Bibliothek

Familienrekonstitutionsmethode und Analyse sozialer Ungleichheit: Ein oberrheinisches Beispiel

von Georg Fertig

"La méthode de reconstitution des familles, complétée par le recours à toutes les sources nominatives, pourrait devenir, pour l'histoire sociale en général [...] le plus précieux des instruments" (Jacques Dupâquier).[Anm. 1]
Wenn in Mainz seit nun fünfundzwanzig Jahren erfolgreich Historische Demographie betrieben wird, so ist dieser Erfolg nicht zuletzt mit der Methode der Familienrekonstitution verbunden. Die Leistungs-, aber auch Erweiterungsfähigkeit dieser Methode auch außerhalb des Interessenfeldes der Historischen Demographie im engeren Sinne soll im folgenden – einmal mehr – gezeigt werden. Dies soll anhand von Material geschehen, das aus einer im Erkenntnisinteresse migrationshistorischen, nur in den Mitteln zum Teil auch demographischen Arbeit stammt.[Anm. 2]
Dass ein Migrationshistoriker sich überhaupt auf das Gebiet der Familienrekonstitution begibt, hat zwei Gründe. Erstens hat sich die historische Wanderungsforschung seit dem Aufkommen der Kettenwanderungsthese verstärkt den Handlungsräumen der Migranten selbst gewidmet, im Gegensatz zum Interesse der älteren Forschung an den großen Aggregaten, wie sie auf Territoriumsebene sichtbar werden.[Anm. 3] Methodisch gesehen, liegt der Kettenwanderungsforschung eine sehr einfache Operation zugrunde: die Verknüpfung von Informationen über einzelne Personen und Familien, und zwar sowohl in den Ausgangs- wie in den Zielgebieten. Genau das wird auch mit der Rekonstitution von Familien geleistet, freilich meist beschränkt auf einzelne Orte. Was liegt näher, als die Meta-Quelle[Anm. 4] Ortssippenbuch für die Wanderungsgeschichte nutzbar zu machen? Zum zweiten hat gerade die ältere wanderungsgeschichtliche Forschung die Auswanderung schon des 18. Jahrhunderts aus den Realteilungsgebieten Südwestdeutschlands oft monokausal auf „Übervölkerung“ zurückgeführt und sich damit recht weit – und leider mit nur wenigen empirischen Belegen – auf das Gebiet der Bevölkerungsgeschichte vorgewagt.[Anm. 5] Wer solche Auffassungen kritisch überprüfen will, kann das nur mit demographischen Methoden tun, und zwar sinnvollerweise am lokalen Beispiel. Das Beispiel heißt Göbrichen, es handelt sich um ein kleines Dorf in der Nähe von Pforzheim, aus dem bereits im 18. Jahrhundert relativ viele Menschen nach Britisch-Nordamerika auswanderten, und das genau deshalb ausgewählt wurde, weil für diesen Ort sowohl ein qualitativ hochstehendes Ortssippenbuch[Anm. 6] als auch eine Reihe von Lagerbüchern[Anm. 7] vorliegt, aus denen wir den Landbesitz der einzelnen Haushalte im frühen 18. Jahrhundert ermitteln können. Wir haben in Göbrichen also die Möglichkeit, mit einem Datensatz zu arbeiten, der einerseits Familien- und personenweise die bei der Familienrekonstitution üblichen Geburts-, Heirats- und Todeseinträge enthält, der aber andererseits auch um Besitzdaten (sowie um weitere Angaben, etwa zu politischen Ämtern und Berufen) erweitert ist.[Anm. 8]
Es hat sich zeigen lassen, dass von Übervölkerung in diesem Dorf in keinem eindeutig definierten Sinn die Rede sein kann.[Anm. 9] Weder erreichte die Bevölkerung im 18. Jahrhundert jemals ein Maximum, einen „Plafond“, noch verschlechterte sich die Ernährungslage im Lauf des frühen 18. Jahrhunderts – im Gegenteil.

