„Volksstaat“ statt „Großherzogtum“: Rheinhessen wird 1919 Teil des neuen republikanischen, hessischen Staates
In der Nacht zum 9. November 1918 erklärten revolutionäre Soldaten in einem Lager bei Darmstadt den „Großherzog von Hessen und bei Rhein“ für abgesetzt. Ein „Hessischer Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat“ rief die „freie sozialistische Republik Hessen“ aus. Obwohl Großherzog Ernst Ludwig die Abdankung verweigerte, übernahm bereits nach wenigen Tagen eine republikanische Revolutionsregierung unter Führung des Sozialdemokraten Carl Ulrich die Staatsgeschäfte. Am 13. November wurden die großherzoglichen Minister formell in den Ruhestand versetzt und der Darmstädter Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat nahm weitere Delegierte aus den drei hessischen Provinzen und ihren wichtigsten Städten auf. Am 9. Dezember konstituierte sich der Rat als „Hessischer Landesvolksrat“, der auf eine rasche demokratische Wahl einer verfassungsgebenden hessischen Volkskammer drängte. Die provisorische Regierung, die sich aus Mitgliedern der SPD, der liberalen Fortschritts-Demokraten und des katholischen Zentrums gebildet hatte, wurde nach der Wahl der verfassungsgebenden Volkskammer und der Annahme einer provisorischen Verfassung am 20. Februar 1919 als legitime Staatsregierung bestätigt. Die drei regierungstragenden Parteien hatten bei den ersten Wahlen des hessischen Parlaments am 28. Januar 1919 zusammen über 80 Prozent der Stimmen erhalten: Die SPD 44,5%, die liberale DDP 18,9% und das Zentrum 17,6%. Die oppositionelle rechts-nationale Deutsche Volkspartei hatte 10,1% erreicht, die linken oppositionellen unabhängigen Sozialdemokraten sogar nur 1,5%. [Anm. 1]
In Rheinhessen hatten sich im November 1918 ebenfalls an vielen Orten Arbeiter- und Soldatenräte gegründet, überwiegend von Sozialdemokraten organisiert. In Mainz engagierte sich beispielsweise der SPD-Landtagsabgeordnete Bernhard Adelung, in Worms der Geschäftsführer des Konsumvereins Albert Schulte. Nach der Ausrufung der Republik ging es vor allem um die Aufrechterhaltung der Ordnung. In Osthofen wurde ein Arbeiter- und Bauernrat gebildet, um auch die Landwirte einzubinden. [Anm. 2]
Die verfassungsgebende hessische Volkskammer beauftragte, nachdem man die provisorische „Not-Verfassung“ in Kraft gesetzt hatte, am 5. März 1919 eine Expertenkommission mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für die endgültige Verfassung des – zunächst noch Freistaat genannten – späteren Volksstaats Hessen. Diese orientierte sich dabei an den bereits erarbeiteten Verfassungen Badens und Württembergs. Letztlich wurde die definitive Verfassung im Dezember 1919 als eine der letzten Länderverfassungen und auch nach der Reichsverfassung verabschiedet. Die Hessische Verfassung sah dabei einen Staatspräsidenten an der Regierungsspitze und starke plebiszitäre Elemente vor. Die Mitglieder der verfassungsgebenden Volkskammer blieben als „Landtag des Volksstaates Hessen“ bis zur nächsten Landtagswahl im November 1921 im Amt. Der „Volksstaat Hessen“ bestand aus den Gebieten des bisherigen Großherzogtums, jedoch waren rund 40 Prozent des Territoriums gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages von französischen Truppen besetzt – dies betraf in erster Linie die linksrheinischen Gebiete in Rheinhessen. Dank der Friedenspolitik der Nobelpreisträger Aristide Briand und Gustav Stresemann wurde die Besetzung aber bereits zum 30. Juni 1930 vorzeitig beendet. [Anm. 3]
