in Mannheim geboren, war Dalberg ein Vierteljahrhundert jünger als Erthal – das bedeutete in einer sich immer schneller bewegenden, sich beschleunigenden Zeit dann auch eine unterschiedliche Ausbildung, unterschiedliche Einflüsse, die aufgenommen wurden, vielleicht sogar ein etwas unterschiedliches Weltbild. Gemeinsam war beiden, dass sie von der raison d'être ihrer jeweiligen Familie her, also aus Gründen der familiären Strategie zur Subsistenzsicherung, von vornherein zum geistlichen Dienst bestimmt wurden; die unverkennbaren, für die ganze Familie Dalberg nicht untypischen künstlerischen und wissenschaftlichen Begabungen, die Karl Theodors Brüder dann auch beruflich umsetzen konnten, mussten einstweilen bei ihm auf ihre Chance warten, auch wenn er sich von früher Jugend an im Zeichnen, Radieren und Aquarellieren versuchte.
Ohne in das Schema hie Tradition, dort Aufgeschlossenheit für modernisierende Entwicklungen verfallen zu wollen, das sicher alles andere als erkenntnisfördernd wäre, muss man indes doch festhalten, dass sich Erthals Ausbildung und Vorkarriere eher in den üblichen Bahnen bewegte. Schon im Alter von neun Jahren tonsuriert, erhielt Erthal bereits 1728 eine Domizellarenstelle in Bamberg, 1731 dann in Mainz, wenig später auch in Würzburg, die er aber rasch wieder, ein nicht ungewöhnliches soziales Modell, zugunsten eines jüngeren Bruders resignierte. Die gymnasiale Ausbildung am Mainzer Jesuitenkolleg entsprach ebenso herkömmlichen Verhaltensmustern wie das Studium der Philosophie, Theologie und Jurisprudenz in Mainz und Würzburg, das lediglich durch ein zweijähriges Studium in Reims einen aus dem Rahmen des Üblichen fallenden Farbtupfer erhielt. Damit waren die formalen Voraussetzungen erfüllt, um 1749 bzw. 1753 in Bamberg und Mainz dann mit Domherrenstellen ausgestattet zu werden, die ihrerseits die Voraussetzungen waren, um in der Hierarchie des kurfürstlichen Hofes in zusätzliche, natürlich auch finanziell attraktive Ämter wie das eines Hofratspräsidenten (1758) und das des Leiters der Kommerzienkonferenz (1761) einzurücken.
Dalbergs Vorkarriere vollzog sich anders. Heidelberg, seine erste Universität, lag sozusagen vor der Haustür und bot sich von daher an, aber der junge Domizellar studierte hier nicht nur die Rechte, sondern schloss dieses Studium – ganz atypisch – sogar mit einer Promotion ab, mit einer Dissertation über die Frage, ob eine im Testament des Mannes übergangene Mutter Klage auf lieblose Zurücksetzung erheben dürfe. Und dann wird es noch atypischer: Dalberg zieht nach Göttingen – ins protestantische Göttingen notabene –, um dort weiterzustudieren, also an die modernste Hochschule der damaligen Zeit, und wechselt von dort nach Würzburg, das inzwischen unter den katholischen Universitäten jener Zeit einen vergleichsweise guten Ruf genoss – ohne schon mit dem Exzellenzsiegel à la Göttingen versehen zu sein –, weil es sich ganz vorsichtig bestimmten aufgeklärten Ideen geöffnet hatte. Heidelberg, das zwar seit 1733 in der Juristischen Fakultät keine protestantischen Professoren mehr kannte[Anm. 4], wohl aber in den anderen Fakultäten, Göttingen, das ja ganz protestantisch war – das lässt zumindest aufhorchen, ebenso das Fehlen einer soliden theologischen Ausbildung. Schließlich zieht auch die dem Studium angeschlossene Kavaliersreise unseren Blick auf sich, die den jungen Dalberg – die üblichen Stationen – nach Italien, Frankreich und durch das Reich führte, aber bezeichnenderweise auch in die Niederlande, deren goldenes Zeitalter zwar längst vorbei war, die aber für die Bereiche Wissenschaften, Kunst und Toleranz in Europa nach wie vor eine erste Adresse darstellten. Mit diesem Bündel von Erfahrungen und einer über das beschauliche Herrnsheim weit hinausreichenden Blickerweiterung konnte Dalberg, seit 1768 Domkapitular in Mainz, in der kurmainzischen Administration dann auch relativ rasch Fuß fassen, um so mehr als mit Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim ein Mann an der Spitze des Kurstaats stand, der von der Notwendigkeit überzeugt war, zumindest eine Teilmodernisierung der geistlichen Stifte in Angriff zu nehmen.

Das Verhältnis der beiden Männer zur Aufklärung ist der zweite Punkt, den ich bei diesem Versuch eines Doppelporträts herausgreifen und thematisieren will.
Wenn ich es recht sehe, ist es Karl Otmar von Aretin gewesen, der sich vor ziemlich genau zwanzig Jahren als erster an einer Gesamtwürdigung Erthals versucht hat, freilich nicht in einer umfassenden Biographie, sondern in einem Aufsatz in dem aus einer Konferenz erwachsenen Sammelband "Mainz – Centralort des Reiches"[Anm. 5]. In Aufsätzen muss man zuspitzen, kann man weniger differenzieren als in einem Buch, und so kann es denn auch kaum überraschen, dass der Autor, der auch in früheren Arbeiten mit seiner Kritik an Erthals Reichs- und Außenpolitik nicht hinter dem Berg gehalten hatte, zu einem ziemlich vernichtenden Urteil kommt. Ich will aus den abschließenden Sätzen einige Passagen zitieren: "Viel von dem, was er erstrebte, war anachronistisch. Dazu gehörte seine Idee einer politischen Einigung der Konfessionen ebenso wie der Ausbau einer deutschen Nationalkirche. Im Fürstenbund brachte er sich ganz überflüssigerweise in eine demütigende finanzielle Abhängigkeit von Preußen, die ihn hinderte, sein eigentliches Ziel, die Reform der Reichsverfassung, in Angriff zu nehmen. Episkopalismus, Vereinigung der Konfessionen und Reichsreform sind Be­griffe im Leben Erthals, die er aufnahm, ohne jedoch den Eindruck zu hinterlassen, daß es ihm wirklich ernst mit seinen Absichten war. Seine Regierungszeit hatte etwas Unbeständig-Spielerisches. Seine Eitelkeit hindert uns, ihn für eine tragische Figur zu halten".