Um die im Text folgende - hier nicht darstellbare-

Tabelle 1: Lebenschancen und Landbesitz in Göbrichen und Bauschlott, 1701-1746

ansehen zu können, öffnen Sie bitte die pdf-Datei.

Beobachtungseinheit: Genealogische Familien (alle Variablen ggf. über mehrere Ehen des Mannes aufsummiert); Teststatistik: Spearman-Rho (Geburtenbeschränkung: Wilcoxon-Z), Signifikanz: ** 0,01, * 0,05, † 0,10

a) ohne landlose Haushalte;
b) Jahre, in denen das Paar verheiratet und die Frau nicht über 40 Jahre alt war;
c) Geburtenbeschränkung (Berechnung nach U. Pfister);
d) Anteil der Kinder mit unbekanntem Sterbejahr an allen Geburten;
e) Anteil der Kinder, die das Kalenderjahr, in dem sie 6 Jahre alt werden, nicht überlebten, an den Kindern mit bekanntem Sterbealter;
f) Bezug jeweils auf alle Kinder mit bekanntem, nach dem 6. Lebensjahr liegendem Sterbejahr.

Soziale Ungleichheit kommt nun zunächst deshalb in den Blick, weil seit Süßmilch und Malthus alle demographischen Theorien über die Steuerung des Bevölkerungswachstums auf die sozial oder situationsbedingt ungleiche Verteilung von Lebenschancen abheben.[Anm. 10] Die Erweiterung von Familienrekonstitutions- durch Besitzdaten gehört also zur demographischen Problemlogik.
Der Versuch, demographische und Besitz-Größen in Göbrichen (sowie einem Nachbarort, Bauschlott) miteinander in Beziehung zu setzen, ergab die vorliegende Tabelle 1. Zugegeben sei, dasss sich trotz der nicht gerade überwältigenden Fallzahlen und des auch nicht besonders exotischen Verfahrens der Rangkorrelation um ein förmliches Monstrum handelt. Das liegt zum einen daran, dass Korrelationstabellen im Vergleich zu den weiter verbreiteten Kreuztabellen Information recht dicht zusammenpressen: Anstelle der hier vorliegenden einen Matrix mit 105 Zellen könnte man auch ein kleines Bändchen mit 105 Kreuztabellen publizieren, bei denen dann einzeln zu erörtern wäre, ob es einen Zusammenhang zwischen den jeweils präsentierten Größen gibt. Die hier erfassten statistischen Zusammenhänge werfen aber auch inhaltliche Probleme auf – von der ersten Berechnung zu der im folgenden zu präsentierenden Interpretation führte ein langer Weg.
Die Tabelle bietet uns zunächst rein technische Antworten auf die Frage nach Besitz und Lebenschancen an. Für das Verständnis ist die Tatsache zentral, dass die einzelnen Zellen – anders als bei Kreuztabellen – in keiner additiven Beziehung zueinander stehen. Hier wird keine Gesamtpopulation in verschiedene Kategorien (Kohorten, Besitzklassen, Verheiratete und Ledige usw.) aufgeteilt, und es gibt auch keine Operation, mit deren Hilfe man aus den Werten einer einzelnen Zeile oder Spalte 100% berechnen kann. Präsentiert werden vielmehr Variablen, die – aus quellentechnischen Gründen und weil sich die Bevölkerung im Lauf der Zeit immer anders zusammensetzt – jeweils in Bezug auf unterschiedlich große Gruppen von Familien miteinander korreliert werden können. Die vertikal aufgeführten Variablen sind "demographisch", sie sind aus den im Ortssippenbuch angegebenen Daten zu Geburt, Heirat und Tod errechnet und beziehen sich auf Kleinfamilien, genau genommen auf die im Ortssippenbuch jeweils unter einer Familiennummer zusammengefassten Ehen eines Mannes. Männern ist auch der Landbesitz im Lagerbuch zugeordnet, obwohl die Besitzrechte vielfach in Wirklichkeit bei den Frauen lagen.[Anm. 11] Die Anordnung der „demographischen“ Variablen orientiert sich am Lebenslauf, als Quintessenz, als "sozialen Reproduktionserfolg"[Anm. 12] können wir die in Zeile 13 aufgeführte Größe "Anzahl der verheirateten Kinder" betrachten. Hier sehen wir in den ersten vier Spalten einen sehr markanten Anstieg der Korrelation mit dem Landbesitz von Null über 0,24 auf 0,63. Wie wir in den nächsten zwei Spalten sehen, spielt der Zuerwerb von jeweils bereits schon seit 17 oder 18 Jahren bestehenden Haushalten und sein möglicher Einfluss auf den Reproduktionserfolg dabei nicht so eine starke Rolle, schon weil nur die Hälfte bzw. ein Drittel der Haushalte in den Stichjahren 1718 und 1736 bereits so lange existierten. Die Korrelation von 0,37 in der letzten Spalte zeigt, dass ein Zusammenhang von Landbesitz und sozialem Reproduktionserfolg nicht nur in Göbrichen bestand; allerdings war er in Bauschlott bei der Generation von 1746 nicht ganz so massiv.