In der Provinz Rheinhessen wurde bei den Wahlen zum Provinzialrat 1920, 1925 und 1929 jeweils die SPD stärkste Partei, zweitstärkste das Zentrum. Ein großer Teil der Landwirte wählte aber bäuerliche Interessenparteien wie den Hessischen Bauernbund, der vor allem in den stark protestantisch geprägten Kreisen Alzey und Oppenheim erfolgreich war. In der Region Worms kamen häufig nationalliberale Mehrheiten für die DVP zustande. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) konnte nur in Mainz und Worms stärker Fuß fassen. Insgesamt kamen die drei Parteien der hessischen Regierungskoalition bis 1932 in den Kreisen Mainz und Bingen immer auf absolute Mehrheiten. In den Kreisen Alzey und Worms gingen die Anteile der links- und nationalliberalen Parteien im Laufe der 1920er Jahre jedoch stark zurück, da hier auch die Zentren von Hitlers Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei (NSDAP) lagen. Deren Anteil schwankte stark in den einzelnen Kreisen. Die Nazis dominierten in den ländlichen Kreisen Alzey und Oppenheim, Bingen blieb zentrums- und Worms SPD-orientiert, während Sozialdemokraten und Zentrum im Kreis Mainz etwa gleich stark waren. [Anm. 4]
Bei der hessischen Landtagswahl im November 1931 wurde die NSDAP mit 35,8 Prozent erstmals stärkste Partei. Zentrum und SPD kamen zusammen auf 40,5 Prozent, die KPD erhielt 12,7 Prozent. Obwohl die Nationalsozialisten in den ländlich und protestantisch, früher liberal geprägten Kreisen Alzey und Oppenheim bei der Reichstagswahl im Juni 1932 eine absolute Mehrheit der Stimmen von 52 Prozent erreichten, blieben sie in ganz Rheinhessen knapp unter 40 Prozent. Erst in den Jahren dauernder Wahlkämpfe ab 1931 kam Hitler zu Kundgebungen in die rheinhessischen Städte. Letzter Staatspräsident Hessens, bevor die NSDAP die Macht übernahm, war der Mainzer sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Bernhard Adelung, der von 1920 bis 1928 zudem Bürgermeister von Mainz gewesen war. Adelung, der von 1928 bis 1933 eine Regierungskoalition aus SPD, Zentrum und der liberalen DDP führte, wurde am 13. März 1933 vom Nationalsozialisten Ferdinand Werner abgelöst. [Anm. 5]
Verfasser: Felix Schmidt
Verwendete Literatur:
- Franz, Eckhart G./Köhler, Manfred (Hrsg.): Parlament im Kampf um die Demokratie. Der Landtag des Volksstaats Hessen 1919-1933, Darmstadt 1991.
- Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Blätter zum Land Nr. 68, Rheinhessen, 2016, unter: politische-bildung-rlp.de/fileadmin/images/Bach/Blatt_Rheinhessen.pdf (Aufruf 02.08.2016).
- Gallé, Volker: Rheinhessen. Entdeckungsreisen im Hügelland zwischen Worms und Bingen, Mainz und Alzey, Köln 1992, S. 29f.; LpB Rheinland-Pfalz (Hrsg.) 2016.
Erstellt am: 21.09.2016
Anmerkungen:
- Vgl. Franz, Eckhart G./Köhler, Manfred (Hrsg.): Parlament im Kampf um die Demokratie. Der Landtag des Volksstaats Hessen 1919-1933, Darmstadt 1991, S. 9 und S. 40f. Zurück
- Vgl. Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Blätter zum Land Nr. 68, Rheinhessen, 2016, unter: http://politische-bildung-rlp.de/fileadmin/images/Bach/Blatt_Rheinhessen.pdf (Aufruf 02.08.2016). Zurück
- Vgl. Franz/Köhler 1991, S. 30ff. Zurück
- Vgl. Gallé, Volker: Rheinhessen. Entdeckungsreisen im Hügelland zwischen Worms und Bingen, Mainz und Alzey, Köln 1992, S. 29f.; LpB Rheinland-Pfalz (Hrsg.) 2016. Zurück
- Vgl. Franz/Köhler 1991, S. 34f.; LpB Rheinland-Pfalz (Hrsg.) 2016. Zurück