Zwangsarbeiter in Speyer
von Jan Storre
Die Zwangsarbeiterthematik[Anm. 1] ist für Speyer bisher nicht ausreichend aufgearbeitet und wurde, wie in vielen Städten, lange kaum beachtet. Im zweiten Band der „Geschichte der Stadt Speyer“ geht Norbert Ohler in seinem Abschnitt zum Dritten Reich zwar kurz auf den Zwangsarbeitereinsatz während des Krieges ein,[Anm. 2] doch unterblieb bisher eine ausführliche wissenschaftliche Behandlung des Themas. Die Dissertation Michael Schepuas "Nationalsozialismus in der pfälzischen Provinz" behandelt auch den ehemaligen Landkreis Speyer, lässt dabei jedoch die Stadt bzw. den Stadtkreis Speyer außer Acht.[Anm. 3] Eginhard Scharfs Aufsätze zum Thema Zwangsarbeit, die Einzelaspekte des Ausländereinsatzes in der Pfalz betrachten, sind auch für das Beispiel Speyer äußerst hilfreich.[Anm. 4]
Seit einigen Jahren sind die Speyrer um eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem dunklen Thema der Lokalgeschichte bemüht. Im Januar und Februar 1999 befasste sich eine kleine Ausstellung in der Heiliggeistkirche mit der Thematik,[Anm. 5] aus deren Anlass auch eine Zeitzeugenbefragung durchgeführt wurde. Das Stadtarchiv besitzt außerdem eine mittlerweile umfangreiche Sammlung von Briefen und Abbildungen ehemaliger Fremdarbeiter, aus denen interessante Details zur Praxis des Arbeitseinsatzes in Speyer hervorgehen.[Anm. 6] Einige Schilderungen des Alltagslebens aus diesen Briefen ehemaliger Zwangsarbeiter verarbeitete eine Artikelserie in den Speyrer Tageszeitungen „Die Rheinpfalz“ und „Tagespost“. Doch stieß die Serie in den Speyrer Zeitungen nicht bei allen Bürgern auf eine positive Resonanz. In einem Leserbrief vom 21. August 2001 äußert sich ein Speyrer empört über die Artikel und fordert den Verfasser auf, "diese unsägliche Serie bald einzustellen", da sie "der geistigen Manipulation gerade bei jungen Leuten Vorschub leistet".[Anm. 7]
Neben den erinnerungsgeschichtlichen Zeugnissen ist die Quellenlage auch in Bezug auf die zeitgenössische Überlieferung zum Thema "Zwangsarbeit" in Speyer verhältnismäßig gut. Neben interessanten Beständen im Landesarchiv Speyer[Anm. 8] befindet sich vor allem im Stadtarchiv in der Johannesstraße umfangreiches Material, von dem ein Großteil bisher noch nicht ausgewertet wurde. Ein Grund für diese relativ gute Überlieferungssituation ist, dass Speyer im Gegensatz zu den Industriestädten in der Umgebung von schweren Luftangriffen weitgehend verschont blieb. Zudem kam es – laut Ohler – in der Stadtverwaltung bzw. im Stadtarchiv in der Nachkriegszeit kaum zur Vernichtung von kompromittierendem Quellenmaterial.[Anm. 9]
Als besonders ergiebig erwiesen sich die erhaltenen Monatsberichte des Oberbürgermeisters Karl Leiling[Anm. 10], die Berichte der Schutzpolizei[Anm. 11], der Kriminalpolizei[Anm. 12] und, in geringerem Maße, auch die monatlichen Rechenschaftsberichte des städtischen Wehr- und Wohnungsreferats[Anm. 13].
Die an Gauleiter Josef Bürckel gerichteten Monatsberichte des Oberbürgermeisters sind für den Zeitraum von November 1940 bis März 1943 erhalten. Leiling, Stadtoberhaupt bis 1943, geht immer wieder auf die Situation der in Speyer eingesetzten Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeiter ein, wobei er deren mangelhafte Versorgung mit Kleidung und Schuhwerk beklagt, aber auch Angaben zur Größenordnung des "Ausländereinsatzes" in Speyer macht.
Am aufschlussreichsten sind die Berichte der Kriminalpolizei, die im Überlieferungszeitraum von Mai 1941 bis Januar 1945 ausführlich den Zwangsarbeitereinsatz in Speyer kommentieren. Die detaillierten Angaben ermöglichen es erst, eine gewisse Vorstellung von der Praxis des Ausländereinsatzes zu entwickeln. Die Kriminalpolizei berichtet über Fluchtversuche und über die zahlreichen Arbeitsniederlegungen bzw. Revolten in den Firmen, die wohl vor allem auf die schlechte Versorgungslage zurückzuführen sind. Sie bemühte sich außerdem, die Stimmung in der Bevölkerung zu erfassen, und beobachtete genau das Verhältnis der Einheimischen zu den in Speyer beschäftigten Ausländern.