Das kommt einem Verdikt nahe, aber wenn man es recht betrachtet, zielt Aretin vor allem auf Erthals außenpolitische und reichskirchenpolitische Bestrebungen, in denen er, so unser Gewährsmann, nahezu komplett Schiffbruch erlitten habe und die ihn seine Regierungszeit als unter einem Unstern stehend qualifizieren lassen. Aber ist dieses Verdikt auch im Blick auf seine Innenpolitik haltbar? Die neuere Literatur, u. a. die Dissertation von Bernd Blisch, ist in diesem Punkt deutlich zurückhaltender. Wir wissen, dass Erthal im Hochsommer 1774 in einer Art Reaktion auf die für manche allzu progressive Reformpolitik des Kurfürsten Breidbach-Bürresheim zum neuen Landesherrn gewählt wurde, man ihn in diesem Moment also eher dem konservativen Flügel des Domkapitels zurechnete. Aber das besagte im Grunde nicht viel; ein gewisses Fintieren vor einer anstehenden Wahl – wir wissen das zur Genüge – ist normal, und nach einer Wahl werden die Karten immer neu gemischt. Aber wurde damit aus dem Konservativen nun ein Reformer, der sich entschlossen an die Spitze des Fortschritts gesetzt hätte, um seinen Kurstaat umfassend zu modernisieren, um ihn zum leuchtenden Vorbild der gesamten Germania sacra zu machen?
Zunächst ist natürlich ganz nüchtern festzuhalten, dass die ambitionierte Reichs- und Reichskirchenpolitik des nicht uneitlen neuen Kirchenfürsten für die ganz großen innenpolitischen Reformvorhaben nur begrenzt Kapazitäten übrig ließ. Aber vielleicht hat man zugleich zu konstatieren, dass vieles von Erthals sog. Reformpolitik in einer mehr oder weniger deutlichen Nähe und Funktion zu eben dieser Reichs- und Reichskirchenpolitik stand – Innenpolitik also, um es zu pointieren, als Flankenschutz der großen Politik. Wir haben heute wohl ziemlich nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, dass weite Bereiche der aufgeklärten Reformen von einem deutlichen Schielen nach Verbesserung der reichspolitischen Stellung des Mainzer Kurfürsten begleitet waren. Erthal hatte, so scheint es mir und so deutet es auch ein so exzellenter Kenner wie Aretin an, eine große politische Vision, nämlich die, zum unbestrittenen Führer einer (möglicherweise ja sogar wiedervereinigten) deutschen Nationalkirche und zugleich zu einem Fürsten zu werden, der mit den Großen seiner Tage auf gleicher Augenhöhe kommunizierte. Ambitioniert oder eitel, sich selbst und seine Möglichkeiten weit überschätzend oder vielleicht doch jemand, den "nur" Gestaltungswille auszeichnete – das sei im Augenblick auf sich gestellt. Aber die Bewertungen im Grundsätzlichen sind eben doch wichtig, weil nur sie die Einordnung von Einzelmaßnahmen erlauben. Und so müssen wir denn fragen, ob die Universitätsreformen ganz gezielt den Anschluss herzustellen suchten an die Forderungen der Aufklärung und an die Modell- und Modeuniversitäten oder ob sie, ganz egoistisch-zweckrational gedacht, Kurmainz auf dem Bildungssektor an die Spitze der Staatenfamilie führen sollten und damit seinen politischen Führungsanspruch unterstreichen und versinnbildlichen sollten. Zu denken geben muss, dass Erthal angesichts von Querelen an der reformierten Alma mater semper catholica rasch das Interesse an einer Fundamentalreform verlor, kaum noch Anteil an ihrer Entwicklung nahm und zeitweise gar nicht mehr auf sie angesprochen werden wollte. Das Missvergnügen eines Verantwortlichen, dass die Dinge sich anders entwickelten als vorgestellt, oder der Frust eines Politikers, dass eine getroffene Maßnahme national und international dann doch nicht die entscheidenden Punkte einbrachte? Die Fragen müssen zumindest gestellt werden.
Sie müssen auch gestellt werden vor dem Hintergrund des zweiten Schwerpunkts von Erthals Reformpolitik, seinen innerkirchlichen Modernisierungen. Hing die Auflassung dreier Klöster – für einen katholischen Fürsten an sich ein revolutionärer Vorgang – noch ursächlich mit der Universitätsreform zusammen, so hatten die Versuche, die Messe in die deutsche Sprache zu überführen und die Sakramente in deutscher Sprache spenden zu lassen, andere Ursachen. Man könnte sie in einen Zusammenhang stellen mit einer allgemeinen Tendenz, die Kirche und das Dogma näher ans Volk zu bringen, verständlicher zu machen, Sprachbarrieren abzubauen. Aber viel mehr scheint dafür zu sprechen, Ansätze dieser Art, zu denen man etwa auch noch den Versuch zählen muss, den Zölibat abzuschaffen, in einen Zusammenhang zu bringen mit den Bemühungen, eine deutsche Nationalkirche unter der Führung des Mainzer Erzbischofs ins Leben zu rufen, die natürlich ohne gewisse Konzessionen an den Protestantismus überhaupt nicht vorstellbar gewesen wäre. Heimes und Deel, die in Erthals Auftrag solche Ideen auf der Emser Konferenz der drei Erzbischöfe zu propagieren hatten, erlitten damit allerdings kläglich Schiffbruch, womit eine weitere Erthalsche Vision, zum Primas einer von Rom weitgehend unabhängigen Nationalkirche aufzusteigen, im Nichts zerstob. Bezeichnenderweise ging nach Ems die Führung im Kampf gegen die Münchener Nuntiatur – der Stellvertreterkonflikt schlechthin – an den Kölner Erzbischof über, ohne dass die Idee der Nationalkirche noch eine Zukunft gehabt hätte.
