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Das Musterblatt (der Seitenriss) für das römische Segelboot im Oceanus-Mosaik Bad Kreuznach. Diskussion des ersten Rekonstruktionsversuches

Der Victorinus Code ®, Teil 5

von Walther Krumme

0.1.Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung diskutiert den ersten Rekonstruktionsversuch des Musterblattes (Der Victorinus Code, Teil 2) nach Durchführung eines selbst entwickelten Prüfverfahrens (Der Victorinus Code, Teil 3). Mast, Segel, Rumpf und teilweise auch das Tauwerk lassen sich aus Kreisbogensegmenten, parallel zum Durchmesser AOB verschobenen Strecken, sowie Senkrechten und Hilfslinien, deren Radien, Einsetz- und Ansatzpunkte einfach und logisch aus dem Zirkel konstruierten Pentagon abgeleitet werden können, erklären. Erkannte Messfehler der ersten Rekonstruktion werden korrigiert. Die Analyse subtiler Details bestätigt die Deutung des Motivs als Seenotszene. Die durchgreifend überarbeitete Kompositionsanalyse ist im Format von Textaufgaben zu geometrischen Zirkelkonstruktionen abgefasst, die zur eigenhändigen Prüfung einlädt. 20 analysierte Zirkelüberschläge in 87 Kompositionspunkten lassen eine Ausführung des Musterblattes mit der Anmutung einer römischen „technischen Zeichnung“ als Riss auf einem gewachsten Reißbrett wahrscheinlicher erscheinen als eine Zeichnung auf grobfasrigem Papyrus. Es wird angenommen, dass der Mosaizist das Segel im Maßstab 1:2 im Verhältnis zum Rumpf verkleinert hatte.

0.2.1. Einleitung

Durch ganz exakt gelegte Kreisbogensegmente mit erkennbar unterschiedlichen Radien und betont herausgearbeiteten Konstruktionslinien und -punkten seiner Schiffmosaike provoziert der römische Künstler VICTORINUS regelrecht die Suche nach einer geometrischen Konstruktion, der alle erkannten Kreisbögen und Linien zugeordnet werden können. Diese geometrische Figur konnte im zirkelkonstruierten Pentagon, wie es Ptolemäus als erstes Theorem des ersten Buches seiner Syntaxis Mathematica [= Almagest I, 10] beschreibt, gefunden werden. Der erste Rekonstruktionsversuch des Musterblattes [Anm. 1] wurde 2019 zusammen mit Schülern des Gymnasiums an der Stadtmauer Bad Kreuznach einem selbst entwickelten Prüfverfahren unterzogen.[Anm. 2]

Neben Übereinstimmungen mit dem Original, die in der Summe den Victorinus Code® beweisen, wurden auch Messfehler offenbar, die der Anlass sind für einen zweiten, hier vorgelegten Rekonstruktionsversuch.

Das Protokoll der jetzt vorgelegten Kompositionsanalyse des römischen Segelbootes korrigiert den in Der Victorinus Code Teil 2 zu hoch eingemessenen Bug und den zu tief gelegten Kiel [Anm. 3]; und ist durchgreifend überarbeitet worden mit der Absicht, die Nachprüfung mit eigenen Zirkeln durch die Leserinnen und Leser zu vereinfachen. (Zur Nachprüfung wird vorgeschlagen, die Strecke AOB nicht unter 26 cm anzulegen).

Das Ziel der Kompositionsanalyse ist die Erarbeitung eines fundierten Verständnisses der Kompositionstechnik des römischen Künstlers Victorinus als Voraussetzung zur Entwicklung einer wissenschaftlich begründeten Theorie zur Rekonstruktion von Fehlstellen seines Oceanus-Mosaiks.

0.3.2. These, Methode, Werkzeuge und Materialien

0.3.1.2.1. These

Angenommen wird, dass das Mosaikbild des Segelbootes nicht freihändig, sondern über ein Musterblatt komponiert wurde, dessen Zeichnung einem Code folgt. Wie noch zu zeigen sein wird (z.B. 26, 72), minimiert VICTORINUS die Messtoleranzen bis an die Grenzen des technisch Machbaren. Diese Präzision ist Voraussetzung, um die These zur Kompositionsanalyse zu formulieren:

a. sowohl alle Umrisslinien des Segelbootes aus dem zirkelkonstruierten Pentagon erklären zu wollen (= Victorinus Code®);

b. als auch die Positionierungen der Einsetzpunkte des Zirkels und die der Ansatzpunkte des Lineals einfach und logisch nachvollziehbar darstellen zu wollen.

0.3.2.2.2. Methode

Die Methodik dieser Untersuchung ist selbstständig erarbeitet. Grundlage ist die durch Frau Dr. M. WITTEYER (GDKE Mainz) freundlicherweise zur Verfügung gestellte Datei der Abb. 1, die die eben ausgesägte Mosaikscholle mit dem konservatorisch noch nicht bearbeiteten Segelboot im Originalzustand wiedergibt. Da diese Fotografie nicht im Lot über den Schiffsmittelpunkt O angefertigt worden war, wurde sie zunächst durch D. KIRSCHNER entzerrt.