Damit der an den verheirateten Kindern ablesbare "soziale Reproduktionserfolg" eines Paares überhaupt zustande kommt, ist eine lange Zeit erforderlich. Landbesitz kann dabei immer wieder eine Rolle spielen – schon beim Heiratsalter (Zeilen 1, 2) und bei der Zahl der Kinder, die überhaupt geboren wurden (Zeile 6). Sodann kann die Zahl der früh sterbenden (Zeilen 8, 9) oder sonst irgendwie (als "Dunkelziffer", Zeile 7) verschwindenden Kinder von der wirtschaftlichen Stellung abhängen. Elterlicher Landbesitz kann einen Einfluss auf Heiratschancen (Zeile 11) und Heiratsalter (Zeile 12) der Kinder ausüben, er kann sogar die Lebensdauer (Zeile 14) und Abwanderungshäufigkeit (Zeile 15) der Kinder beeinflussen. Entsprechend berichtet uns die erste Spalte der Tabelle also über Prozesse, die durchschnittlich zwischen etwa 1690, als diese Haushalte gegründet wurden, und 1720 abliefen, als die Kinder dieser Paare heirateten – wenn wir die Lebenszeit dieser Kinder mit einbeziehen, geht es, wieder im Durchschnitt, sogar um die Zeit bis etwa 1742. Entsprechend beziehen sich die Aussagen zum Stichjahr 1718 durchschnittlich auf die Zeit zwischen 1704 (Haushaltsgründung) und 1736 (Heirat der Kinder) bzw. etwa 1758 (Tod der erwachsen gewordenen Kinder). Mit der Spalte „1736“ erfassen wir schließlich Haushalte, die durchschnittlich etwa 1717 gegründet wurden – die Kinder dieser Paare heirateten um 1748, lebten im Durchschnitt bis etwa 1770 und wanderten zum Teil nach Nordamerika aus. Woran lag es also jeweils, wenn in dieser langen Zeit der reproduktive Erfolg erst weniger und dann mehr eine Frage des Landbesitzes war?
Für die "Reproduktionschancen" der Generation von 1701 spielte Landbesitz offensichtlich keine Rolle – alle Korrelationen in der ersten Spalte sind schwach und nicht signifikant. Ein kaum verändertes Bild ergibt sich 1718 – zwar korreliert für diese Gruppe der Landbesitz mit der Zahl der verheirateten Kinder, die Korrelation ist aber schwach und dürfte weitgehend mit der Zahl der überhaupt geborenen Kinder zusammenhängen. Wenn wir nicht allgemein nach den Reproduktionschancen von Arm und Reich fragen, sondern speziell nach denen der Gewinner und Verlierer unter den sowohl 1701 wie 1718 existierenden Haushalten, so fällt der längere Geburtenabstand (Zeile 5) bei den Aufsteigern auf. Über die Ursachen können wir dabei allenfalls spekulieren: Investierten hier manche Paare eher in Land, andere eher in Kinder? Oder kostete der Anbau brachgefallener Ackerflächen soviel Arbeit, dass die eheliche Fruchtbarkeit in Mitleidenschaft gezogen wurde? Wir sollten diese Fragen offenlassen, zumal der (nicht signifikante) negative Zusammenhang von Geburtenbeschränkung[Anm. 13] und Zuerwerb wiederum in die umgekehrte Richtung weist.
Spätestens bei der Generation von 1736 bietet sich jedenfalls ein ganz anderes Bild: Mit dem Landbesitz hing die Geburtenzahl (Zeile 6) zusammen, was anscheinend mit der Dauer des Zusammenlebens vor der weiblichen Menopause etwas zu tun hatte (Zeilen 2, 3). Sodann gab es 1736 bei den armen Familien mehr solche Kinder, von denen nach dem 6. Lebensjahr keine Daten überliefert sind, die also nicht am Ort starben, ohne dass wir wissen können wo und wann (Zeile 7). Ein Teil dieser „Dunkelziffer“ ist der Kindersterblichkeit zuzurechnen (Tod von Kindern während einer vorübergehenden Abwesenheit der Familie), ein anderer der Abwanderung von Erwachsenen.