Ich will nicht missverstanden werden: Es geht hier nicht um Denkmalsturz und Demontage à tout prix, sondern darum, ein begrenztes Modernisierungspotential eines katholischen Kirchenfürsten kritisch auf den Prüfstand zu stellen und seine Hintergründe auszuleuchten. Erthal wurde 1774 als Konservativer gewählt, und es scheint mir auf der Hand zu liegen, dass er nicht in kürzester Frist von einem Saulus zu einem Paulus wurde, zu einem Aufklärer, der an der Spitze der aufgeklärten Fürstenkohorte marschierte. Mir scheint, dass zumindest die meisten aufgeklärten Maßnahmen Erthals in einer klaren Funktion zu seiner ehrgeizigen Außen- und Reichspolitik standen, zu der ich auch seine Reichskirchenpolitik rechne. Er war beseelt von der ehrgeizigen Vision, dem Amt des Reichserzkanzlers in einer schwierigen Zeit neuen Glanz zu verleihen und politisch und kirchenpolitisch in eine Führungsrolle hineinzuwachsen. Dazu bediente er sich bestimmter Ansätze der Aufklärung, etwa der Erweiterung des Fächerspek­trums der Universität, etwa der Wendung gegen Rom, etwa der De-Latini#­sierung des Gottesdiensts. Aber wir erfahren nichts davon, dass Erthal – ob vor oder nach seiner Wahl – konsequent das Gespräch mit den Aufklärern gesucht hätte, dass er sich, wie sein badischer Nachbar, mit den Schriften der Aufklärer beschäftigt hätte, dass er der Wirtschaftspolitik entscheidend auf die Beine geholfen hätte, dass er soziale Reformen angepackt hätte. Erthal, so scheint es mir, nutzte eine Konjunktur, um daraus politische Vorteile zu ziehen, aber es geht wohl nicht an, ihn zu den führenden Aufklärern auf deutschen Fürstenthronen zu zählen. Ob man das mit dem Erklärungsmuster der "intendierten Rückständigkeit" in Verbindung bringt, das vor einiger Zeit von dem Berner Historiker Peter Hersche ins Gespräch gebracht worden ist[Anm. 6] – übrigens in einem Mainzer Vortrag –, mag auf sich gestellt bleiben; Hersche meinte damit eine Grundhaltung in den Stiften, sich von den weltlichen Fürstentümern deutlich abheben zu wollen und sich Reformen allenfalls insoweit zu öffnen, als sie den spezifisch geistlich-katholischen Charakter des Territoriums nicht berührten.
Wenn wir damit das Aufklärungspotential vergleichen, das sich bei Dalberg rekonstruieren lässt, so kann man guten Gewissens eigentlich nur seine Zeit als Erfurter Statthalter heranziehen, als er für diese Exklave des Kurstaates allein die Verantwortung trug; nach seiner Wahl zum Mainzer Koadjutor 1787 blieb er natürlich von der Regierungsverantwortung für den Kurstaat insgesamt noch weitgehend ausgeschlossen, und als er dann nach Erthals Tod 1802 formal noch die Sancta Sedes bestieg, war das bekanntlich nicht mehr in Mainz möglich, das längst in französische Hand übergegangen war. Und das war zudem eine Zeit, in der niemand mehr an innerstaatliche Modernisierung unter den Vorzeichen der Aufklärung dachte. Erfurt also, das überschaubare Nebenland im intellektuell pulsierenden Thüringen, dem Dalberg seit 1771 vorstand, damals 27jährig. Aber selbst hier muss ich mich noch einmal beschränken, was um so leichter fällt, als mir scheinen will, dass Dalbergs spezifische Affinität zur Aufklärung aus seiner Fürsorge für und Direktion der Akademie nützlicher Wissenschaften besonders eindrücklich erhellt.
Akademiegründungen waren in ganz Europa in der Zeit der Aufklärung ein spezifischer Ausdruck für den Willen, zum "Nutzen" der Untertanen beizutragen und sie an der Aufklärung und dem "Fortschritts des Menschengeschlechts" teilhaben zu lassen – Akademien natürlich nicht im Format und mit der Zielrichtung der Royal Society oder der 1700 begründeten Berliner Akademie der Wissenschaften, sondern mit regionaler Zuständigkeit und der Zwecksetzung, in diesem oder jenem – ökonomischen, landwirtschaftlichen, rechtlichen – Bereich etwas zur Verbesserung der Lebensverhältnisse, der "Lebensqualität" beitragen zu können. Die nach einer längeren Diskussionsphase 1754 gegründete Erfurter Akademie, die wie alle anderen ihren Nützlichkeitstelos bereits im Titel trug, erfreute sich zunächst auch durchaus des kurfürstlichen Wohlwollens, was sich u. a. in der Errichtung eines Anatomischen Theaters, eines Botanischen Gartens oder eines Observatoriums niederschlug. Sie war dann freilich einigermaßen in Verfall geraten, was von dem gerade bestellten Statthalter umgehend als Herausforderung verstanden wurde, sie wieder in Flor zu bringen. Auch unter Einsatz erheblicher privater Ressourcen hat Dalberg die Akademie in kurzer Zeit wieder aus ihrer Krise herausgeführt und zu hohem Ansehen gebracht, was sich u. a. dann auch in ihren „europäischen“ Zuwahlen niederschlug. Er war es, der die großen Preisfragen der 1770er und frühen 1780er Jahre anregte, die Erfurt geradezu zu einem "Zentrum der deutschen Verfassungsdiskussion" machten, und er war es auch, der parallel dazu jene ganz praxisbezogenen Preisfragen initiierte, die so ganz den Geist der nützlichen, lebensweltlich ausgerichteten Aufklärung atmen, ob es sich nun um Verbesserungen bei der Bedachung der Häuser, um die technische Optimierung der Feuerspritzen oder landwirtschaftliche Reformen handelte. Und wenn man dem dann noch jene Schriften und Aufsätze Dalbergs zur Seite stellt, von denen schon sein erster Biograph 37 ermittelte, deren Zahl aber noch deutlich höher liegt[Anm. 7], dann wird deutlich, wie viel mehr er dem Typus des aufgeklärten Fürsten entspricht, der sich eben auch – wie ein Friedrich II. von Preußen, wie eine Katharina II., wie ein Friedrich Karl von Baden – theoretisch mit der Aufklärung beschäftigte; hier stehen physikalisch-technische Erörterungen wie etwa über die Umwandlung von Wasser in Erde oder die Lenkbarkeit des gerade erfundenen Luftballons neben philosophischen Reflexionen wie "Von dem Bewusstsein als allgemeinem Grunde der Weltweisheit", moralisch-pädagogische Arbeiten etwa über die Konstruktion eines mit genauer Skala versehenen Tugendmessers und zum Schulwesen neben mathematischen Studien[Anm. 8]. Wenn wir alles andere, seine Studien zur Reichsverfassungsreform und zur Immunisierung der Untertanen gegen die Revolution beispielsweise, seine freundschaftliche Polemik mit Wilhelm von Humboldt über die Grenzen der Staatsgewalt, einmal ganz außer Acht lassen: das war bei allem Dilettantismus Aufklärung par excellence, um so mehr als sich der Statthalter mit Nachdruck bemühte, auch mit den Erfurter Protestanten einen „normalen“ Umgang zu pflegen. Dass Dalberg in Erfurt selbstverständlich nur für einen sehr überschaubaren Kreis von Menschen tätig werden konnte, nimmt dem Ganzen nichts von seiner Signifikanz; dass er diese Erfahrungen aus Erfurt, einem "Laboratorium der Modernisierung", nicht mehr auf den ganzen Kurstaat würde anwenden können, sollte sich endgültig ja erst nach 1793 erweisen.