Auf dieser bearbeiteten Grundlage wurde folgendes methodische Vorgehen entwickelt:

  1. Auf dem vergrößerten Ausdruck der Abb. 1. wurde zunächst das Pentagon eingemessen so wie in Punkt 3: „Der Nachweis des zirkelkonstruierten Pentagons als maßgebender geometrischer Figur“ beschrieben.
  2. Mit einem Stechzirkel wurde ein Victorinus Maß (Victorinus Maße = aus der Unterteilung der Strecke AOB des Pentagons gewonnene Maße) nach dem anderen als möglicher Radius abgegriffen. Sodann wurde manuell experimentierend versucht, den mit diesem r gebildeten Kreisbogen den sichtbaren Kreisbogensegmenten, Abständen und Messpunkten im Mosaik zuzuordnen.
  3. War der Kreisbogen zutreffend zugeordnet, wurde der Einsetzpunkt des Zirkels experimentell durch einen Schnittpunkt von zwei ebenfalls mit Victorinus Maßen zu bestimmenden Kreisbögen, oder durch den Schnittpunkt mit einem Kreisbogen und einem über Victorinus Maße generierten Kompositionselement, ermittelt. z.B.: Der Schnittpunkt des Kreisbogens r = OE mit der Senkrechten auf M nach unten ist der Konstruktionspunkt des Kieles 38. (Dabei gibt die Ziffer 38 z.B. die fortlaufende Nummerierung der Kompositionsanalyse unter Abschnitt 4 an).
  4. Die experimentell ermittelten Kreisbogensegmente und Strecken wurden zunächst protokolliert. Das Protokoll wurde im Format von Textaufgaben zu geometrischen Zirkelkonstruktionen aufgearbeitet und unter Abschnitt 4 durch fortlaufende Nummerierung gegliedert, dann mit modernen Hilfsmitteln (s. 2.2.) auf einen Zeichenkarton (= Abb. 2) übertragen. Dabei kamen folgende Werkzeuge und Materialien zum Einsatz:

0.3.3.2.3. Werkzeuge und Materialien

  • Ein Riesenteilzirkel der Firma Faber - Castell für Kreise bis 340 mm Durchmesser
  • Ein Bogenzirkel für das Baugewerbe mit Reißnadel für Kreise zwischen 15 und 480 mm Durchmesser, die anschraubbare Reißnadel wurde durch einen Fineliner 0,4 mm ersetzt
  • Ein Bleistift HB Strichstärke der Mine 0,5 mm
  • Ein Lineal 30 cm
  • Ein Geodreieck
  • Ein Zeichenkarton 61 x 56 cm. Auf Kartonage kann der Zirkelfuß fest eingesetzt werden.
  • Eine weiche Schnur

Die Diskussion, welche Materialien und Instrumente in römischer Zeit wahrscheinlich verwendet wurden, wird unter Punkt 6 geführt.

 

0.4.3. Der Nachweis des zirkelkonstruierten Pentagons als maßgebender geometrischer Figur

Das Segelboot im Originalzustand auf der ausgesägten Mosaikscholle. Bearbeitung: Daniel Kirschner. Dieses Original überliefert noch den linken, angewinkelten Unterschenkel des Segelführers, der sich kniend zwischen die Bordwände festkeilt. Ein subtiles Detail der Bordwand unter D zeigt die linke Backe des Körperendes des Matrosen, der ebenfalls kniend an die Bordwand steuerbord gepresst kauert, sich mit beiden Händen am Mastbaum anklammert und sich mit der Pobacke abstützt. Das deutet auf eine Seenotszene mit starker Schlagseite nach Steuerbord hin. Mit dem entschlüsselten Maß CE des Victorinus-Code® lässt sich jetzt unter Nr. 71 der Kompositionsanalyse der bei der Bergung angesägte Kiel rekonstruieren. [Bild: GDKE Mainz]

1. Es wird beobachtet und erwogen:
Das subtile Detail einer mit vier statt drei schwarzen Mosaiksteinchen gearbeiteten Öffnung der dritten Amphore (ab Heck gezählt), könnte dem Augenschein nach auf den Mittelpunkt O einer für das Pentagon konstitutiven Strecke AOB hinweisen. (Die Rekonstruktion des Seeruderschiffes wird zeigen, dass dort der Punkt O ebenfalls mosaizistisch besonders hervorgehoben ist).

2. Über diesen angenommenen Punkt O hat der Meister Victorinus sieben Wellen (= mit drei oder vier dunklen Mosaiksteinen gebildete kleine Striche) genau auf Linie positioniert. Versuchsweise wird diese siebenfach gestrichelte Linie als Senkrechte auf O aufgefasst. In der originalen Lage des Mosaiks zeigte diese Senkrechte genau nach Norden. Im rechten Winkel zu dieser Senkrechten wird eine Strecke AOB über die Öffnungen der Amphoren analog zur Künstlersignatur angelegt.[Anm. 4] Punkt A dieser Strecke AOB markiert dann die äußerste Spitze des Bugschnabels steuerbord. Wird dann A über O gespiegelt, wird die Position von B gewonnen.

3. Setze jetzt den Zirkel mit r = OA ein in O und schlage einen Vollkreis. AOB ist dessen Durchmesser.

4. Der Schnittpunkt mit der Senkrechten über O = C.

5. Halbiere OA = D.

6. Setze den Zirkel mit r = DC ein in D.

7. Ziehe jetzt einen Kreisbogen von C zunächst bugwärts bis zu einer gedachten Senkrechten über D, sodann heckwärts über die Figur des Segelführers bis zum Schnittpunkt mit AOB = E. In der originalen Lage des Mosaiks ist dieser Kreisbogen in Richtung der Mittagslinie Süd-Nord ausgezogen gewesen. Ziehe mit dem Lineal eine Strecke von C nach E = S5, die konstitutive Sehne des Pentagons.

8. Setze den Zirkel mit r = CE (= S5 des zirkelkonstruierten Pentagons nach Ptolemäus [Almagest I, 10]) ein in C und konstruiere das Pentagon rechts herum. Der Schnittpunkt der 2. Sehne S5 mit AD = S, der Schnittpunkt der vierten Sehne S5 mit BE = S1.


