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0.Die Birkenfelder Republik 1919

Französische Dokumente zur Autonomie-Bewegung in der oldenburgischen Provinz Birkenfeld unter französischer Militärverwaltung nach dem Ersten Weltkrieg [Anm. 1]

Proklamation der Republik Birkenfeld am 14. Juli 1919 auf der Freitreppe des oldenburgischen Regierungsgebäudes[Bild: Archiv des Landesmuseums Birkenfeld]

Am 15. Juli 1919 um 15:40 Uhr lässt das Hauptquartier der X. Französischen Armee in Mainz folgendes Chiffretelegramm an den Vorsitzenden des Obersten Alliierten Kriegsrates, Marschall Ferdinand Foch, abgehen, das zur Weitergabe an den Oberbefehlshaber der französischen Armee, Marschall Philippe Pétain, sowie Staatspräsident Raymond Poincaré bestimmt ist: „Am 14. Juli, um 13 Uhr, ist in Birkenfeld eine Provisorische Regierung gebildet worden, die die Republik ausgerufen und die Loslösung von Oldenburg verkündet hat. Die Bevölkerung bleibt ruhig und schließt sich der Bewegung an. Die Beamten bleiben und versehen weiterhin ihren Dienst. Die Urheber des Staatsstreichs werden sich am Donnerstag der Provinzversammlung vorstellen und sie ersuchen, eine Regierung zu ernennen”. [Anm. 2]

Karte des Fürstentums Birkenfeld, aus: Richard Andree's Allgemeiner Handatlas[Bild: gemeinfrei]

Ein Vorfall, dessen politische Brisanz auf der Hand liegt: Er spielt sich in einem von französischen Truppen besetzten linksrheinischen Territorium ab. Es ist nicht vorstellbar, dass er sich ohne Wissen, ja Duldung der Besatzer ereignet. 1919 ist das Birkenfelder Land eine Provinz des früheren Großherzogtums Oldenburg, [Anm. 3] das sich nach Abschaffung der Monarchie im Deutschen Reich und dem Übergang zur Weimarer Republik – eine Konsequenz des verlorenen Weltkrieges (1914–1918) – zum Freistaat Oldenburg erklärt hat. Seine Exklave Birkenfeld unterliegt wie die sie umgebende preußische Rheinprovinz der Kontrolle der Alliierten – in Erwartung der territorialen Neuregelungen der seit dem 18. Januar tagenden Pariser Friedenskonferenz. Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete und am 10. Januar 1920 in Kraft tretende Versailler Friedensvertrag bestätigt die Besetzung der linksrheinischen Territorien durch Frankreich, legt aber auch bereits Fristen für den Truppenabzug fest. Demnach soll Birkenfeld 1930 geräumt werden.

Major Tibère Bastiani, 1919, französischer Militärverwalter der oldenburgischen Provinz Birkenfeld während der französischen Besatzung[Bild: Archiv des Landesmuseums Birkenfeld]

In der deutschsprachigen Literatur wird dem französischen Militärverwalter, Major Tibère Bastiani, eine Schlüsselrolle bei der Vorbereitung der „Revolution“ und der Durchsetzung der kurzlebigen Birkenfelder Republik (14. Juli – 7. November 1919) nachgesagt. Nicht zu bestreiten ist Bastianis wohlwollende Haltung gegenüber dem Anliegen der neun Männer um den „Mandatar“ und Auktionator Otto Baltes und den Eigentümer der Feldspatgruben Rudolf Schmeyer, die am 14. Juli 1919 im Birkenfelder Regierungsgebäude die Loslösung von Oldenburg und die politische Selbständigkeit der Provinz als Republik Birkenfeld proklamieren. [Anm. 4] Diese Anliegen rechtfertigt der Militärverwalter in seinen halbmonatlichen Lageberichten an das Oberkommando der X. französischen Armee in Mainz mit dem Recht auf Demokratie (Volkswillen) und auf Selbstbestimmung der Völker, unter Verweis auf die Empörung der Bevölkerung über die zwischen Oldenburg und Preußen geführten Geheimverhandlungen über die Zukunft Birkenfelds. Diese zielen auf einen Gebietsaustausch ab: Preußen soll seinen norddeutschen Regierungsbezirk Aurich an das benachbarte Oldenburg abgeben und dafür dessen entlegene, in die preußische Rheinprovinz zu integrierende Exklave Birkenfeld erhalten.