Ob Armut die Kindersterblichkeit in den einzelnen Familien (Zeilen 8-9) erhöhte, können wir nicht schlüssig feststellen; immerhin nahmen die entsprechenden Korrelationen zu. Der Ledigenanteil (Zeile 11) und das Heiratsalter der überlebenden Kinder (Zeile 12) erscheinen ab 1727 bei den ärmeren Familien höher als bei den reicheren. Und selbst die Zeit, welche die Kinder überhaupt zu leben hatten, erscheint bei der 1736er Generation von der wirtschaftlichen Stellung der Eltern abhängig (Zeile 14) – wenigstens soweit wir ihr Sterbealter kennen. Tendenziell gilt dasselbe auch für den Einfluss, den speziell der Zuerwerb bzw. Verlust an Land auf die Lebenschancen, vor allem auf Heiratsalter, Lebensdauer und – anders als der Landbesitz insgesamt – auch auf die Abwanderung der erwachsenen Kinder ausgeübt haben kann. Die Bauschlotter Daten schließlich bestätigen, dass etwa zur selben Zeit ein, wenn auch nicht ganz so starker, Zusammenhang der Lebenschancen mit dem elterlichen Landbesitz nicht nur in Göbrichen bestand.
Aus einer armen oder verarmenden Familie zu kommen, dürfte also um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Göbrichen (und anscheinend nicht nur dort) Folgen in allen Phasen des Lebenslaufs gehabt haben: Es bedeutete, mit weniger Geschwistern aufzuwachsen, es ging einher mit einer verlängerten Zeit im Ledigenstand und verringerte die Chancen, einen Ehemann oder eine Ehefrau zu finden, ja es konnte sogar noch im letzten Jahrhundertdrittel darüber entscheiden, wie rasch das Leben zu Ende war. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die soziale Ungleichheit auf all diesen Gebieten, außer beim Heiratsalter, noch minimal gewesen.
Was geschah in Göbrichen? Die hier präsentierten Berechnungen waren ursprünglich von der Frage motiviert, ob sich in Göbrichen so etwas wie ein süßmilchianisches "Stellenprinzip" ausmachen lässt – Besitzer einer "Stelle" könnten sich reproduzieren, Nichtbesitzer nicht ‑, das dann im Lauf der Zeit möglicherweise realteilungsbedingten Verfallsprozessen unterworfen wäre. Der Blick, mit dem etwa Werner Conze in seinem vielzitierten Habilitationsvortrag[Anm. 14] südwestdeutsche Verhältnisse schilderte, oder das heute noch unter Sozialhistorikern verbreitete Image Südwestdeutschlands als eines Übervölkerungsgebietes[Anm. 15] könnten solche Spekulationen nahelegen. Zu unseren Ergebnissen passen sie nicht. Anstatt durch unbedachtes Heiraten den Nahrungsspielraum bis an die Grenze der Tragfähigkeit zu erschöpfen, wie es die Pauperismusdebatte des 19. Jahrhunderts nahelegen würde, zogen sich die Nicht-Besitzer nolens volens immer mehr aus dem Reproduktionsprozess zurück, und "Stellen" im Sinne generationenübergreifender Bauernbetriebe gab es in dieser Realteilungsregion einfach nicht.
Wenn wir Süßmilch durch Malthus ersetzen, bietet sich eine andere Begrifflichkeit an. Wir könnten uns fragen, ob die zunehmende soziale Ungleichheit in den Lebenschancen etwa als "preventive" und "positive check" diente. Immerhin scheint zumindest das Wachstum der Nutzfläche sich in Göbrichen ab den 1720er Jahren verlangsamt zu haben; wenn man möchte, kann man hier malthusianische Probleme hineinlesen.[Anm. 16] Die soziale Ungleichheit in den Lebenschancen könnte dann funktionalistisch als eine Art dem Gesamtinteresse dienende Selbststeuerung erklärt werden, als Selbstschutz der Gesellschaft gegen den Bevölkerungsdruck. Ein anhand von Tabelle 2 möglicher summarischer Blick auf die Reproduktionschancen der Haushalte über und unter der rechnerischen Selbstversorgungsgrenze von 4,4 Hektar[Anm. 17] zeigt jedoch: Die Ungleichheit der wirtschaftlichen Gruppen in ihren Chancen auf soziale Reproduktion kann nicht dem Gleichgewicht von Bevölkerung und Nahrungsspielraum gedient haben, denn was ihnen unten an Chancen versperrt wurde, wurde oben mehr als kompensiert. Insgesamt nahm das Tempo der Reproduktion sogar leicht zu. 