Ich muss einen über die Mainzer Perspektive hinausreichenden Aspekt hinzufügen. Seit 1780 war Dalberg zudem in Würzburg, wo er ebenfalls eine Domherrenstelle innehatte, als faktischer "Unterrichtsminister" tätig und hat hier ebenfalls, soweit das in das Gesamtprofil der Reformpolitik des Hochstifts hineinpasste, eine recht aktive Schul- und Wissenschafts-, insbesondere Berufungspolitik initiiert, die ebenfalls deutlich den Atem der Aufklärung erkennen lässt und die, ganz typisch, vor allem das Grundschulwesen im Auge hatte, aber dann auch an ihre Grenzen stieß, die der dortige Fürstbischof Erthal nicht überschritten sehen wollte, insbesondere in bezug auf die uneingeschränkte Lehrfreiheit an der Alma Julia Herbipolensis und auf die Aufhebung der Zensur[Anm. 9]. Dass sich Dalberg gerade diese zusätzliche Aufgabe und Belastung zumutete, die er immerhin bis zu seiner Mainzer Koadjutorwahl ausfüllte, spricht wohl mehr als Bände. Und für sich spricht schließlich auch, wie Dalberg dann später in seinem Großherzogtum Frankfurt, das für ihn nach dem Übergang Regensburgs an Bayern neu geschneidert wurde, Anregungen der Aufklärung aufgriff und beispielsweise 1811 nicht nur den Code Napoléon insgesamt annahm, sondern insonderheit den Juden volle bürgerliche Emanzipation zusprach[Anm. 10]. Seine Sendschreiben an die Geistlichkeit seiner Diözese Konstanz aus den Jahren 1801–1811 belegen nach- und eindrücklich, dass "Aufklärung" für Dalberg viel mehr als ein Schlagwort, eine Worthülse war.

Ich will eine dritte Sonde im Rahmen dieses Doppelporträts legen und nach der Einbindung beider Weggenossen in die "große Politik" fragen. Grundsätzlich muss man konstatieren, dass im Zeitraum nach dem Westfälischen Frieden eine außenpolitische Orientierung nach Frankreich hin – mochte man dessen Kultur auch schätzen und vielleicht sogar in Reims studiert haben – allenfalls ausnahmsweise einmal eine wirkliche Option darstellte, die Mainzer Kurfürsten dagegen ihre politischen Präferenzen so setzten, dass sie mit denjenigen Reichsständen und europäischen Mächten am ehesten zusammenarbeiteten, die ihre Prärogativen, also das von ihnen verwaltete Erzkanzleramt, am klarsten und unzweideutigsten respektierten. Nach dem Siebenjährigen Krieg, seit dem im Reich zwei Großmächte miteinander konkurrierten, konnte das theoretisch auch eine Orientierung nach Berlin hin einschließen, um so mehr als Josef II. schon vor Antritt seiner Alleinregierung (1780) seine Reserven gegenüber der Reichsverfassung deutlich erkennen ließ. Diese Option schloss sich allerdings für einen geistlichen Fürsten zunächst kategorisch aus und wurde überhaupt erst ab dem Augenblick denkbar, seit Josef II. nach dem Tod seiner (bisher immer noch bremsenden) Mutter die Reichsverfassung an allen Ecken und Enden in Frage zu stellen schien – durch seine Politik den Institutionen des Reichs gegenüber, durch seine Diözesanpolitik und manch anderes mehr.