Schloss Birkenfeld[Bild: Archiv des Landesmuseums Birkenfeld]

Regierung Provinz Birkenfeld, den 5.12.1918

„Heute Nachmittag erschienen 2 französische Quartiermacher in der Regierung und erklärten, daß morgen ein Repräsentant der Alliierten, Major Badisti, mit einer Kompagnie algirischer Tirailleure – Araber – in der Stadt Birkenfeld einrücken würden und einzuquartieren seien.

Für den Repräsentanten der Alliierten sei eine standesgemäße Wohnung zu stellen. Notgedrungen müsste in Aussicht genommen werden, den Repräsentant im Regierungsgebäude, in den Großherzoglichen Räumen unterzubringen.

Die Kompagnie, für die Betten verlangt sind, wird zunächst in der Turnhalle des Gymnasiums und einigen Sälen und dann im alten Schulhause (Badisches Amtshaus) in Massenquartieren untergebracht werden können."

Pralle, Regierungspräsident [Anm. 5]

Baltes, Schmeyer und ihre Mitstreiter erklären dem (kommissarischen) Regierungspräsidenten, Oberamtsrichter Konrad Hartong, dass die oldenburgische Regierung „uns verschachern“ will, und „wir deshalb unsere Zukunft in eigene Hände nehmen“ – nicht zuletzt um das Staatsgut zu retten. Sie proklamieren sich als vorläufige Regierung und zögern nicht, der deutschen Nationalversammlung und dem Direktorium in Oldenburg per Telegramm mitzuteilen, dass sich „die Provinz Birkenfeld (…) mit dem heutigen Tage 11h30 vormittags vom Freistaat Oldenburg mit überwiegender Volksmehrheit losgelöst“ hat und sich „von jetzt ab als Republik Birkenfeld unter eigener Verwaltung im Verbande des Deutschen Reiches betrachtet“. [Anm. 6] Über die Zahl der durchweg ländlichen Gemeinden, die hinter der Trennung von Oldenburg stehen, werden sehr unterschiedliche Angaben gemacht. Otto Baltes legt Beweise für 46 der insgesamt 87 Gemeinden der Provinz vor. Hartongs Prüfung hingegen ergibt, dass aus 54 Gemeinden – vor allem aus den Industriestädten Oberstein und Idar – keinerlei Unterschriften vorliegen. [Anm. 7] Militärverwalter Bastiani erkennt die Träger des „Staatstreiches“ als „provisorische Regierung“ an. Aber auf „seinen Wunsch hin” (Hartong), führt die bisherige Regierung die „laufenden Geschäfte“ weiter. Die neue Regierung unter Rudolf Schmeyer soll bis „zu dem Tage bestehen, wo der Landesausschuss (die gewählte Volksvertretung, O. S.) einstimmig anerkennt, dass die Provinz von Oldenburg getrennt worden ist“ (Bastiani). [Anm. 8]

0.2.Testfall für französische Rheinland-/Rheinpolitik

Aufruf der Provisorischen Regierung der Republik Birkenfeld an die Bevölkerung[Bild: Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Oldenburg, Akte NLA OL, Best. 130-131 Nr. 41]

Die Birkenfelder Geschehnisse müssen selbstverständlich im politischen Zusammenhang des ersten Nachkriegsjahres gesehen werden. Die Aufmerksamkeit, mit der sie in Paris verfolgt werden, scheint eine These zu bestätigen, die sich schon in der älteren Literatur andeutet: Frankreichs Interesse an der Autonomiebewegung zielt darauf ab, in Birkenfeld freie Bahn zu bekommen für die Errichtung eines das gesamte (vorwiegend preußische) linksrheinische Gebiet einschließenden Pufferstaates, nämlich einer Frankreich zugeneigten Rheinischen Republik. Birkenfeld soll sozusagen zu einem „Vorposten französischer Rheinpolitik” [Anm. 9] gemacht werden. In den vielen Szenarien, die während der Pariser Friedensverhandlungen für die Rheinlandpolitik der maßgeblichen Siegermacht entwickelt wurden, lassen sich vor allem Belege für annexionistische Lösungen finden. Doch es fällt schwer, die französischen Vorstellungen auf einen Nenner zu bringen: Die militärische und politische Führung sind in der Frage nach Art und Umfang der Besatzung heillos zerstritten. Ja, selbst Staatspräsident Poincaré und Regierungschef Clemenceau, der Präsident der Pariser Friedenskonferenz, beantworten sie unterschiedlich.