Um die im Text folgende - hier nicht darstellbare-

Tabelle 2: Eltern und verheiratete Kinder in den Landbesitzerkohorten von 1701 und 1736

ansehen zu können, öffnen Sie bitte die pdf-Datei.

Wenn nicht demographische Selbstregelung, was sonst beobachten wir hier? Eine Antwort könnte möglicherweise aus dem Bereich der historischen Sozialanthropologie kommen. Sozialanthropologen beschäftigen sich vor allem mit Verwandtschaftsstrukturen über den einzelnen Haushalt hinaus, und Familienrekonstitutionsdaten, wenn sie ihrerseits miteinander verknüpft werden, enthalten genau diese Verwandtschaftsinformation. David Sabean hat in seiner Studie über das Dorf Neckarhausen argumentiert, dass im Lauf des 18. Jahrhunderts ein Muster "vertikaler" Verwandtschaftsstrukturen über Schichtgrenzen hinweg durch ein Muster „horizontaler“ Verwandtschaft innerhalb der Schichten ersetzt worden sei.[Anm. 18] Etwas gröber gesagt, geht es hier um Vetternwirtschaft: Die Reichen und lokal Mächtigen sind miteinander verwandt und nutzen ihr Kooperationsnetzwerk kräftig, die Armen bilden eine andere Verwandtschaftsgruppe, aber es nützt ihnen wenig. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war in Göbrichen tatsächlich eine solche Verwandtenclique an der Macht (und eignete sich den Großteil der Allmende an).[Anm. 19]
Dass es in Göbrichen immer lebenswichtiger wurde, zu einer wohlhabenden Familie zu gehören, passt zu dieser Hypothese einer zunehmend in ökonomisch unterschiedlich ausgestattete Verwandtschaftsgruppen zerfallenden lokalen Gesellschaft. Wenn wir sie näher überprüfen wollen, müssen wir Familien zu Verwandtschaftsgruppen rekonstituieren. Nun war es nicht so, dass bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Verwandte in der Regel ähnlich viel Land besaßen.[Anm. 20] Aber es gab doch eine ganze Reihe von Phänomenen, die zu einer solchen Entwicklung beitragen konnten. Erstens gab es einfach immer mehr Verwandte. 1701 hatte jeder Haushalt im Durchschnitt 3,3 nahe verwandte Nachbarn (anders gesagt: Zehn Prozent der Nachbarhaushalte waren nahe Verwandte), 1736 aber 7,7 (15%).[Anm. 21] Zweitens – und das ist besonders überraschend, wenn wir uns das in der Historiographie weitverbreitete Negativimage der Realteilung in Erinnerung rufen: Viele Verwandte zu haben, mit denen man sein Erbe teilte, machte einen Haushalt nicht ärmer, sondern reicher. Spätestens seit 1718 korrelierte der Landbesitz der Haushalte stark signifikant (Rho zwischen 0,42 und 0,46) mit der Zahl der vom selben Großelternpaar abstammenden Haushalte. Das ist besonders deshalb bemerkenswert, weil es nicht durch eine verstärkte Abwanderung derjenigen Haushalte bewirkt sein kann, die wenig Land erbten.