Die neueste biographische Arbeit zu Erthal, die 2005 publizierte Mainzer Dissertation von Bernd Blisch[Anm. 11], hat deutlich die Konjunkturen der außenpolitischen Orientierung des Kurstaates vor allem seit den 1780er Jahren nachgezeichnet. Während Kurmainz bis 1780 ganz unmissverständlich im kaiserlich-österreichischen Lager gestanden hatte, sorgten die Aktivitäten Josefs II. in den frühen 1780er Jahren – u. a. seine Lahmlegung des Reichstags und sein Oktroi einer neuen Ordnung für die Reichshofkanzlei, die an sich Mainz unterstand – für eine völlig mit den Traditionen brechende Umorientierung hin zum Berliner Hof, ein Vorgang, der in dem Beitritt des Kurstaates zum preußendominierten Fürstenbund von 1785 gipfelte. Es kann in der Tat gar keinem Zweifel unterliegen, dass Erthal, wie er schon in seiner an das Domkapitel gerichteten Rede unmittelbar nach seiner Wahl unterstrichen hatte, als er von seiner strikten Missbilligung jeder Verfassungsverletzung gesprochen hatte, dieses bedenkliche Verhalten des gewählten Kaisers gegenüber der Reichsverfassung sozusagen aus der gewohnten Bahn warf; dass er vor diesem Hintergrund nicht nur in seinem Beraterkreis Gutachten für eine zukünftige Reichsreform in Auftrag gab, sondern auch einen Kongress der Mindermächtigen zur Beratschlagung eben dieses Anliegens betrieb, spricht für sich. In dem Interregnum nach Josefs II. frühem Tod war denn auch sein ganzes Bestreben darauf gerichtet, die Reichsverfassung zu bewahren und – der weniger altruistische Teil – die Erzkanzlerbefugnisse möglichst wieder zu stärken. Das Kommen der Franzosen und die eher auf die österreichischen Eigeninteressen zielende Politik der Wiener Hofburg hat die Beziehungen zum neuen Kaiser Franz II. – die Regierungszeit Leopolds II. war ja nur ein (viel zu) kurzes Zwischenspiel geblieben – sicherlich auch nicht verbessert, so dass Erthal seit den mittleren 1790er Jahren dann recht konsequent einen eigenen Weg zu gehen begann und sich als Wortführer der Reichsstände[Anm. 12] um einen Reichsfrieden mit Frankreich bemühte. Auch das scheiterte am Ende, was Kurmainz nun endgültig in die Bredouille brachte und eine Außenpolitik des Lavierens nach sich zog, die sowohl die Komponente einer Wiederannäherung an die Hofburg als auch, fassbar insbesondere auf dem Rastatter Kongress, die Option eines Ausgleichs mit dem revolutionären Frankreich be­inhaltete. Das genau ist der Punkt, zu dem man sagen muss: jetzt ging es, so oder so, nur noch ums nackte Überleben. Erthal – apathisch, wie er zuletzt in seinem Aschaffenburger Exil war – mag mehr als erleichtert gewesen sein, als ihm der Tod die Verantwortung für etwas abnahm, über das die große Politik längst hinweggegangen war.
Das außenpolitische Weltbild Dalbergs differierte von dem Erthals gar nicht so entscheidend. Sicher war er begeisterungsfähiger, wenn nicht sprunghafter als der kühlere Erthal, aber auch für ihn stand, obwohl er 1787 mit preußischer Unterstützung zum Koadjutor gewählt worden war, die Option der Zusammenarbeit mit der Wiener Hofburg immer an der Spitze seiner Präferenzen – allerdings auch bei ihm immer unter der Voraussetzung, dass die Reichsverfassung und in ihr die Stellung des Erzkanzlers gewahrt blieben. Bezeichnenderweise verhandelte Dalberg zu genau dem gleichen Zeitpunkt, als sich Albini auf dem Rastatter Kongress um ein Agreement mit dem revolutionären Frankreich bemühte, in Wien, um den engen Schulterschluss von Kurstaat und Hofburg wiederherzustellen. Es war ein nachgerade symbolisches Handeln, dass er nach Erthals Tod im Juli 1802 seine allererste Reise zum Regensburger Reichstag unternahm!
In einem Punkt freilich unterschieden sich die beiden Männer dann doch grundsätzlich: in der Qualität ihres Napoleonbildes. Dalberg war von dem korsischen General, von der Art, wie er seinen Aufstieg vollzog, wie er seit 1799 als Erster Konsul das politische Heft in die Hand nahm und aus ganz Europa ein Bündel auf Frankreich bezogener Satellitenstaaten zu machen begann, fasziniert, und so kann es kaum erstaunen, dass er schon lange vor ihrem erstmaligen Treffen in Mainz im September 1804[Anm. 13] den Kontakt mit ihm suchte und ihn auf sich aufmerksam zu machen begann. Das gelang auch ohne Mühe, um so mehr als Napoleon die Leistungen Dalbergs in Erfurt bekannt waren und er ihn wegen seines Nahverhältnisses zu den bedeutenden Intellektuellen in Weimar und Jena, das ihm ja den zeitgenössischen Ehrentitel eines "Koadjutors der deutschen Literatur" einbrachte, schätzte. Nun war es, was Dalbergs Interesse betrifft, natürlich nicht nur die Faszination eines Aufsteigers, eines Mannes, der offenbar etwas Charismatisches an sich hatte, sondern auch die Vorstellung, dass Napoleon dafür gewonnen werden könne, das Reich in dieser oder jener Form aufrechtzuerhalten und dabei auch dem Erzkanzler – der Dalberg seit Erthals Tod im Juni 1802 ja formal war, nachdem der Kurstaat zur allgemeinen Überraschung von der allgemeinen Säkularisation ausgenommen worden war, die Residenz freilich nach Regensburg verlegt worden war – eine Schlüsselrolle zuzubilligen. Ob er Bonaparte jemals formell auf die Kaiserkrone hingewiesen hat, mag hier auf sich gestellt bleiben, entscheidend ist, dass Dalberg seit spätestens 1804 voll auf den Korsen setzte und bezeichnenderweise ja auch an seiner Krönung in Paris teilnahm – in einer Zeit, die noch viel von symbolischem Handeln verstand, war das ein eindeutiges Bekenntnis. Er setzte vor dem Hintergrund der anarchieähnlichen Zustände, die 1803 im Reich ausbrachen, nun voll auf seine Karte und erbat sich gegenüber Österreichs rücksichtsloser Selbstbereicherung in den sog. Entschädigungslanden ausdrücklich Bonapartes Protektion. Dass Napoleon, für den es in dem ganzen Spiel niemals um die Konservation des Reiches ging, ihn ohne große Skrupel instrumentalisierte und ihn bei den vielen Gipfeltreffen oft zudem schlecht und herablassend behandelte, dass dieser den Rheinbund, der ja den Vorwand zur einseitigen Reichsauflösung durch Kaiser Franz II. abgab, unter der formalen Leitung des "Fürstprimas" als einer Art Bundeskanzler beließ, obwohl jedermann klar war, dass das ein ganz und gar französisch dominiertes Gebilde war, war Dalberg zwar bewusst, aber zum Gegensteuern war es dann zu spät. Seiner gebetsmühlenartig vorgetragenen Vorschläge, dem Rheinbund wenigstens eine förmliche Verfassung zu geben (und damit seine eigene Stellung natürlich zu sichern), wurde der Kaiser der Franzosen schnell überdrüssig. Auch für sein zweites großes Anliegen, die Reichskirchenverfassung durch ein neues Konkordat auf eine neue Grundlage zu stellen, war Bonaparte – ganz zu schweigen von dem völlig ablehnend reagierenden Papst! – schlicht nicht der richtige Mann. Ein großes Missverständnis!