Französische Besatzungssoldaten vor dem „Badischen Amtshaus“, dem damaligen Schulgebäude[Bild: Archiv des Landesmuseums Birkenfeld]

Über welchen politischen Spielraum verfügt also letztendlich der Militärverwalter der Provinz Birkenfeld, nachdem wenige Wochen vor der Proklamation der Republik Birkenfeld sein Vorgesetzter in Mainz, der Oberbefehlshaber der X. Armee, General Mangin, plötzlich in die politische Schusslinie geraten ist. Die Ausrufung einer Rheinischen Republik am 1. Juni 1919 in Wiesbaden durch Hans-Adam Dorten, einen Juristen aus dem Rheinland, der nach dem Kriege in die Regionalpolitik gewechselt war, wurde von General Mangin gefördert, aber dann doch nicht mit letzter Konsequenz unterstützt. Dilettantisch vorbereitet und durchgeführt, scheiterte der Versuch einer Staatsbildung – unter Einschluss der von Oldenburg loszulösenden Provinz Birkenfeld – nach nur drei Tagen am Widerstand von Stadtverwaltung und Bevölkerung sowie an Streikbewegungen in den rheinischen Städten.

Georges Clemenceau, der Vorsitzende des französischen Ministerrates, muss auf Druck der englischen und amerikanischen Alliierten sein Militär zurechtweisen und zur Wahrung strikter Neutralität in innerdeutschen Konflikten auffordern. Es gilt die Bestimmungen des am 28. Juni zur Unterzeichnung anstehenden Versailler Vertrages zu respektieren. Denn Anfang Juni ist bereits bekannt, dass die Alliierten die von Marschall Foch und anderen militärischen Führungspersonen eingebrachten Annexionspläne des linken Rheinufers durch Frankreich definitiv verwerfen. Frankreichs (d. h. vor allem Clemenceaus) Konzessionen in der Besatzungspolitik liegen letztlich im übergeordneten nationalen Interesse. Der französische Regierungschef bedingt sich als Gegenleistung für die Unterzeichnung des Vertrages aus, dass sich – für den Fall eines erneuten Angriffs Deutschlands auf Frankreich – England und die Vereinigten Staaten schon jetzt als Garantiemächte verbürgen.

General Charles Mangin mit seinen acht Kindern, aus: Le Pays de France, 5 Juli 1919, S. 13[Bild: gemeinfrei]

Somit berechtigen die anschließenden Geschehnisse vom 14. Juli in Birkenfeld zu der Frage, ob seitens des französischen Militärs – eventuell gar mit partieller politischer Rückendeckung aus Paris – doch noch Versuche unternommen werden, in den besetzten Gebieten zu operieren. Um nachträglich eine Angliederung selbst kleinerer territorialer Einheiten an Frankreich durchzusetzen?

Es ist tatsächlich vorstellbar, dass Bastianis Vorgesetzter in Mainz, sich nicht an die Vorgaben aus Paris gebunden fühlt und seinem Birkenfelder Militärverwalter grünes Licht für eine Operation mit annexionistischer Zielsetzung gibt. Für diese Annahme könnte die Tatsache sprechen, dass es dem wegen Landesverrat gesuchten und nach seiner Flucht auf linksrheinisches Gebiet unter französischer Protektion stehenden Hans-Adam Dorten erlaubt wird, am 21. Juni im Birkenfelder Hotel zur Post zu sprechen. Der rechtsrheinisch gegen ihn erlassene Haftbefehl kann im besetzten Gebiet nicht vollstreckt werden. Dorten darf also, nur 17 Tage nach seinem Wiesbadener Scheitern, im oldenburgischen Birkenfeld weiter für eine Rheinische Republik werben – 23 Tage vor der Proklamation der Birkenfelder Republik. Der geringe Zuspruch, den Dorten aus der Bevölkerung erfährt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er wegen seiner „auf ungesetzliche Weise entstandenen” (katholischer Dechant Kohlmann), da auf keiner Volksabstimmung beruhenden Wiesbadener Republik, zur persona non grata geworden ist – selbst in Kreisen, die der von Dorten umworbenen Zentrumspartei nahestehen. [Anm. 10] Es ist aber auch Fakt, dass Dorten 1919 mit seiner Staatsvision liberal-konservativen Zuschnitts (er verweigert jede Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten) keinen Anschluss an Frankreich, sondern wie die rheinischen Zentrumspolitiker um den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer mit einem Verbleib im Deutschen Reich verbindet. 