[Anm. 22] Verwandte scheinen also mehr genützt als geschadet zu haben, obwohl man mit ihnen teilen musste. Und drittens bestätigt sich Sabeans zentrale Beobachtung einer zunehmenden sozialen Endogamie am Göbricher Beispiel: Während bei 15 vor 1736 geschlossenen Ehen mit Rho=0,28 nur eine schwache Korrelation zwischen dem zu erwartenden Erbgut[Anm. 23] des Bräutigams und dem der Braut bestand, stieg diese Korrelation bei 14 nach 1736 geschlossenen Ehen auf volle 0,72. Hier können wir in der Tat von einer Abschottung der Reichen und der Armen sprechen – in anderen Worten, die immer schlechteren Lebenschancen der Armen gingen die Reichen im Kreise ihrer eigenen Verwandtschaft und Schwägerschaft immer weniger an.
Es wird sich zeigen müssen, ob diese Ergebnisse nur in ein paar Orten wie Neckarhausen, Göbrichen und Bauschlott Gültigkeit haben, oder ob sie sich auf andere südwestdeutsche Gebiete übertragen lassen. Ohne eine sozialanthropologisch und ökonomisch erweiterte Familienrekonstitutionsforschung wird das offenbleiben müssen.
Abschließend sei noch einmal auf die datenanalytische Form der hier betrachteten Korrelationsmatrix eingegangen. Differentielle Demographie[Anm. 24] ist natürlich längst nichts Neues mehr, und vor allem in der ökonomischen Demographie wird schon seit langem mit weitaus raffinierteren als den hier eingesetzten Verfahren gearbeitet. Es sei aber doch daran erinnert, dass die Familienrekonstitutionsmethode ursprünglich zu dem Zweck entwickelt wurde, Aggregaten – und nicht einzelnen Familien – bestimmte Maße zuzuweisen, und dies in jeweils einer Dimension – zum Beispiel die eheliche Fruchtbarkeit oder die Lebenserwartung einer bestimmten Population zu berechnen. Auch wenn in diesem Sinne eindimensionale Fragestellungen sich nicht auf Maße der zentralen Tendenz beschränken müssen, sondern zum Beispiel auch die Streuung und Schiefe menschlicher Lebensparameter einbeziehen können, bleibt man hier doch im Bereich der univariaten Momentenstatistik. Es ist nicht die technisch-methodische Seite der historischen Demographie, es ist in erster Linie ihr mit den Namen Süßmilch und Malthus angesprochener theoretischer Hintergrund, der die Erweiterung demographischer Forschung in Richtung Agrar‑, Umwelt‑ und Wirtschaftsgeschichte nahelegt, und damit die multivariate Erweiterung der untersuchten Metaquellen. Da aber gerade diese Erweiterung ohne Verknüpfung, ohne Rekonstitution nicht gelingen kann, zeigt sich gerade in der Erweiterung die Leistungsfähigkeit der Familienrekonstitutionsmethode.