Dalbergs Fixierung auf Napoleon war, um es klar auf den Punkt zu bringen, freilich erst in zweiter oder gar nur dritter Linie ein Bekenntnis zum französischen Modell der nur auf Paris ausgerichteten Europapolitik. Dalberg war ganz sicher ein Mann, der von dem Trauma verfolgt war, das Reich in den Wirren der damaligen Zeit untergehen zu sehen, und da lag es für ihn viel näher, diesen Prozess mit Hilfe der überragenden Persönlichkeit der Zeit zu stoppen oder gar umzubiegen, als den Vorgang gottergeben und im Wissen, dass andere für das Reich nichts mehr tun würden, hinzunehmen. Dalberg mag es an politischem Realismus gefehlt haben – ihn schlicht zum "Reichsverräter" zu stilisieren, wäre bei weitem zu vordergründig.

Es mag bei einer vergleichenden Würdigung beider Männer hilfreich sein, abschließend einen Blick auf die Geschichtsschreibung zu werfen. Während Erthal, abgesehen von einer Dissertation aus den frühen 1930er Jahren, die aber nur seine unmittelbare Reaktion auf die Französische Revolution untersuchte[Anm. 14], lange eher in übergreifenden Gesamtwürdigungen der Kurmainzer Politik – etwa was seine Innen-, Wirtschafts-[Anm. 15] und seine (gebremste) Reformpolitik[Anm. 16] sowie seine Universitätspolitik[Anm. 17] betraf – und im Zusammenhang der Koadjutorwahl von 1785 behandelt wurde und erst in allerjüngster Vergangenheit mit der Mainzer Dissertation von Bernd Blisch eine Gesamtwürdigung gefunden hat, sieht das bei Dalberg völlig anders aus. Seit dem mittleren 19. Jahrhundert galt er sozusagen als eine der Negativfiguren der deutschen Geschichte der Umbruchzeit um 1800, als ein Mann, der sich – horribile dictu – Bonaparte sozusagen an den Hals geworfen habe und sein "Schleppenträger" geworden sei. In die Gestalt Dalbergs wurde gewissermaßen alles hineinprojiziert, was an antifranzösischen Affekten in der deutschen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit vorhanden war – und das war ein gewaltiges Potential und reichte weit über die borussische Geschichtsschreibung eines Heinrich von Treitschke hinaus in die Weimarer Republik und natürlich die NS-Zeit hinein – für Ludwig Häusser war in den 1850er Jahren Dalberg einer "der Schuldigsten in der tiefen Schmach napoleonischer Erniedrigung", für seinen ersten Biographen Karl von Beaulieu-Marconnay 20 Jahre später war er nicht mehr als "ein willenloses Werkzeug des französischen Machthabers", für den Kirchenhistoriker Beda Hubert Bastgen 1917 schlicht der "Verräter am Reich"[Anm. 18]. Auf französischer Seite kam er im übrigen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kaum besser weg: ein verächtlicher, zudem auch noch heuchlerischer Befehlsempfänger Napoleons, von denen es in Europa bekanntlich viele gegeben habe. Und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die frankophoben Tendenzen sich erkennbar aus der deutschen Geschichtsschreibung zurückzogen, bedurfte es noch etlicher Jahre und mancher Wiederholungen der Reichsverräterthese und der politischen "Molluskenhaftigkeit" des Protagonisten (W. Andreas), bis die 1952 approbierte, aber leider ungedruckt gebliebene Mainzer Dissertation von Werner Hertel[Anm. 19] den Paradigmenwechsel vollzog und Dalbergs ehrlichen und ernstgemeinten Willen thematisierte, wenn es denn nicht anders ging, mit Napoleons Hilfe das Reich in eine neue Epoche zu überführen. Seitdem blieb Dalberg nicht nur auf der Agenda der Geschichtswissenschaft, sondern immer wieder auch eine ganz spezifische Herausforderung für die Großen des Fachs, ob man nun an Otto Vossler[Anm. 20], Rainer Wohlfeil[Anm. 21] oder Karl Otmar Freiherr von Aretin[Anm. 22] denkt. Inzwischen liegen neue Gesamtwürdigungen in Buchform (von Antje Freyh[Anm. 23], Klaus Rob[Anm. 24] und Konrad Maria Färber[Anm. 25] und in regionalen Lebensbilder-Unternehmen[Anm. 26] vor, die Sammelbände[Anm. 27] und Einzelstudien[Anm. 28] werden allmählich fast unübersehbar, für ein breites Publikum wurde eine Sammlung von Briefen an und über ihn und von Tagebucheinträgen, die mit ihm zu tun hatten, vorgelegt[Anm. 29]. So ist es nicht vermessen und hat überhaupt nichts mit einer zu engen lokalen Perspektive zu tun, wenn man feststellt, dass Dalberg unter den Männern, die außerhalb Preußens nach einer neuen Verortung Deutschlands und nach neuen staatlichen Strukturen – die für ihn auch die alten sein konnten! – suchten, inzwischen zu den am meisten behandelten zu zählen ist: und das, obwohl die Quellenlage alles andere als günstig ist, weil er weder, wie Hardenberg[Anm. 30], Tagebücher hinterlassen hat, noch, wie Stein, ein intaktes Privatarchiv, das vielmehr in seinem Fall als verschollen zu gelten hat[Anm. 31]. Dass ihn seine Napoleonnähe so disqualifiziert hatte, dass er, obwohl als Bischof von Konstanz durchaus noch auf der politischen Bühne, nach dem Sturz Napoleons, dem er bis über die Völkerschlacht bei Leipzig hinaus öffentlich die Treue gehalten hatte, von allen Seiten "mit wüsten Pamphleten eingedeckt"[Anm. 32], auf dem Wiener Kongress nicht mehr an der Neustrukturierung Deutschlands mitwirken konnte, sondern mit seiner Interessenvertretung seinen Konstanzer Weihbischof Wessenberg betrauen musste, wird für ihn der endgültige schlagende Beweis gewesen sein, letztlich auf das falsche Pferd gesetzt zu haben. – Hatte man 1804 noch den Plan ventiliert, ihm ob seiner reichspatriotischen Verdienste ein Denkmal zu setzen[Anm. 33], war er zehn Jahre später zum Paria schlechthin geworden.