Parade der französischen Besatzungstruppen vor dem Gymnasium in Birkenfeld, 1920[Bild: Archiv des Landesmuseums Birkenfeld]

Auch französische Quellen nähren die Vermutung, dass Mangin durchaus eigenmächtig gehandelt und Birkenfeld als einen Testfall betrachtet haben könnte. Seine Kritiker in Generalstab und Politik bemängeln unisono, dass seine heroischen militärischen Qualitäten mit eklatanten persönlichen Schwächen wie Ungestüm und Unbotmäßigkeit gegenüber Vorgesetzten einhergehen. [Anm. 11] „Wenn sich der General auch nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in der Rheinlandfrage keine Zurückhaltung auferlegt und Autonomiebewegungen weiterhin wohlwollend gegenübersteht, so nicht zuletzt aufgrund eines historisch verklärten patriotischen Sendungsbewusstseins, das er der Einhaltung kurzfristig angelegter politischer Vorgaben aus Paris überordnet. Er sieht sich als Sachwalter eines Franzosen und Rheinländern „gemeinsamen kulturellen Erbes”, das vom Geist der Französischen Revolution geprägt ist. [Anm. 12]

Wenn angenommen werden darf, dass Major Bastiani keine Politik auf eigene Faust betreibt und seine Aktivitäten an den annexionistischen Zielsetzungen seines Vorgesetzten ausrichtet, so muss doch gefragt werden, ob diese Zielsetzungen von den Birkenfelder Autonomie-Befürwortern geteilt werden. 

0.3.Die Autonomie-Bewegung: Los von Oldenburg!

Antrag von Bürgern der Gemeinde Ellweiler auf Loslösung von Oldenburg und Anschluss an das Saargebiet[Bild: Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Oldenburg, Akte NLA OL, Best. 130-131 Nr. 41]

Mit der Ausrufung der Birkenfelder Republik verbindet der französische Militärverwalter die Erwartung, dass sich die abtrünnige oldenburgische Exklave an das Saargebiet anbindet – unter ausdrücklicher Berufung auf den Volkswillen. Am 3. August heißt es in seinem Lagebericht an General Mangin: „Die große Mehrheit befürwortet ein Zusammengehen mit dem Saargebiet (…). Nach und nach findet das Projekt in Arbeiterkreisen Zuspruch, genauso wie bei den Bauern im mittleren und südlichen Teil der Provinz“. [Anm. 13] In seinem vorangegangenen Rapport vom 4. Juni hob Bastiani noch hervor, dass sich nur der Nohfeldener Raum, also „der südliche Teil der Provinz, dem Saargebiet anschließen“ würde. [Anm. 14] Nur einen Tag vorher, am 3. Juni, meint er gar noch, dass es sich bei dem neuen Staatsgebilde lediglich um eine „zunächst von Deutschland abhängige Republik“ handeln würde. [Anm. 15] Wie also lässt sich die zunehmend optimistischere Haltung des Militärverwalters in der Frage eines Anschlusses der Birkenfelder Republik an das Saargebiet erklären? 

Gewiss nicht zufällig sind es Landwirte, Geschäftsleute, selbständige Handwerker und andere Berufsgruppen des kleinen und mittleren Bürgertums, die mit dieser Lösung sympathisieren und folglich auch in der Gruppe der neun Autonomie-Befürworter vertreten sind, die am 14. Juli die Republik ausruft. Der kurz vorher, am 28. Juni unterzeichnete Versailler Friedensvertrag lässt befürchten, dass das dem Völkerbund unterstellte Saargebiet über kurz oder lang als „natürliches Hinterland“ für die heimische Wirtschaft ausfällt. Das Zugeständnis eines ab 1920 wirksamen, 15 Jahre laufenden Völkerbundsmandates für die Saar an Frankreich würde Zollschranken, Versorgungsengpässe und Absatzschwierigkeiten nach sich ziehen, mit der weiteren Folge, dass Tausende pendelnder Industriearbeiter der Grenzgebiete „brotlos würden und gezwungen wären, ihre Heimat zu verlassen, da in der rein bäuerlichen, industriearmen Gegend keine andere Arbeitsgelegenheit sich bot“. [Anm. 16]  

Ausweis der französischen Militärbehörde[Bild: Archiv des Landesmuseums Birkenfeld]

Entgegen der Prognose des französischen Militärverwalters polarisiert die Option zugunsten einer organischen Verbindung mit dem Saargebiet in zunehmenden Maße die Autonomie-Bewegung und ist schließlich nicht mehr haltbar. Sie weckt nicht zuletzt Zweifel an der „Reichstreue“ ihrer führenden Akteure. Tatsächlich ist bereits im Vorfeld der Republik-Ausrufung bekannt, dass Deutschland gemäß Art. 45 bis 50 des soeben unterzeichneten Versailler Vertrages die Souveränität über das Saargebiet an den Völkerbund verliert. Eine Anbindung Birkenfelds an das ab 1920 der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle Frankreichs unterliegende Saargebiet würde also tatsächlich ein Ausscheiden aus dem Verband des Deutschen Reiches bedeuten. Der Vorwurf des Separatismus wäre gerechtfertigt.  