Abb. 2: Der zweite Rekonstruktionsversuch des Musterblattes mit dem Seitenriss des Segelbootes, AOB = 30 cm. Auf der rechten Seite sind die aus der Unterteilung der Strecke AOB generierten Maße angegeben. [Bild: Walther Krumme]

0.5.4. Das Protokoll der Kompositionsanalyse

0.5.1.4.1. Die Komposition von Mast und Segel

9. Setze den Zirkel mit r = AS ein in O und schneide AOB bugwärts = M. Errichte über diesen Schnittpunkt eine Senkrechte nach oben (= Vorderseite Mastbaum) und nach unten.

10. Setze den Zirkel mit r = DC ein in B und schneide AOB = M1. Errichte über diesen Schnittpunkt eine Senkrechte nach oben = Rückseite Mastbaum. Die Strecke zwischen M und M1 bezeichnet den Mastdurchmesser. (Vgl. 34).

11. Setze den Zirkel mit r = OE ein in M und schneide die Senkrechte über M = Höhe des Unterlieks (der Unterkante) des Segels.

12. In diesen Schnittpunkt 11 setze den Zirkel mit r = GE (Punkt G = [OB:2]) und schneide die Senkrechte über M nach unten. Ab diesem Schnittpunkt biegt sich der Mast heckwärts. Hier wird offensichtlich eine Seenotszene gezeigt: der Mast droht unter der zu starken Windlast abzubrechen. (Über das Maß GE sind auch die Abstände der senkrecht aufsteigenden Wellenlinien mittschiffs komponiert).

13. Verschiebe die Strecke ME parallel zu AOB durch den Schnittpunkt 11 = ein Streckenabschnitt bildet das Unterliek (Unterkante) Segel ab.

14. Setze den Zirkel mit r = BE ein in den Schnittpunkt der Sehne CE (S5) mit der Unterkante des Segels 13 und schneide diese parallel verschobene Strecke 13 bugwärts = wichtiger Messpunkt zur Konstruktion des Buges. Verbinde die Schnittpunkte 12 und 14 = Vorderseite des gebogenen Mastabschnittes.

15. Setze den Zirkel mit r = GE ein in O und schneide AOB nach achtern (heckwärts).

16. Ziehe eine Hilfslinie von Schnittpunkt 15 zuerst nach oben durch den Schnittpunkt 11 über die Höhe von C hinaus, dann auch nach unten durch den Schiffsrumpf: die im Original noch erkennbare Beschädigung(?) des Bordrandes steuerbord (vgl. Abb. 1) wird mittig geschnitten. (Möglicherweise ist das der zweite Hinweis auf eine offensichtliche Seenotszene: vermutlich droht das Schiff auseinander zu brechen). Auf dieser Hilfslinie werden nach oben die Konstruktionspunkte des Segels EB1 – EB3 angelegt werden.

17. Setze den Zirkel mit r = ME ein in M und schneide die parallel verschobene Strecke 13 = RS4. Ziehe den Kreisbogen nach links weiter bis zu Schnittpunkt mit Kreisbogen 7 und beobachte, wie die rechte Hand des Segelführers in diesen Kreisbogen wie in ein Tau fasst. (Vgl. 31).

18. Ziehe jetzt den Kreisbogen 17 durch die Segelfläche nach rechts und schneide die Linie 16 = EB3. Im Mosaik ist dieser Zirkelschlag auf der Segelfläche präzise erkennbar verlegt. (Vgl. 21). Auf den Zirkelschlag ist auch ein Tauabschnitt gelegt.

19. Setze den Zirkel mit r = BE ein in D. Der Schnittpunkt mit der Senkrechten über M markiert die Daumenspitze der linken Hand des Matrosen. (Vgl. 36). Ziehe den Kreisbogen jetzt nach unten bis etwa zur Rumpfmitte. (Beobachtet wird, dass die linke Hand des Matrosen wie eine „naive“, unförmige Klaue gearbeitet ist, obwohl der Künstler die Abbildung einer Hand, die einen Gegenstand umfasst, mosaizistisch beherrscht. Vergleiche dazu die Qualität der Abbildung der Hände, die in der Künstlersignatur das Ruder des Fischernachens umfassen. Sollte hier durch den Kontrast von „naiver“ und „meisterhafter“ Wiedergabe eine zweite Ausformung des „Victorinus-Paradox´“ vorliegen, die eine messtechnische Aussage transportiert? Die „Klaue“ umklammert nämlich genau den Fluchtpunkt des Radialstrahlbündels, das den Sturz der Säulen in der obersten Baustruktur der Bildinsel, gedeutet als Tempel, einmisst. (Vergleiche dazu den Exkurs: Der zergliederte Mast, in: Der Victorinus Code Teil 3).

20. Setze den Zirkel mit r = BE ein in O und schneide den Kreisbogen 19 nach unten. Im Mosaik werden links und rechts neben diesen Schnittpunkt das erste und zweite Wellensymbol ab Bug auf den Rumpf komponiert, die offensichtlich als dritter Hinweis auf eine Seenotszene den Grad der gefährlichen Schlagseite nach steuerbord anzeigen.

21. In diesen Schnittpunkt 20 setze den Zirkel ein mit r = CE und ziehe den Zirkel ab dem Schnittpunkt mit Kreisbogen 7 entlang eines Tauabschnittes quer durch das Segel. Mund, Nase und linkes Auge des Segelführers sind auf diesen Kreisbogen aufgesetzt. Das Kreisbogensegment dieses Zirkelschlages ist erneut in der Segelfläche erkennbar mit äußerster Präzision verlegt (vgl. 18) und gibt die Höhe von RS3, und im Schnittpunkt mit Linie 16 EB2 an.

22. Setze den Zirkel mit r = BE ein in den Schnittpunkt 11 und schneide den Kreisbogen 21 nach links = RS3.

23. Setze den Zirkel mit r = OA ein in den Schnittpunkt der vierten mit der fünften Sehne S5 des Pentagons mit dem Kreisbogen r = OA um O und schneide nach oben die fünfte Sehne S5 des Pentagons = RS2.