Die beiden Mainzer Prälaten, von ihrer Ausbildung und dem ihnen gemeinsamen stiftischen Weltbild her ohnehin dem Phänomen der Machtpolitik fremd gegenüberstehend, wurden mit einer Krise konfrontiert, wie sie Europa seit Jahrhunderten – vielleicht seit der Reformation – nicht erlebt hatte. Sie konnten nur auf die ihnen zu Gebote stehenden Mittel – jenseits dessen, was man Macht nennt – setzen: die Nutzung des exzeptionellen Reichsamts, das die Mainzer Kurfürsten innehatten, um das Reich einigermaßen über die Runden zu bringen und vor dem völligen Kollaps zu bewahren. Dafür, diese Erfahrung musste Erthal machen, gab es irgendwann keine Verbündeten mehr, die eine solche Option noch mitgetragen hätten. Dalberg zog daraus die Konsequenz, auf die einzige Person zu setzen, die zumindest theoretisch das Ende des Reiches hätte aufhalten können. Es war sein großer Irrtum zu glauben, eine letztlich biblisch-eschatologische, auf jeden Fall aber traditionsüberfrachtete Größe wie das Reich habe im Weltbild des Korsen noch irgendeinen Stellenwert. Es gibt in der Geschichte zwar keine zwingend nur so verlaufen könnenden Prozesse, aber alle Rahmen- und Eckdaten sprachen dafür, dass rebus sic stantibus die beiden Mainzer Prälaten den Kampf um das Reich verlieren mussten – aus einer extremen Krise und Zuspitzung der europäischen Politik, einer alles über den Haufen werfenden Auseinandersetzung um Macht und Eigeninteressen konnten die Kräfte, die so oder so nur auf die alte Ordnung setzten, nicht triumphieren. Zwischen "Reichsidee und Machtstaatsdenken" gab es letztlich dann doch keinen Ausgleich, keine Synthese mehr.[Anm. 34] Freilich: dieses Rückzugsgefecht nobilitiert sie eher, als dass es sie grundsätzlich diskreditiert. Es ist nichts Ehrenrühriges, um Bewahrung und Überleben eines Organismus zu kämpfen, auch wenn dieser Kampf in einer generellen Umbruchphase und gegen einen schier übermächtigen Gegenspieler, dem zudem die Strukturen und Traditionen des Ancien Régime überhaupt nichts mehr bedeuteten, nicht zu gewinnen war.

Anmerkungen:

  1. Christian Graf von Krockow: Die preußischen Brüder. Prinz Heinrich und Friedrich der Große. Ein Doppelportrait, Stuttgart 1996. Zurück
  2. Manuela Runge/Bernd Lukasch: Erfinderleben. Die Brüder Otto und Gustav Lilienthal, Berlin 2005. Zurück
  3. Zum ritterschaftlichen Stiftsadel vgl. aus der jüngeren Vergangenheit Christophe Duhamelle: L'Héritage Collectif. La noblesse d'église rhénane, 17e et 18e siècles, Paris 1998, und William D. Godsey: Noblesse and Nation in Central Europe: Free Imperial Knights in the Age of Revolution, 1750–1850, Cambridge 2004. Zurück
  4. Vgl. Günther Dickel: Die Heidelberger Juristische Fakultät. Stufen und Wandlungen ihrer Entwicklung. In: Aus der Geschichte der Universität Heidelberg und ihrer Fakultäten (Ruperto-Carola, Sonderband), Heidelberg 1961, S. 163–233, hier S. 198. Zurück
  5. Karl Otmar Freiherr von Aretin: Friedrich Karl Freiherr von Erthal. Der letzte Kurfürst-Erzbischof von Mainz. In: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.): Mainz – "Centralort des Reiches". Politik, Literatur und Philosophie im Umbruch der Revolutionszeit, Stuttgart 1986, S. 77–93.  Zurück
  6. Peter Hersche: Intendierte Rückständigkeit? Zur Charakteristik des Geistlichen Staates im Alten Reich. In: Georg Schmidt (Hg.): Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 133–149. Eine Diskussion dieser These u. a. bei Kurt Andermann: Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. In: Historische Zeitschrift 271 (2000), S. 593–619, und bei Heinz Duchhardt: Die geistlichen Staaten und die Aufklärung. In: Kurt Andermann (Hg.): Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz, Tübingen 2004, S. 55–66. Zurück
  7. Zu einem guten Teil sind sie in einem reprografischen Nachdruck jetzt leicht greifbar, den Hans-Bernd Spies besorgte (Carl von Dalberg, Ausgewählte Schriften, Aschaffenburg 1997). – Dass die bisher bekannte Zahl der Dalbergschen Schriften noch nicht das letzte Wort ist, hat Hans-Bernd Spies verdeutlicht, der es wahrscheinlich gemacht hat, dass eine Schrift zum „richtigen“ Reisen in einer Sammlung Johann Bernoullis (1783) Dalberg zugeschrieben werden muss. Der Aufsatz Spies' in dem unter Anm. 27 genannten Sammelband. Zurück
  8. Vgl. Ewald Reinhard: Karl von Dalberg als Schriftsteller. In: Historisches Jahrbuch 58 (1938), S. 440–462; Heinz Duchhardt: Dalbergs politische Publizistik. In: Jahrbuch der Vereinigung "Freunde der Universität Mainz" 1974/75, S. 47–72. Zurück
  9. Vgl. Peter Baumgart: Bildungsreformen im Hochstift Würzburg unter der Mitwirkung Dalbergs. In: Karl Hausberger (Hg.): Carl von Dalberg. Der letzte geistliche Reichsfürst, Regensburg 1995, S. 11–24. Zurück