Die neun Männer, die am 14. Juli die Republik Birkenfeld ausrufen, wehren sich vehement dagegen, als Separatisten apostrophiert zu werden. [Anm. 17]

Selbst renommierte rheinische Politiker wie Konrad Adenauer distanzieren sich im Zusammenhang mit „den Vorgängen im Birkenfelder Ländchen” von solchen Anschuldigungen. [Anm. 18] Otto Baltes verweist darauf, dass er und seine Mitstreiter in ihrer Proklamation keinen Zweifel an ihrer vaterländischen Gesinnung lassen: „Mit dem heutigen Tage erklären wir uns als selbständige Republik unter eigener Verwaltung im Verbande des Deutschen Reiches (…). Wir sind Deutsche und wollen Deutsche bleiben”. [Anm. 19] 

Porträt Woodrow Wilsons[Bild: gemeinfrei]

Für Otto Baltes hängt die „Birkenfelder Revolution“ untrennbar mit den politischen Umwälzungen gegen Ende des Ersten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsmonaten zusammen. Tatsächlich ist damals nichts zeitgemäßer als die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Hier handelt sich um eine zentrale Forderung im 14-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vom Januar 1918, in dem er die Grundzüge einer europäischen Friedensordnung für die Nachkriegszeit entwirft. Die Bildung eines rheinischen „Freistaates“, im Rahmen der anstehenden „Neubildung der Länder“ durch die kommende (am 14. August verkündete) Weimarer Reichsverfassung, erscheint Baltes und seinen Mitstreitern als „einzig gangbarer Weg (…), sich vor der rechts des Rheines her drohenden Schreckensherrschaft der Spartakisten zu schützen“. [Anm. 20] Die Forderung nach Auflösung der Rheinprovinz und der Errichtung eines „von dem undemokratischen Preußen unabhängigen Staates“, weiß Baltes natürlich, kommt den französischen Sicherheitsinteressen entgegen. Sie berechtige aber zu der Hoffnung, damit „vielleicht die harten Bedingungen des kommenden Friedensvertrages mildern zu können“. [Anm. 21]

Bild zweier Kolonialsoldaten in Birkenfeld, das mit einer rassistischen Bildunterschrift versehen wurde[Bild: Archiv des Landesmuseums Birkenfeld]

Selbstbestimmung geht mit Volkssouveränität einher. In den von der französischen Revolution geprägten Überlegungen zur Bildung von Nationalstaaten setzt sich die ethnische Interpretation des Volks-Begriffs durch. In dieser Tradition stehen auch Baltes, Schmeyer und ihre Gefolgsmänner mit ihrer Anspielung auf das Stammesprinzip: „Wir (…) lassen uns nicht durch die dem Lande wesensfremden Oldenburger an irgendein Staatsgebilde abtreten“, heißt es in ihrer Proklamation vom 14. Juli. [Anm. 22] „Wenn die Rheinprovinz sich von Preußen, die Pfalz von Bayern loslöste, sollte da nicht Birkenfeld erst recht für sich beanspruchen dürfen, aus dem unnatürlichen staatlichen Verhältnisse mit Oldenburg frei zu werden?!“, [Anm. 23] fragt Otto Baltes. Nachdem die von dem Militärverwalter favorisierten Lösungen eines Anschlusses der Provinz an das Saargebiet oder eine Rheinische Republik an den politischen Unwägbarkeiten der Nachkriegsentwicklung gescheitert sind, strebt die gewählte parlamentarische Vertretung der Provinz, der Landesausschuss, die Loslösung von Oldenburg auf dem Verhandlungswege an. Als sich aber anstatt eines autonomen Birkenfelder Staates ein Anschluss an die preußische Rheinprovinz abzeichnet, kontern Militärverwalter und Provisorische Regierung am 30. August mit der Auflösung des Landesausschuss, der Amtsenthebung der alten oldenburgischen Regierung Hartong und der Ernennung einer Regierung der Republik Birkenfeld unter dem Zweibrücker Rechtsanwalt Zöller. Diese erklärt definitiv die Loslösung von Oldenburg.