24. Setze den Zirkel mit r = OD ein in RS4 17 und setze eine Markierung links über C.

25. Setze den Zirkel mit r = OD ein in den Schnittpunkt 11 und schneide die Markierung 24 = RS1.

26. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 25 und schlage einen Halbkreis, in Höhe RS1 beginnend, dann nach unten ausgezogenen zum Schnittpunkt mit der Unterkante des Segels 11 und weiter bis RS4. Dieser Kreisbogen umfasst zusammen mit seinem Einsetzpunkt 25 genau die vier Ecken des Segels. Seine Exaktheit ist ein Beweis für die von VICTORINUS minimierte Messtoleranz (vgl. Abb. 2).

27. Setze den Zirkel mit r = CE ein in O und schneide Kreisbogen 26 = Spitze der Rahe bugwärts.

28. Verschiebe die Unterkante des Segels 13 parallel zu AOB nach oben durch RS1. Von RS1 bis zum Schnittpunkt mit der Senkrechten auf M bildet diese Strecke die Rahe steuerbord ab. (Das Segel ist nach Steuerbord achtern umgeschlagen, ein weiterer Hinweis auf eine Seenotszene).

29. Ziehe eine Linie von Schnittpunkt 27 bis zum Schnittpunkt 28 mit der Senkrechten auf M = Rahe backbord.

30. Setze den Zirkel mit r = M1E ein in RS4 und schneide die Linie 16 nach oben = EB1. Ziehe den Zirkelschlag weiter nach oben durch die Rahe 29 bis zum Schnittpunkt mit der Senkrechten auf M = auf dieses Kreissegment ist das zweite Tau der Rahe ab Bug komponiert, auch der Ansatz des vierten Taues am Mast wird angezeigt.

31. Setze den Zirkel mit r = OS ein in M und ziehe einen Kreisbogen unter RS3 beginnend, nach unten. Die linke Hand des Segelführers fasst in diesen Kreisbogen wie in ein Tau. (Vgl. 17). Der linke Unterarm wird durch diesen Kreisbogen eingemessen.

32. Setze einen Entfernungsmesser ein in RS4 und rolle den Rand des Segels nach oben steingenau ab = OE.

33. Setze den Entfernungsmesser auch ein in den Schnittpunkt 11 und rolle den Rand des Segels nach oben steingenau ab = OE. Der Befund 32 und 33 zeigt, dass diese Ränder mit einer Messschnur, abgelängt auf das Maß OE, geformt worden sind, wie es Schüler des Gymnasiums an der Stadtmauer Bad Kreuznach experimentell nachweisen konnten.[Anm. 5] Schneide also eine weiche Schnur auf die Länge OE und lege sie wie den Segelrand zunächst über die Konstruktionspunkte RS1 – RS4, dann über 27, EB1 – EB3, 14. Zeichne diese Lage nach.

34. Paradoxerweise ist die Senkrechte auf M, die die Vorderseite des nicht gebogenen Mastbaumes abbildet, zugleich die Rückseite des Toppmastes. Der Mastdurchmesser wurde unter Punkt 10 ermittelt. Damit signalisiert der Toppmast wieder das bereits bei der Analyse der Künstlersignatur [s. Anm. 4] beobachtete „Stilmittel des demonstrativ provozierenden Schiefstandes“ [das Victorinus-Paradox]. Die Vorderseite des Toppmastes ist genau parallel anliegend zu einer lotrechten Begrenzung von massiven Tonnengewölben, gedeutet als Mole, konstruiert und gibt die Sicht auf eine sehr enge, künstlich angelegte (über das Lineal gezogene Linien) Hafeneinfahrt frei (vgl. Abb. 1). Die durch den versetzten „Schiefstand“ des Topmastes angezeigte, weit ausgreifende Linienführung weist auf eine Flucht vom Ansatz des Toppmastes in Höhe der Rahe bis zu einem im Mosaik genau markierten Schnittpunkt einer Säulenbasis des Tempeldaches mit dem Dachfirst eines kolossalen Gebäudes. (Die Fluchten sind sichtbar gemacht im Exkurs: Der zergliederte Mast, in: Der Victorinus Code Teil 3). Diese Linienführung zeigt wohl die genaue Route in die sich nach Südwesten öffnende, enge Hafeneinfahrt an: der Kurs ist offensichtlich dann richtig angelegt, wenn der Steuermann das Schiff so ausrichtet, dass Mast, Bug, die Seite einer Konstruktion mit Tonnengewölben steuerbord und die Säulenbasis unter dem Spitzdach Bug voraus eine Flucht bilden.

35. Setze den Zirkel mit  r = AS ein in M und schneide die Senkrechte auf M nach oben = Höhe der Daumenspitze der linken, den Mast umklammernden Hand des Matrosen. Die linke Daumenspitze zeigt also auf den Schnittpunkt zweier Kreisbögen (vgl. 19).

36. Setze den Zirkel mit r = CE ein in den Schnittpunkt 35 und schneide die Senkrechte auf M = Mastspitze.

37. In den Schnittpunkt 11 setze den Zirkel ein mit r = OE und schneide die Senkrechte auf M (= Rückseite Toppmast) nach oben = oberster Ansatz des Tauwerks am Mast.

Der Vorschlag, das Segel als Dschunken Segel zu deuten (vgl. Anm. 1), bleibt unverändert in Kraft.

0.5.2.4.2. Die Komposition der Rumpfschale

38. Setze den Zirkel mit r = OE ein in den Schnittpunkt 35 und schneide die Senkrechte auf M nach unten = Kompositionspunkt Kiel.

39. Setze den Zirkel mit r = OA ein in den Messpunkt 14. Schneide den Vollkreis r = OA um O nach rechts unten = Ansatz des Bugschnabels Bordwand backbord.