Anmerkungen:

  1. Jacques Dupâquier: La situation de la démographie historique en France. In: Gerhard A. Ritter, Rudolf Vierhaus (Hgg.): Aspekte der historischen Forschung in Frankreich und Deutschland. Schwerpunkte und Methoden (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 69), Göttingen 1981, S. 164-171 (hier S. 170). Zurück
  2. Georg Fertig: Lokales Leben, atlantische Welt. Die Entscheidung zur Auswanderung vom Rhein nach Nordamerika im 18. Jahrhundert (Studien zu Historischen Migrationsforschung 7), Osnabrück 2000. Zurück
  3. Klassische Arbeit zur Kettenwanderung: Walter Kamphoefner: The Westfalians: From Germany to Missouri, Princeton 1987. Zurück
  4. Zum Begriff der "Meta-Quelle" siehe Christian Pfister: Entvölkerung. Genese, handlungsleitende Bedeutung und Realitätsgehalt eines politischen Erklärungsmodells am Beispiel des alten Bern in der Epoche der Spätaufklärung. In: Urs Zahnd, Rudolf Endres (Hgg.): Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihr Landgebiet (Erlanger Forschungen, A 46), Erlangen 1990, S. 283-314. Zurück
  5. Die traditionelle Position vertreten u.a. Wolfgang von Hippel: Auswanderung aus Südwestdeutschland (Industrielle Welt, 36), Stuttgart 1984; Aaron Fogleman: Hopeful Journeys. German Immigration, Settlement, and Political Culture in Colonial America, 1717-1775, Philadelphia 1996. Zurück
  6. Ernst Hahner: Ortssippenbuch Göbrichen (Badische Ortssippenbücher 53), Göbrichen 1985. Zurück
  7. Fronliste GLA 180/272 (1701); Heinrich Tölke: Göbrichen, Neulingen: Monographie eines Dorfes und einer Landschaft im Norden Pforzheims, Bad Liebenzell 1995, Bd. 1, S. 121 (1718); Berain GLA, 66/2909 (Erstfassung der Einträge 1727, Endfassung der Einträge ca. 1736). Zurück
  8. Zum Konzept einer über die Familienrekonstitution hinausgehenden „total reconstitution“ (die hier so umfassend allerdings nicht angestrebt wurde) vgl. Alan Macfarlane, Sarah Harrison, Charles Jardine: Reconstructing historical communities, Cambridge 1977. Das Verfahren ist zentral für die neuere Mikrogeschichte; vgl. insbesondere Jürgen Schlumbohm: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650-1860 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 110), Göttingen 1994, S. 20 (dort auch der Hinweis auf Dupâquier, vgl. Anm. 1), sowie Hans Medick: Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126), Göttingen 1996, S. 19, S. 25-29. Zurück
  9. Vgl. Fertig, Lokales Leben (wie Anm. 2), Kapitel 3.5 (methodisch eng angelehnt an Christian Pfister, Andreas Kellerhals: Verwaltung und Versorgung im Landgericht Sternenberg. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 51, 1989, S. 151-215); wichtigste Quellen: OSB Göbrichen; Erntestatistiken der Göbricher Domäne GLA Karlsruhe 229/51819; sowie Angaben zu Ernteerträgen aus Tölke, Göbrichen (wie Anm. 7), Kapitel 5.6.2. Zurück
  10. Zum sozialpolitischen Kontext demographischer Steuerungskonzepte siehe Josef Ehmer: Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 92), Göttingen 1991. Zurück
  11. Zu Eigentumsformen in Südwestdeutschland siehe Wolfgang von Hippel: Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg (Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte, 1.1-1.2), 2 Teilbände, Boppard 1977. Zurück
  12. Vgl. Eckart Voland: Reproduktive Konsequenzen sozialer Strategien. Das Beispiel der Krummhörner Bevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel. Versuch eines Dialogs zwischen Biologen und Sozialwissenschaftlern, Frankfurt 1992, S. 290-305. Zurück