0.4.Frankreichs Veto gegen eine Annexion durch Preußen

Paul Tirard[Bild: Unknown (Library of Congress's Prints and Photographs division) [gemeinfrei]]

Die Causa Birkenfeld, vor allem die von deutscher Seite beklagte mangelnde Neutralität Bastianis, werden zwischen September und Dezember zum Gegenstand eines Notenwechsels zwischen den Regierungen in Paris und Berlin. [Anm. 24] Eine seinen Sicherheitsinteressen zuwiderlaufende preußische Option ist für Frankreich unannehmbar. Es setzt bereits einen im Rahmen einer Verwaltungsreform vorgesehenen Einsatz von Beamten der Rheinprovinz im Birkenfelder Land mit einem de facto-Anschluss an Preußen gleich. Deshalb empfiehlt Paul Tirard, der französische Hochkommissar und Vorsitzende der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission in Koblenz, in einem Entwurf für die französische Antwort seiner Regierung, dem preußischen Oberpräsidenten der Rheinprovinz „jegliche Vollmacht in Bezug auf Birkenfeld zu verweigern“. Frankreich macht rechtliche Gründe geltend. Selbst eine Änderung der Verwaltungsform komme einem Anschluss gleich und damit einer „regelwidrigen Veränderung des politischen Status eines Gebietes des Deutschen Reiches“. [Anm. 25] Tirard kann auf die erst kürzlich, nämlich am 14. August, in Kraft getretene Weimarer Reichsverfassung verweisen. [Anm. 26] Sie legt in Artikel 18 die Bedingungen fest, unter denen Änderungen des Gebietes bestehender Länder oder die Neubildung von Ländern innerhalb des Reiches zu erfolgen haben. Demnach ist „der Wille der Bevölkerung durch Abstimmung festzustellen“ (Absatz 4). Diese im Birkenfelder Land populäre Lösung kommt allerdings im Sommer und Herbst 1919 nicht in Betracht, weil Artikel 187 der neuen Reichsverfassung ein Referendum vorerst ausschließt: „Die Bestimmungen von Artikel 18 (…) treten erst zwei Jahre nach Verkündigung der Reichsverfassung in Kraft“. Tirard interpretiert diesen Zusatz politisch: als gezielte Maßnahme „der Preußischen Regierung (…), um die separatistischen Bewegungen im Rheinland und andererorts zu ersticken“. [Anm. 27]

So bleibt den Birkenfeldern 1919 keine andere Wahl als bei Oldenburg zu bleiben, wenngleich mit gestärktem Selbstbewusstsein: Nach der klaren Niederlage der Republikaner gegen die „Vereinigten Parteien der Provinz Birkenfeld” bei den von General Mangin angeordneten Neuwahlen zur Landesvertretung (26. Oktober) und dem anschließenden Rücktritt der Regierung Zöller wird am 7. November mit dem linksliberalen Idarer Landtagsabgeordneten Walther Dörr erstmals ein Einheimischer zum Regierungspräsidenten der Provinz gewählt.

Otmar Seul (Université Paris Nanterre), 12. Juni 2021

Anmerkungen:

  1. Der Beitrag beruht auf Auszügen aus meiner Ende 2022 abzuschließenden Untersuchung über die "Birkenfelder Republik 1919", die bislang unbekannte Quellen aus französischen Archiven auswertet. In einer Kurzform ist der Beitrag im von der Kreisverwaltung Birkenfeld herausgegebenen Heimatkalender Nationalparkkreis Birkenfeld 2019, Idar-Oberstein (Prinz-Druck, Print Media) 2018, S. 264-269, erschienen. Soweit nicht anders angegeben, sind die Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche vom Autor selbst vorgenommen worden. Zurück
  2. Télégramme chiffré Nr. 93 K, E.M. Bacon, Kreuznach, au Président du Conseil des Ministres, Paris, 29.6.1919, Archives diplomatiques, Paris, série Z, sous-série “Allemagne” Nr. 348, Birkenfeld. Zurück
  3. 1920 wird die Provinz in „Landesteil Birkenfeld“ umbenannt: erstmals im Titel des Amtsblatts vom 11. Mai 1920. Zurück
  4. Grundlegend zunächst die Schilderung von Otto Baltes selbst: Die Birkenfelder Revolution im Jahre 1919, Saarbrücken 1933. Sie wird weitgehend übernommen von Heinrich Klein: Die Revolution in Birkenfeld 1919, mit einem Anhang gerichtlicher und außergerichtlicher Vergleiche, eidlicher Zeugenaussagen, maschinenschriftliches Manuskript, Speyer 4. Juni und 30. Dezember 1940, 63 S., Staatsarchiv Koblenz, Besitz des Staatsarchivrats Kurt Becker. Zur Gegendarstellung, siehe die Aussagen des damaligen kommissarischen Regierungspräsidenten, Konrad Hartong, in: Ders.: Die Birkenfelder „Revolution” vom Sommer 1919, in: Oldenburger Jahrbuch Bd. 78/79, 1978/79, S. 83–130. Zur weiteren Literatur, siehe vor allem Oliver Kösling: Birkenfeld und der Separatismus, in Hans Peter Brand (Hg.): Birkenfeld – Festschrift zum 650jährigen Stadtjubiläum; Sonderheft 42 der Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld/Nahe 1982, S. 213–224; Hans Peter Brandt: Die Birkenfelder Revolution im Jahre 1919 – Putsch oder Posse ? Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld und der Heimatfreunde Oberstein 1990, S. 125–142; Martin Schlemmer: Los von Berlin. Die Rheinstaatbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg, Köln u.a. 2007, S. 615–620. Zurück
  5. Major Bastiani wohnte mit seiner Frau zwei Jahre lang in den großherzoglichen Räumen des Regierungsgebäudes  Zurück
  6. Birkenfelder Landeszeitung Nr. 97 vom 16. Juli 1919; Baltes a.a.O. S. 132. Zurück
  7. Hartong a. a. O. S. 91. Zurück
  8. Ebd. S. 97. Zurück
  9. Kösling a. a. O., S. 215. Vgl. Hartong a. a. O., S. 111, der einen Ausspruch Bastianis vom 1. September belegt: „Birkenfeld sei vielleicht das Steinchen, das ins Rollen gebracht, zur Lawine und bedeutungsvoll für die ganze Rheinlandfrage werden könne”. Dazu passt eine Passage im Lebenslauf von Bastianis Adjutant und Dolmetscher in Birkenfeld, dem späteren Bataillonskommandeur im Indochina-Krieg, William Bechtel: „Bechtel nimmt aktiven Anteil an den Verhandlungen über die Unabhängigkeitserklärung dieser Provinz, die später die separatistische Bewegung im Rheinland auslösen”, zitiert nach Musée du Plan Sussex: William BECHTEL, Chef de Bataillon, http://www.plan-sussex-1944.net/francais/biographies/bechtel.htm (Abruf 07.05.21). Zurück
  10. Siehe den Artikel „Die Sonderbündler” in der Coblenzer Zeitung Nr. 315 vom 26. Juni 1919, zitiert nach Schlemmer a. a. O. S. 617 f.  Zurück
  11. Clemenceaus Kritik überliefert sein Sekretär Jean Martet: M. Clemenceau peint par lui-même, Paris 1929.  Zurück
  12. Vgl. Général Mangin, in: France Histoire Esperance, https://www.france-histoire-esperance.com/general-charles-mangin/ (Abruf 07.05.2021) mit Hinweisen auf die Tagebücher von Marschall Pétains Generalstabsoffizier Edmond Buat, einem scharfen Kritiker Mangins. Vgl. Hartong a. a. O., S. 117: Er belegt eine Äußerung des amerikanischen Oberkommandierenden Allen, wonach Mangin von dem Gedanken einer unabhängigen Rheinischen Republik „geradezu besessen” war.  Zurück
  13. Rapport de quinzaine (1ère partie) du Chef de Bataillon Bastiani, Administrateur militaire de la Province de Birkenfeld, au Général commandant la Xe Armée / Bureau des Affaires civiles, Mayence, 3.8.1919, Archives de l’Armée de Terre, Rapports des Administrateurs des Cercles, 19 N 1576, Province de Birkenfeld, courrier Nr. 1474. Zurück