40. Setze den Zirkel mit r = OE ein in den Schnittpunkt 39 und schneide den Vollkreis r = OA um O nach unten, ziehe dann den Kreisbogen über eine gedachte Senkrechte auf A nach unten weiter nach rechts aus. Das überdimensionale Schneckenhaus fußt auf diesem Kreisbogen.

41.  Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkel ein in den Schnittpunkt 40, schneide D und ziehe den Kreisbogen nach rechts bis zum Schnittpunkt 39 = Bordwand backbord des Bugschnabels.

42. Ziehe eine Hilfslinie von C über D durch den Rumpf nach unten bis zur 2. Sehne S5 des Pentagons.

43. Setze den Zirkel mit r = CE ein in den Schnittpunkt der Senkrechten auf O mit dem Unterliek (Unterkante) des Segels 13 und schneide nach rechts den Vollkreis r = OA um O = Ansatz Bordwand steuerbord des Bugschnabels.

44. Setze den Zirkel mit r = CE ein in C und schneide die Senkrechte auf M nach unten, ziehe dann den Kreisbogen nach rechts oben bis zu einer gedachten Senkrechten nach unten auf D = Segment Bordwand steuerbord.

45. Setze den Zirkel mit r = DS ein in den Schnittpunkt 43, beginne den Zirkelschlag nach unten ab der zweiten Sehne S5 des Pentagons, schneide dann den Vollkreis  r = OA um O nach unten und ziehe den Zirkel weiter nach rechts oben: mit diesem Zirkelschlag wird eine halbe Windung des Schneckenhauses konstruiert und die Weite der Öffnung des Schneckenhauses eingemessen, d.h. Höhe, Steigung des Gewindes und Durchmesser der Öffnung werden über Victorinus Maße konstruiert und nicht nach der Natur abgebildet.

46. Setze den Zirkel mit r = ME ein in den Kompositionspunkt Kiel 38 und schneide die Senkrechte auf O nach oben, und ziehe zur Markierung den Kreisbogen nach links durch die senkrecht aufsteigende Wellenlinie.

47. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkel ein in den Schnittpunkt 46 (mit der Senkrechten auf O) und ziehe den Kreisbogen ab 38 (Kompositionspunkt Kiel) nach rechts durch die Hilfslinie 42 und schneide AOB = Bug.

48. Setze den Zirkel mit r = OD ein in den Schnittpunkt 47 (mit der Hilfslinie 42) und schneide den Kreisbogen 40.

49. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkel ein in den Schnittpunkt 48 und ziehe einen Kreisbogen ab Hilfslinie 42 bis zum Schnittpunkt mit dem Vollkreis r = OA um O = Abschluss Konstruktion Bugsteven.

50. Setze den Zirkel mit r = DS ein in den Schnittpunkt 47 (mit AOB) und schneide den Kreisbogen 45.

51. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 50 und ziehe einen Kreisbogen ab Schnittpunkt 47 (mit AOB) nach rechts bis A = Bordwand steuerbord Bugschnabel.

52. Setze den Zirkel mit r = CE ein in den Schnittpunkt 47 (mit AOB) und schneide den Kreisbogen 30 = Ansatz des zweiten Taues ab Bug gezählt auf der Rahe.

53. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 52 und ziehe einen Kreisbogen ab Schnittpunkt 47 bis zum Schnittpunkt mit der Hilfslinie 42.

54. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 53 (mit der Hilfslinie 42) und schneide nach oben nahe C den Vollkreis r = OA um O.

55. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 54 und ziehe den Zirkel von der Hilfslinie 42 bis zur Senkrechten nach unten auf M = Segment Bordwand steuerbord. Damit ist die Konstruktion des Bugschnabels abgeschlossen.

56. Setze den Zirkel mit r = CE ein in M und setze eine Markierung links über RS1.

57. Setze den Zirkel mit gleichem r ein in G und schneide die Markierung 56. Im Mosaik markiert dieser Schnittpunkt den Ansatz des Podestes, auf dem der Angler sitzt.

58. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkel ein in Schnittpunkt 57 und ziehe einen Kreisbogen von M durch G bis zum Schnittpunkt mit der Sehne CE (S5) = Bordwand backbord mittschiffs. Im Mosaik positioniert dieser Kreisbogen auch das Subligaculum (den Lendenschurz) und den Gürtel des Segelführers.

59. Setze den Zirkel mit r = OD ein in E und schneide den Kreisbogen 7 nach oben. Ziehe den Zirkel etwas nach links. Im Mosaik markiert dieser Zirkelschlag die Höhe der Fingerspitzen der linken Hand des Segelführers.

60. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 59 (mit 7) und ziehe einen Kreisbogen von E bis zum Schnittpunkt mit der 4. Sehne S5 des Pentagons.

61. Setze den Zirkel mit r = MS ein in 35 und setze eine Markierung über RS4. Im Mosaik ist über dieses Kreisbogensegment ein Tau gelegt.

62. Setze den Zirkel mit r = ME ein in den Schnittpunkt 60 (mit der 4. Sehne S5) und schneide die Markierung 61. Auf diesen Schnittpunkt ist ein Tau gelegt.

63. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 62 und ziehe einen Kreisbogen von Schnittpunkt 60 bis zur Höhe der Fingerspitzen 59 = steil aufragende Bordwand backbord Heck. Diese Bordwand ist damit wie der Bug Steven aus einer Kombination der Kreisbögen r = OD und r = ME konstruiert.

64. Setze den Zirkel mit r = CE ein in B und schneide die Senkrechte auf M1 (Rückseite Mastbaum).

65. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 64 und ziehe einen Kreisbogen von B bis zur Höhe der Fingerspitzen 59 = steil aufragendes Heck.

