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II. Fremde und Diaspora

[Bild: © Paddy Robin - https://500px.com/paddyrobin]

Wie kann man sich dem vielschichtigen Thema Heimat nähern? Kulturwissenschaftler tun das gerne, indem sie einen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Das bedeutet, dass man sich z.B. das Gegenteil des untersuchten Begriffs anschaut: das wäre in diesem Fall die „Fremde“ oder „Fremdheit“ von Menschen, die außerhalb Ihrer Heimat leben. Zusätzlich dazu ist hilfreich, anhand eines konkreten Beispiels aus der Mikroperspektive das Leben eines konkreten Menschen in der Fremde zu betrachten. Danach erfolgt der Blickwinkel der Analyse auf die Makroperspektive und gibt so den Blick frei auf etwas Neues rund um den Begriff Heimat.

Dies geschieht nun anhand des Beispiels eines Philippinos namens Carlos Bulosan (ca. 1913-1956). Carlos hat seine Erfahrung der Arbeitsmigration nach Amerika und die dort erlebte Diasporaerfahrung in dem halb-autobiografischen Roman „America is in the heart“ 1946 beschrieben.

Was versteht man unter dem Begriff Diaspora? Der Begriff Diaspora kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Zerstreuung. Gemeint ist hier eine sogenannte Diasporagemeinschaft, in diesem Fall: die ausgewanderten Philippinos, die fern ihres Heimatlandes in einer Gemeinschaft mit weiteren philippinischen Arbeitern leben.

Carlos Bulosan zieht 1930 im Alter von 17 Jahren aus seinem armen Heimatland, den Philippinen, als Kontraktarbeiter nach Amerika.[Anm. 1] Philippinos, Chinesen, Inder und Japaner gehen in der ersten Hälfte des 20. Jh. zum Arbeiten vor allem nach Südafrika, Australien oder – wie Carlos – in die USA. Die Wander- und Saisonarbeiter bilden dort nach und nach als Gruppen sogenannte Diaspora-Gemeinschaften. Als Gemeinschaft versuchen sie, ihre soziale Lage zu verbessern, sich zu organisieren, ihr Heimweh zu überwinden und in der neuen Heimat Akzeptanz zu finden.

Die kollektive Identität einer Gemeinschaft in der Fremde entwickelt sich aus kulturellen, beruflichen, religiösen oder ethnischen Gemeinsamkeiten. Ebenso relevant ist die Bindung an das frühere Herkunftsland und die neuen Bindungen und gemeinsam gemachten Erfahrungen im neuen Residenzland. Die wissenschaftliche Forschung unterscheidet u.a. zwischen Opfer-, Händler- und Arbeiterdiasporen – je nach Grund und Freiwilligkeit des Verlassens der Heimat. Aber auch gemischte oder wechselnde Formen sind vorstellbar.

Im Blick auf diesen Fall von Arbeiterdiaspora lässt sich aus der Perspektive der Fremde verstehen, was Heimat bedeuten kann. Carlos beschreibt eindringlich die schwere Lage der Wanderarbeiter, die ausgebeutet und unterdrückt werden, den Verlust seiner bisherigen Heimat, den Philippinen, und die Schwierigkeit, in der US-amerikanischen Gesellschaft einen Platz und eine Heimat zu finden.[Anm. 2]

Drangsalierungen und Gewalt sind durch die anti-philippinische Stimmung an der Tagesordnung, und doch kämpft Carlos fortlaufend um Anerkennung und fordert die Einhaltung universeller menschlicher Werte. Immer wieder beschreibt er den anderen philippinischen Immigranten seinen noch unerfüllten amerikanischen Traum. Diese Werte und dieser Traum sind für Carlos ein Teil seiner neuen Heimat.


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Die Begegnung mit der Landschaft Amerikas ruft bei Carlos aber auch immer wieder Erinnerungen an die Landschaft seiner Kindheit wach. Er schildert sie wie folgt:

„Wir gingen über die Rübenfelder nach Camarillo, fünf Meilen südlich. Die Stadt war ruhig und dunkel. Sie war von Orangenhainen umgeben. […] Wir gingen in die Morgensonne, rochen die Orangenblüten und die saubere Luft. Ich schaute auf die hohen Berge zu unserer Rechten und blieb stehen, sie erinnerten mich an die Berge in meinem Dorf. "Du magst die Landschaft?" fragte Jose. "Sie ist wie mein Dorf" sagte ich. "Erzähl mir davon". "Gut, es ist schwer, es für dich zu beschreiben. Aber je weiter ich von zu Hause weg bin, umso lebendiger wird es für mich. Vielleicht bin ich sentimental. Aber mein Dorf ist nicht wie jedes andere Dorf. Es gibt Berge auf der einen Seite, und auf der anderen Seite gibt es den breiten Fluss. Eine Landzunge reicht in den Fluss hinein und auf diesem Land befinden sich Hügel, die mit Guavenbäumen bedeckt sind. Jetzt ist die Zeit für die Guavenblüte. Als ich ein Kind war, bin ich dorthin gegangen, um dem Geruch der Blüten zu riechen, die mir bis ins Tal folgten. Zwischen den Bergen und dem Fluss, in der Mitte des Tals, ist ein Papaya Hain. Papayas blühen jetzt. Haben Sie jemals Papaya gerochen? Es gibt nichts Vergleichbares. Eines Tages werde ich zurückgehen und wieder zu den Guaven hinaufklettern. Eines Tages werde ich eine Krone aus Papaya-Blüten machen. Glaubst du, ich bin sentimental?"[Anm. 3]


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Carlos muss als Saisonarbeiter ständig die Stadt wechseln und macht gute und schlechte Erfahrungen. Er bemerkt, dass vieles Erinnerungen an zu Hause auslösen kann und dass das Heimweh nicht nur ihm immer wieder zu schaffen macht. Er berichtet darüber:

Ich war bezaubert von den Blumenfeldern und den netten, blauäugigen dänischen Bauern im Tal, so dass ich verspürte zu weinen, als ich [weg] nach Buelton ging. Hier in dieser Autobahnstadt spülte ich in einem großen Hotel, wo reiche Touristen für eine Rast stoppten. Wenn meine Arbeit vorbei war, schlief ich unter den Pfirsichbäumen im Hof. Einmal kam der Inhaber, ein Franzose, der mehr Zeit mit Trinken verbrachte als sich um sein Geschäft zu kümmern, saß neben mir und fing an zu weinen. "Es ist das Geräusch von Zuhause, Junge", schluchzte er. "Ich habe so Heimweh nach dem Klang von zu Hause". "Das ist Ihr Zuhause, Sir", sagte ich. "Nein, mein Junge", sagte er. "Zuhause ist, wo mein Herz lebt. Zuhause ist in den blauen Hügeln der Normandie". "Dieser Mann", sagte ich zu mir, "der als Junge nach Amerika kam und ein Vermögen machte, und eine schöne weiße Frau heiratete, ist einsam [und hat Heimweh] nach den blauen Hügeln seiner Kindheit". "Geh nach Hause, mein Junge", sagte er. "Heim auf deine Insel – bevor es zu spät ist". Dann begann er schnell Französisch zu sprechen, zu gestikulieren und zu lachen. Er sprang auf und begann etwas zu tanzen, was ein Volkstanz der Bauern dieser blauen Hügel der Normandie zu sein schien. Es waren Tränen der Freude in seinen Augen. Dann blieb er stehen und ging ins Hotel. Der Klang von zu Hause! Würde ich mich auch eines Tages nach dem Klang von zu Hause sehnen? Würde ich auch über die traurigen Lieder der Bauern in Mangusmana weinen? Und bevor ich es merkte, begann ich, in unserem Dialekt zu sprechen: "Ama! Ina! Manong! Ading! Sicayo!" Der Klang von zu Hause! Zuhause unter den Bauern in Mangusmana!“[Anm. 4]

Soweit der Erfahrungsbericht von Carlos Bulosan, dem philippinischen Arbeiter in der amerikanischen Diaspora der 1930-er und 40-er Jahre und die Beschreibung seiner Sehnsucht von Heimat.


Ein Zwischenfazit: Heimat hat etwas mit der eigenen Herkunft und dem aktuellen Wohnort zu tun. Und: Heimat kann eine Sehnsucht sein, die verbunden ist mit Orten, Gebräuchen und Ausdrucksformen.

NACHWEISE

Verfasserin Text: Marion Nöldeke

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

  • Bernecker, Walther L./Thomas Fischer: Deutsche in Lateinamerika. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1993.
  • Klose, Joachim: Heimatschichten: Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses. Wiesbaden 2013.
  • Mitzscherlich, Beate: Heimat. Kein Ort. Nirgends. In: Joachim Klose: Heimatschichten: Anthropologische Grund-legung eines Weltverhältnisses. Wiesbaden 2013, S. 47-67.

Abbildungsverzeicnis

Erstellt am: 13.02.2021

Anmerkungen:

  1. Carlos Bulosan: America is in the heart, a personal history by Carlos Bulosan, New York [1946] 1973. Zurück
  2. Bulosan [1946] 1973. Zurück
  3. Bulosan [1946] 1973, S. 197-198, eigene Übersetzung. Zurück
  4. Bulosan [1946] 1973, S. 171-172, eigene Übersetzung. Zurück