  13. Berechnet nach Ulrich Pfister: Die Anfänge von Geburtenbeschränkung: Eine Fallstudie (ausgewählte Zürcher Familien im 17. und 18. Jahrhundert) (Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 256), Bern 1985, S. 58. Zurück
  14. Werner Conze: Die Wirkungen der liberalen Agrarreformen auf die Volksordnung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozial‑ und Wirtschaftsgeschichte 38, 1949, S. 2-43. Zurück
  15. Forschungsüberblick: Fertig, Lokales Leben (wie Anm. 2), Kapitel 1.2. Neues Beispiel: Ernst Schubert: Daily Life, Consumption, and Material Culture. In: Sheilagh Ogilvie (Hrsg.): Germany. A New Social and Economic History, Vol. II 1630-1800, London 1996, S. 350-376. Zurück
  16. 1701 war nach den Mortalitätskrisen des 17. Jahrhunderts nur ein knappes Viertel der Göbricher Gemarkung angebaut. Nachdem der Markgraf 10% der Gemarkung zugunsten einer Domäne beschlagnahmt hatte, waren 1718 schon 56% der restlichen Fläche angebaut, dieser Wert stieg bis Ende des 18. Jahrhunderts noch auf 64% an. Quellen: GLA 180/272 sowie Tölke, Göbrichen (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 114. Zurück
  17. Berechnung und Quellen: wie Anm. 8. Zurück
  18. David W. Sabean: Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870 (Cambridge Studies in Social Anthropology 73), Cambridge 1990, S. 424-425. Zurück
  19. Tölke, Göbrichen (wie Anm. 7), Bd. I, S. 222, S. 282-287. Zurück
  20. Es wurden zunächst für jedes Stichjahr von 1701 bis 1736 alle Kombinationen aus je zwei Haushalten ermittelt, die miteinander durch gemeinsame Abstammung von einem Großelternpaar verbunden und im jeweiligen Stichjahr beide am Ort ansässig waren. 1701 gab es beispielsweise 172 solche Kombinationen, 1736 nicht weniger als 496. Für jede dieser Kombinationen wurde der Besitz des einen Haushaltes mit dem Besitz des anderen Haushaltes rangkorreliert. Die errechneten Kombinationen sind minimal (Betrag unter 0,05). Allenfalls soweit es sich um Eltern-Kinder- sowie Geschwister-Beziehungen handelt, scheint eine Entwicklung zu schwach positiven Korrelationen auszumachen (Korrelationen steigen um 0,37 bzw. 0,27 an). Zurück
  21. Verwandtschaft definiert als Abstammung des Mannes oder der Frau in einem gegebenen Haushalt von denselben Großeltern wie Mann oder Frau im jeweils anderen Haushalt. Zurück
  22. Ein solcher Effekt müsste sich in nennenswerten Korrelationen zwischen niedrigem Besitz und erhöhter Abwanderungsneigung niederschlagen. Wie Zeile 15 von Tabelle 1 zu entnehmen ist, korrelierte die Abwanderungsneigung in Göbrichen (anders als in Bauschlott) jedoch nur minimal mit dem elterlichen Landbesitz. Nur für die Gruppe derjenigen Elternhaushalte, deren Landbesitz 1718-1736 abnahm, lässt sich eine erhöhte Abwanderungshäufigkeit der Kinder feststellen – dies hat freilich nichts mit der Erbteilung zu tun. Zurück
  23. Das erwartete Erbe wurde aus dem jeweiligen elterlichen Landbesitz im dem Heiratsjahr vorangehenden Stichjahr unter Berücksichtigung der Zahl der lebenden Geschwister berechnet. Zurück
  24. Klassisch der Artikel von Bernard Derouet: Une démographie sociale différentielle: clés pour un système auto-régulateur des populations rurales d'Ancien Régime. In: Annales ESC 35, 1980, S. 3-41. Zurück