66. Setze den Zirkel mit r = OD ein in B und ziehe einen Kreisbogen ab G nach links oben, schneide die Sehne CE (S5) und ziehe den Kreisbogen weiter bis zur 5. Sehne S5 des Pentagons = Kompositionslinie zur Körperhaltung des Segelführers, im Schnittpunkt mit dem Vollkreis r = OA um O auch ein Kompositionspunkt zur Höhe der Küstenlinie.

67. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt mit der Sehne CE (S5) 66 (der Gürtel des Segelführers ist auf den Schnittpunkt aufgesetzt) und ziehe einen Kreisbogen von B nach unten bis zum Schnittpunkt mit der 4. Sehne S5 des Pentagons = Segment des Heckstevens.

68. Setze den Zirkel mit r = ME ein in den Schnittpunkt 46 (mit der Senkrechten auf O) und ziehe den Zirkel vom Konstruktionspunkt Kiel 38 bis zum Schnittpunkt mit der Senkrechten nach unten auf O = Segment des Kieles.

69. Setze den Zirkel mit r = CE ein in den Schnittpunkt 67 (mit der 4. Sehne S5 des Pentagons) und setze eine Markierung nach oben in die Segelfläche.

70. Setze den Zirkel mit r = CE ein in den Schnittpunkt 68 (mit der Senkrechten nach unten auf O) und schneide die Markierung 69.

71. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 70 und verbinde den Schnittpunkt 68 (Senkrechte nach unten auf 0) mit dem Schnittpunkt 67 (4. Sehne S5). Mit diesem Zirkelschlag könnte die ursprüngliche Form des Kieles rekonstruiert werden.

72. Setze den Zirkel mit r = CE ein in RS2 (23), schneide die Senkrechte auf 0 nach unten und ziehe den Kreisbogen nach links bis zum Schnittpunkt mit einer gedachten, heckwärts verlängerten Unterkante des Segels 13. Dieser Kreisbogen ist die Grundlinie, auf der sich der Pinselstrich der Rumpfbemalung aufbaut. Der Künstler Victorinus arbeitet den Kontrast zwischen den exakten Konstruktionslinien einer römischen „technischen Zeichnung“ und dem unregelmäßig an- und abschwellenden Pinselstrich aus der freien Hand eines römischen Werftarbeiters mosaizistisch meisterhaft heraus (vgl. Abb. 1), ein weiterer Hinweis auf die außerordentliche Kunstfertigkeit und Genauigkeit seiner Arbeitsweise, die die Entdeckung des Victorinus Code® und des „Victorinus Paradoxes“ erst ermöglichte. Die aus dem Heck hervorschießende Schlange „küsst“ diesen Kreisbogen, der zugleich den Abschluss der Heckzier markiert. Der Schnittpunkt dieses Zirkelschlages mit dem Heck 65 ist im Mosaik durch einen kleinen Absatz genau sichtbar gemacht. Der „Kuss“ der Schlange zeigt erneut, wie die Messtoleranz durch VICTORINUS bis an die Grenze des technisch Machbaren minimiert wurde.

73. Setze den Zirkel mit r = CE ein in den Schnittpunkt des Kreisbogens 72 mit der Senkrechten auf O nach unten und schneide diese Senkrechte auf O jetzt nach oben.

74. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 73, schneide die Senkrechte auf O nach unten und ziehe den Zirkel nach rechts bis zur Hilfslinie 42 = Fortsetzung der Grundlinie der Rumpfbemalung.

75. Setze den Zirkel mit r = CE ein in D und schneide den Vollkreis r = OA um O links oben neben dem Segel.

76. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in den Schnittpunkt 75, schneide D, ziehe dann den Zirkel weiter nach links durch die Senkrechte nach unten auf O bis zur 4. Sehne S5 des Pentagons, = Bordwand steuerbord mittschiffs und Kompositionslinie für den linken Oberschenkel des an die Bordwand steuerbord gepresst kauernden Matrosen. (Diese Haltung ist vermutlich ein weiterer Hinweis auf eine Seenotszene: bei starker Schlagseite nach steuerbord geht es nur noch um Rettung des Lebens durch Anklammern an den Mastbaum. Ein subtiles Detail der Bordwand steuerbord zeigt die Abbildung der linken Backe seines Körperendes unter D: der Matrose kauert auf den Knien eng an die Bordwand gepresst und stützt sich mit seinem Körperende auf den Bord Rand. (Vgl. Abb. 1 in Vergrößerung).

77. Setze den Zirkel mit r = OD ein in den dritten Schnittpunkt 76 (mit der 4. Sehne S5) und schneide den Kreisbogen 7 nach oben. In diesen Schnittpunkt greift auch die linke Hand des Segelführers.

78. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkel ein in den Schnittpunkt 77 und ziehe den Kreisbogen ab dem Schnittpunkt mit der 4. Sehne S5 des Pentagons nach oben bis zur Höhe der Fingerspitzen 59 = steil aufragende Bordwand Heck steuerbord.

79. Setze den Zirkel mit r = BE ein in B und schneide das Heck 65 nach oben.

80. Setze den Zirkel mit r = AS ein in den Schnittpunkt 79 und setze eine Markierung unterhalb des Schlangenmaules.

81. Setze den Zirkel mit r = OD ein in S1 und schneide die Markierung 80.

82. Setze den Zirkel mit r = AS ein in den Schnittpunkt 81, schneide den Kreisbogen 72 nach oben und ziehe einen Viertelkreis nach rechts bis zum Anschluss an 79 = Unterkante Heck Zier.

83. Setze den Zirkel mit r = OS ein in E und schneide den Kreisbogen 72 nach oben = oberster Punkt der Heck Zier.

84. Setze den Zirkel mit r = AS ein in den Schnittpunkt 83 und schneide den Kreisbogen 72 nach unten.

85. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkel ein in den Schnittpunkt 84 und ziehe nach oben einen Viertelkreis nach rechts = Oberkante Heck Zier, nach links = Kompositionslinie der mythischen Schlange. Der Anschluss an 63 wird von Hand angepasst, auch dieses „ungenaue“ Detail überliefert das Mosaik und unterstreicht damit paradoxerweise seine Messgenauigkeit.