  14. Rapport de quinzaine (1ère partie) du Chef de Bataillon Bastian, Administrateur militaire de la Province de Birkenfeld, au Général commandant la Xe Armée / Bureau des Affaires civiles, Mayence, 4.6.1919, Archives de l’Armée de Terre, Rapports des Administrateurs des Cercles, 19 N 1576, Province de Birkenfeld, courrier Nr. 1046.  Zurück
  15. Rapport de quinzaine (2ème partie) du Chef de Bataillon Bastiani, Administrateur militaire de la Province de Birkenfeld, au Général commandant la Xe Armée / Bureau des Affaires civiles, Mayence, 3.6./4.6.1919, Archives de l’Armée de Terre, Rapports des Administrateurs des Cercles, 19 N 1576, Province de Birkenfeld, courrier Nr. 1040-1047.  Zurück
  16. Vgl. Heinrich Klein: Die Revolution in Birkenfeld 1919, Speyer, maschinenschriftlicher Text von 63 Seiten, Juni 1940, S. 10. Diese, nach Angabe des Autors, auf Zeitzeugenaussagen bei Prozessen, Protokollen der Oldenburgischen Regierung, Amtsblatt, Zeitungsberichten und persönlichen Aufzeichnungen beruhende Abhandlung orientiert sich bei der Schilderung und Analyse der Geschehnisse vor, während und nach der Republikausrufung vom 14. Juli weitgehend an Otto Baltes’ Schrift von 1933. Zurück
  17. Eine Einschätzung, die bis heute die heimatkundliche Literatur prägt; siehe z. B. Peter Nauert: Drahtzieher der separatistischen Republik Birkenfeld, Überblickstabelle in: Dokumentation zur Sonderausstellung „Der 1. Weltkrieg und die Jahre danach – Französische Besatzung und Revolution“, Landesmuseum Birkenfeld, 2018. Zurück
  18. Vgl. Adenauers Schreiben (jetzt als Reichstagsabgeordneter des Zentrums) vom 23. September 1929 an den Speyrer Notar Heinrich Klein (a. a. O. S. 60). Mit der Durchführung der Neuwahlen zur Landesvertretung vom 26. Oktober beauftragt, wehrt sich Klein vehement gegen Separatismus-Vorwürfe, vgl. ebd. S. 53 ff. Hartong, a. a. O. S. 123 f., hält die Vorwürfe für gerechtfertigt unter Bezug auf die Urteilsbegründung (S. 55) des Birkenfelder Amtsgerichtes vom 30. Januar 1933 in der Privatklagesache Fickert/Klar (verfasst von Amtsgerichtsrat Otto Bödeker, Akte B 17/31, Landeshauptarchiv Koblenz, 42 S.). Demnach ist „Separatismus (…) ein Unternehmen, das darauf gerichtet ist, unter Verletzung von Gesetz, Verfassung und Recht in Fühlungnahme mit dem Feinde eine Änderung der verfassungsrechtlichen Struktur des Rheinlandes herbeizuführen”. Es habe zwar noch keine Oldenburgische Verfassung und keine Reichsverfassung gegeben, aber sehr wohl ein am 10. Februar von der Nationalversammlung beschlossenes Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, nach dessen § 4 der Gebietsstand der deutschen Freistaaten nur mit Zustimmung der Nationalversammlung geändert werden durfte. Zurück
  19. Birkenfelder Landeszeitung Nr. 97, vom 16. Juli 1919. Zurück
  20. Baltes a.a.O. S. 132.  Zurück
  21. Ebd. Zurück
  22. Zitiert nach Baltes S. 30 f. In der Birkenfelder Landeszeitung heißt es am 16. Juli: „Niemand denkt wohl ernsthaft daran, eine Gemeinschaft mit von uns durch Abstammung und Entwicklung völlig geschiedenen Einwohnern des Freistaates Oldenburg fortzusetzen“. Zurück
  23. Baltes a.a.O. S. 132. Zurück
  24. Der Notenwechsel wird durch ein von der deutschen an die Interalliierte Waffenstillstandskommission gerichtetes Protestschreiben ausgelöst, das der Vorsitzende der deutschen Friedensdelegation am 20. September dem Präsidenten der Pariser Friedenskonferenz zukommen lässt. Vgl. Note Nr. 23 du Président de la Délégation allemande auprès de la Conférence de la Paix, von Lersner, Versailles, au Président de la Conférence de la Paix, Georges Clémenceau, Versailles (textes en français et en allemand), 20.9.1919, Archives diplomatiques, série Z, sous-série “Allemagne” Nr. 348, Birkenfeld, S. 140–152). Darin wird die Aufhebung der „ungesetzlichen Maßnahmen des Militärverwalters (…), (die) in offenem Widerspruch zu den geltenden Abmachungen“ (stehen), gefordert (a.a.O. S.48). Zurück
  25. Lettre de M. Paul Tirard, Haut Commissaire de la République Française dans les Provinces du Rhin, Coblence, au Ministre des Affaires étrangères, Paris, avec projet de réponse à l’intention du gouvernement allemand, 12.12.1919, Archives diplomatiques, lettre Nr. 355 S, Birkenfeld, S. 159Zurück
  26. Vgl. Reichsgesetzblatt vom 11. August 1919, S. 1383 ff. Zurück
  27. Lettre de M. Paul Tirard a. a. O. S. 159. Zurück