  10. Vgl. Bernhard Post: Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774–1813, Wiesbaden 1985, S. 491. Zurück
  11. Bernd Blisch: Friedrich Carl Joseph von Erthal (1774–1802). Erzbischof – Kurfürst – Erzkanzler. Studien zur Kurmainzer Politik am Ausgang des Alten Reiches, Frankfurt am Main usw. 2005. Zurück
  12. Grundlegend: Karl Härter: Reichstag und Revolution 1789–1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich, Göttingen 1992. Zurück
  13. Heinz Duchhardt: "Einzig hoffe ich noch auf Buonaparte, der ein großer Mann ist!" Napoleons und Dalbergs Mainzer Treffen im September 1804, Mainz 2004. Zurück
  14. Liselotte Vezin: Die Politik des Kurfürsten Friedrich Karl von Erthal vom Beginn der französischen Revolution bis zum Fall von Mainz 1789–1792, Dillingen 1932. Zurück
  15. Rudolf Schäfer: Förderung von „Handel und Wandel“ in Kurmainz im 18. Jahrhundert, Frankfurt-Höchst 1968. Zurück
  16. T. C. W. Blanning: Reform and Revolution in Mainz 1743–1803, Cambridge 1974. Zurück
  17. Neben vielen Studien Helmut Mathys ist hier u. a. zu nennen: Eckhart Pick: Mainzer Reichsstaatsrecht. Inhalt und Methode. Ein Beitrag zum Jus Publicum an der Universität Mainz im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1977. Zurück
  18. Die Zitate im einzelnen nachgewiesen bei Konrad M. Färber: Carl von Dalberg – Reichsverräter oder Reichspatriot? In: Karl Hausberger (Hg.): Carl von Dalberg. Der letzte geistliche Reichsfürst, Regensburg 1995, S. 153–175, hier S. 154. Zurück
  19. Werner Hertel: Karl Theodor von Dalberg zwischen Reich und Rheinbund. Grundgedanken seiner Politik vom Regierungsantritt bis zur Gründung des Rheinbundes (1802–1806), Diss. Mainz 1952. Zurück
  20. Otto Vossler: Carl von Dalberg. In: Mainzer Zeitschrift 58 (1963), S. 79–89. Zurück
  21. Rainer Wohlfeil: Untersuchungen zur Geschichte des Rheinbundes 1806–1813. Das Verhältnis Dalbergs zu Napoleon. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 108 (1960), S. 85–108. Zurück
  22. Aretin hat sich insbesondere wiederholt mit der Koadjutorwahl von 1787 beschäftigt; zuerst: Höhepunkt und Krise des deutschen Fürstenbundes. Die Wahl Dalbergs zum Coadjutor von Mainz (1787). In: Historische Zeitschrift 196 (1963), S. 36–73, und: Karl Theodor von Dalberg zwischen Kaiser und Fürstenbund. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 16 (1964), S. 328–377; zuletzt: Die Koadjutorwahl Dalbergs. In: Karl Hausberger (Hg.): Carl von Dalberg. Der letzte geistliche Reichsfürst, Regensburg 1995, S. 25–34. Zurück
  23. Antje Freyh: Karl Theodor von Dalberg. Ein Beitrag zum Verhältnis von politischer Theorie und Regierungspraxis in der Endphase des Aufgeklärten Absolutismus, Frankfurt am Main 1978. Es handelt sich um eine Frankfurter Dissertation. Zurück
  24. Klaus Rob: Karl Theodor von Dalberg (1744–1817). Eine politische Biographie für die Jahre 1744–1806, Frankfurt am Main usw. 1984. Es handelt sich um eine Kölner Dissertation. Zurück
  25. Konrad Maria Färber: Kaiser und Erzkanzler. Carl von Dalberg und Napoleon – Die Biographie des letzten geistlichen Fürsten in Deutschland, Regensburg 1988. Es handelt sich um eine überarbeitete Münchener Dissertation. Zurück
  26. Günter Christ: Karl Theodor von Dalberg (1744–1817). In: Fränkische Lebensbilder 13 (1990), S. 92–113. Zurück
  27. Karl Hausberger (Hg.): Carl von Dalberg. Der letzte geistliche Reichsfürst, Regensburg 1995; Hans-Bernd Spies (Hg.): Carl von Dalberg 1744–1817. Beiträge zu seiner Biographie, Aschaffenburg 1994. Zurück
  28. Konrad Maria Färber: Carl von Dalberg, der letzte Mainzer Kurfürst – ein Schleppenträger Napoleons? In: Sigrun Paas/Sabine Mertens (Hg.): Beutekunst unter Napoleon. Die "französische Schenkung" an Mainz 1803, Mainz 2003, S. 73–80. Zurück
  29. Friedrich Weigend-Abendroth: Der Reichsverräter am Rhein. Carl von Dalberg und sein Widerspruch, Stuttgart 1980. Zurück
  30. Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.): Karl August von Hardenberg 1750–1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen, München 2000. Zurück
  31. Es findet sich allem Anschein nach auch nicht in dem Dalberg-Archiv, das sich nach Erwerb der entsprechenden Herrschaft von den Ostein durch die Dalberg auf Schloss Dačice im heutigen Tschechien bildete und das heute im Landesarchiv Brünn liegt. Verzeichnis des dortigen Bestandes: Pavel Balcárek: Rodinný archiv Dalbergů, 1984. Freundlicher Hinweis von Herrn Albert Kubišta, Prag, z. Zt. Stipendiat des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Zurück
  32. So Rob (wie Anm. 24), S. 15. Zurück
  33. Färber, Carl von Dalberg (wie Anm. 18), S. 153f. Zurück
  34. So Rob (wie Anm. 24), S. 419. Zurück