86. Setze den Zirkel mit r = OA ein in E und schneide die Sehne CE (S5).

87. Im Zirkelüberschlag mit gleichem r setze den Zirkelfuß ein in Schnittpunkt 86 und ziehe einen Kreisbogen von E bis etwa zur Höhe der Unterkante Segel 14. Wie bei der Senkrechten auf O machen erneut vier Wellensymbole über dem Heck eine gestrichelte Konstruktionslinie im Mosaik sichtbar (vgl. Abb. 1). Dieser Befund ist für die Rekonstruktion der Originallage der Mosaikschollen zueinander von großer Bedeutung (mosaizistische Quellenkritik): Verschiedene Wellenlinien, die z B. auch die Senkrechte über O sichtbar machen, werden wie oben gezeigt, über Victorinus Maße und Radien komponiert und machen damit Konstruktionslinien sichtbar, die auch über die Ränder der ausgesägten Mosaikschollen ausgreifen können.

0.6.5. Ergebnis der Kompositionsanalyse

Das Segelboot im Oceanus-Mosaik Bad Kreuznach ist durch den signierenden Künstler VICTORINUS nicht freihändig, sondern über ein Musterblatt verlegt worden. Durch die mosaizistische Präzision, die Messtoleranzen bis an die Grenzen des technisch Machbaren minimiert in Verbindung mit betont herausgehobenen Messpunkten konnte das Mosaik decodiert und damit das Musterblatt rekonstruiert werden.

Mast und Segel sind mit Hilfe von Kreisbögen, einer konstruierten Hilfslinie und zu AOB parallel verschobenen Strecken komponiert, das Segeltuch ist mit einer Messschnur entfaltet. Alle Radien und Mittelpunkte dieser verwendeten Kreisbogensegmente können einfach und logisch aus den Unterteilungen von AOB (vgl. Abb. 2) abgeleitet werden. Die Senkrechten, die den Mast abbilden, sind logisch erklärbar auf AOB aufgesetzt.

Der Rumpf ist aus aneinander gefügten Kreisbogensegmenten und einer Hilfslinie komponiert, deren Radien, Mittel- und Ansatzpunkte sich ebenfalls einfach und logisch aus den Unterteilungen von AOB erklären lassen.

0.7.6. Diskussion

1. Der zweite Rekonstruktionsversuch macht die Annahme wahrscheinlicher, dass der Entwurf des Musterblattes als Riss auf ein mit Wachs poliertes Reißbrett gezirkelt worden sein könnte. Erste Versuche zeigten, dass sich die protokollierten 20 Zirkelüberschläge technisch einfacher und genauer mit einem Stechzirkel auf einem gewachsten Reißbrett als mit einem Einsatzzirkel auf grobfasrigem Papyrus durchführen lassen. Das gilt insbesondere für die Zirkelüberschläge 52-58. Der Zirkelfuß hat auf Holz einen festeren Stand und römische Reißzirkel sind archäologisch belegt. Die ungefähre Größe des Reißbrettes könnte aus der Genauigkeit, mit der die Zirkelschläge im Mosaik gezogen wurden, erschlossen werden: bei Versuchen des Verfassers zeigte sich, dass die Messtoleranz zum Einsatz des Zirkelfußes bei < 0,5mm liegt, wenn die Kreisbögen das Original bei A0B = 26 cm genau wiedergeben sollen. Deshalb wird angenommen, dass das vermutete Reißbrett so groß gewesen sein musste, dass A0B mit einer Länge von etwa 30cm (was ungefähr einem römischen Fuß entsprochen hätte) angelegt worden war. Die ungefähre Größe des vermuteten römischen Reißbrettes hätte dann in etwa zwischen den heutigen Größen DIN A 4 und DIN A 3 gelegen. Die Genauigkeit des Risses bei der Rekonstruktion wird auch durch Verwendung von mehreren Reißzirkeln, die auf jeweils ein häufig benutztes Maß (z.B. AS, OA, OD, CE usw.) justiert sind und nur für dieses eine Maß gebraucht werden, gesteigert.
In römischer Zeit könnte demnach folgendes Werkzeug und Material zum Einsatz gekommen sein: Ein Reißbrett mit gewachster Oberfläche, ein Lineal aus Holz, Messschnüre und ein oder mehrere Reißzirkel, wobei sich der Fuß eines Reißzirkels auch als Reißstift verwenden lässt.
Victorinus minimierte bei der Ausführung seines Mosaiks ganz offensichtlich die Messtoleranzen bis an die Grenze des technisch Möglichen. Das kann u.a. am Zirkelschlag 26 gezeigt werden, der mit Einsatzpunkt und Kreisbogen alle vier Messpunkte des Segels perfekt umreißt. Diese kunsthandwerkliche Präzision war die Voraussetzung für die Entdeckung des Victorinus Code® und ist nach Meinung des Verfassers am besten auf einem Reißbrett ausführbar.

2. Der Bug wurde in Perfektion über den Victorinus Code® komponiert 38 – 55 (Abb. 2). Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auch der verlorene Bug des Seeruderschiffes analog dem Bug des Segelbootes über Victorinus Maße komponiert worden ist. Diese Rekonstruktion, von Daniel Kirschner in „Der Victorinus Code Teil 4“ vorgelegt, konnte nach Kriterien erfolgen, die sich wissenschaftlich nachvollziehbar aus dem Mosaik selbst erschließen lassen.

3. Das Mosaik des Segelbootes bildet ebenso wie die Abbildung des Seeruderschiffes ein verzwergtes Segel ab, das bei einer angenommenen Länge von A0B = 9m eine Fläche von gerade einmal 5,9m² aufweist.[Anm. 6] Damit kann wohl eher nicht „schnell und wendig“ gefahren werden. Vielleicht bildete der Künstler das Segel im Maßstab 1:2 im Verhältnis zum Rumpf ab? Unter dieser Annahme würde sich die tatsächliche Segelfläche von 5,9m² auf 11,8m² aufblähen, eine wesentlich wahrscheinlichere Größe bei AOB = 9m.

4. Die Abbildung der Besatzung des Segelbootes macht im Gegensatz zur Besatzung der Fischernachen die künstlerische Eigenständigkeit des Meisters Victorinus deutlich. Er arbeitete nicht mit Körpermaßen, aus denen ein Proportionssystem entwickelt wurde, sondern entwickelte die Körper und z.T. die Landschaft auf Kreisbögen, deren Radien sich aus der Konstruktion des Pentagons ableiten. Für Personen siehe: 17, 19, 21, 31, 35, 58, 59, 66(!), 76, 77; für das Schneckenhaus: 40, 45; für die Schlange: 85; für den Küstenverlauf bzw. die Landschaft: 57 und 66; für den Wellenverlauf: 2, 12, 15, 87; subtile Details: 1, 72, 76, 85. Angeregt wird eine eigene Untersuchung des Gegensatzes von konstruierten und abgebildeten Körpern im Mosaik. Die Analyse der Künstlersignatur zeigte ja bereits, dass für den Meister Victorinus die Sehne S5 „das Maß aller Dinge“ ist: exakt eingemessen über dieses Längenmaß kalligraphierte er seinen Namenszug und lässt darunter nur seinen Kopf als Körpermaß zur Formatierung eines Uferabschnittes gelten: die Maßeinheit „Kopf“ ist jedoch auf dem berühmten Stein von Samos mit seinen verschiedenen Körpermaßen nicht eingraviert, unterstreicht aber nach Meinung des Verfassers die genial zu nennende  künstlerische Eigenständigkeit des Meisters Victorinus, deren Verständnis sich durch Kompositionsanalyse erschließt.

5. Es könnte der Einwand erhoben werden, dass die subtilen Details, wie z.B. das eines angewinkelten Unterschenkels des Segelführers und das der linken Backe des Körperendes des Matrosen auf der Bordwand steuerbord (Abb. 1) Marginalien sind, die in der Gesamtwürdigung des Mosaiks vernachlässigt werden können. Dem ist zu widersprechen.
So wie ein einziger Mosaikstein den Hinweis auf den Konstruktionspunkt 0 des Zirkel konstruierten Pentagons gibt, so erweisen sich die genannten Details als ein Schlüssel zum Verständnis des Mosaiks: die jetzt konservatorisch bearbeitete Mosaikscholle zeichnet eine Hafenszene [Anm. 7], das originale Motiv Abb. 1 dokumentierte dagegen eine gefährliche Seenotszene, sehr wahrscheinlich mit biografischem Impetus. Damit lenkt das Original den Blick auch auf die Möglichkeit, das Mosaik u.a. als römisch pagane Votivtafel zu deuten, mit dem der Auftraggeber für übernatürliche Rettung aus aussichtsloser Gefahrenlage dankt. Das Motiv Segelboot im Oceanus-Mosaik würde sich damit als Motiv mit Schlüsselfunktion erweisen. Es überliefert genau, wie sich die Besatzung einerseits kniend zwischen die Bordwände einkeilt und sich andererseits kauernd an die Bordwand steuerbord gepresst, dabei sich mit der linken Pobacke auf den Bord Rand abstützend, mit beiden Händen am Mastbaum anklammert. Wurde so ein „normales“ römisches Segelmanöver beim „Auslaufen“ aus dem Hafen gefahren? Kunstgeschichtlich sollte untersucht werden, ob uns VICTORINUS mit seinen Motiven Seeruderschiff und Segelboot nicht Skizzen eines „römischen Comic“ überliefert: der entschlossene Gesichtsausdruck / das in Angst aufgelöste Gesicht;  die vor Kraft berstenden Arme / „erschlafften“ Arme des Matrosen; die „zu Berge“ stehenden Haare und die vom Windwirbel ballonartig aufgeblähte Kleidung.
Die Erforschung des Motivs Segelboot im Oceanus-Mosaik Bad Kreuznach ist noch nicht abgeschlossen.

Nachweise

Verfasser: Walther Krumme

Red. Bearb.: Lutz Luckhaupt

Erstellt am: 25.02.2021

Anmerkungen:

  1. Krumme, Walther: Ein römisches Segelboot mit Dschunken-Segel im Oceanus Mosaik Bad Kreuznach. Nachweis des historischen Konstruktionsansatzes. Der Victorinus Code, Teil 2. Zurück
  2. Krumme, Walther: Das Schulprojekt Römerschiff im Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Der Victorinus Code, Teil 3. Zurück
  3. Krumme, Walther: Das Schulprojekt Römerschiff im Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Der Victorinus Code, Teil 3, Abb. 3. Zurück
  4. Krumme, Walther: Der Victorinus-Code Teil 1: Konstruktionsanalyse der Künstlersignatur im Oceanus-Mosaik in Bad KreuznachZurück
  5. Krumme, Walther: Das Schulprojekt Römerschiff im Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Der Victorinus Code, Teil 3. Zurück
  6. Krumme, Walther: Das Schulprojekt Römerschiff im Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Der Victorinus Code, Teil 3Zurück
  7. Hornung, S. (2011). Luxus auf dem Lande. Die Römische Palastvilla von Bad Kreuznach. Hrsg.: Angela Nestler-Zapp. Bad Kreuznach  Museen im Rittergut Bangert, S. 57. Zurück