Während die Kriminalpolizei natürlich vor allem Verstöße gegen die umfangreichen und teilweise undurchsichtigen Vorschriften des Arbeitseinsatzes festhielt, erlaubt die Befragung von Zeitzeugen einen anderen Blickwinkel auf den Alltag der Zwangsarbeiter. Mit Hilfe des Stadtarchivs Speyer gelang es, Kontakt zu einer ehemaligen "Ostarbeiterin" aufzunehmen, die in den Jahren 1942 bis 1944 in der Munitionsfabrik M. Hess Zwangsarbeit geleistet hat. Die Zeitzeugin lebt noch heute in Speyer und war bereit, über ihre Erfahrungen aus der Zeit zu berichten.[Anm. 14] Aufgrund ihrer Deutschkenntnisse arbeitete Olga M. von Anfang an als Dolmetscherin in der Firma Hess, wurde immer wieder aber auch als Übersetzerin z.B. bei Arbeitsniederlegungen in anderen Speyrer Firmen herangezogen. Die Zeitzeugin hatte somit auch einen Einblick in die Lebensverhältnisse in anderen "Ostarbeiterlagern" der Stadt, so dass sich das Interview als sehr aufschlussreich erwies. Auffällig und nicht immer unproblematisch ist die sich oft ergebende Diskrepanz zwischen den subjektiven Erfahrungen der Zeitzeugin und dem Bild, das sich aus den zeitgenössischen Quellen ergibt. Ein kritischer Umgang mit der Quelle ist daher unbedingt notwendig.[Anm. 15] Natürlich stellen sich Erfahrungen und Erlebnisse nach über fünfzig Jahren mitunter in einem anderen Licht dar. Dies mag zum Teil auch auf die interviewte Zeitzeugin zutreffen, schmälert jedoch nicht den Wert ihrer Aussage. Wichtiger ist, dass Olga M. aus einer anderen Perspektive berichtet und so einen neuen Blickwinkel auf die Ereignisse ermöglicht. Schon anhand der Grundaussagen des Gesprächs kann aufgezeigt werden, welche Lücken das menschenverachtende nationalsozialistische Zwangsarbeitersystem bei aller Überwachung und Kontrolle hatte – Nischen, die in einer Kleinstadt wie Speyer möglicherweise größer waren als in anderen Städten des Reichs und die Ansätze von Menschlichkeit im Alltag zumindest einiger Fremdarbeiter zuließen.
Bevor dieser Gedankengang weiterverfolgt wird, zunächst ein Blick auf die Entwicklung des Zwangsarbeitereinsatzes in Speyer in den Jahren 1939 bis 1945. Trotz der relativ guten Quellenlage kann es bei der Festlegung der Größenordnung des Einsatzes von Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeitskräften nur darum gehen, Tendenzen der Entwicklung aufzuzeigen. Genaue Zahlen sind nicht immer rekonstruierbar.
Die ersten polnischen Kriegsgefangenen, mit denen auch in Speyer der Zwangsarbeitereinsatz begann, trafen relativ spät ein. Auch wenn die Beschäftigung von Kriegsgefangenen in der grenznahen Pfalz seit November 1939 erlaubt war,[Anm. 16] kamen polnische Gefangene offenbar nicht vor Ende Mai 1940 in die Stadt. Aus einem Schreiben des Oberbürgermeisters vom Oktober 1940 geht hervor, dass dieser damals die Ankunft von 20 Kriegsgefangenen erwartete.[Anm. 17] Bis zum Dezember ist ein Anstieg auf 55 bei Bauern und 15 in der Industrie beschäftigte Polen zu verzeichnen[Anm. 18].
In anderen Teilen des Reiches waren die meisten polnischen Kriegsgefangenen zu diesem Zeitpunkt bereits zwangsweise in den Status von Zivilarbeitern versetzt worden.[Anm. 19] In der Pfalz erfolgte dieser Schritt erst im Frühjahr 1941.[Anm. 20]
Auch der Einsatz französischer Kriegsgefangener lässt sich in Speyer erst für einen relativ späten Zeitpunkt nachweisen. Auch wenn Scharf die Ankunft der ersten französischen Kriegsgefangenen in der Pfalz bereits für den Juli 1940 konstatiert,[Anm. 21] kamen, gemäß den Angaben des städtischen Wehr- und Wohnungsreferats, die ersten 45 Franzosen erst im Dezember 1940 in die Stadt und wurden auf verschiedene Firmen verteilt.[Anm. 22] Neben der Industrie wurden die Gefangenen später auch in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Zahl der westlichen Kriegsgefangenen stieg bis zum Frühjahr 1942 auf weit über 300 an.[Anm. 23]
Neben polnischen und französischen Kriegsgefangenen leisteten in Speyer auch sowjetische Gefangene Zwangsarbeit.[Anm. 24] Nach dem Kriegsaustritt Italiens befand sich zudem ein Arbeitskommando italienischer Militärinternierter in der Stadt.[Anm. 25] Die Unterbringung erfolgte nach Nationalitäten getrennt in den drei städtischen Lagern Waldeslust, Eselsdamm und Kuhweide sowie im Lager Reffenthal und in verschiedenen Firmenlagern.
Der Einsatz von Kriegsgefangenen überstieg den ziviler ausländischer Arbeitskräfte offenbar bis ins Frühjahr 1942.[Anm. 26] Bis dahin waren, wie aus den im Speyrer Stadtarchiv überlieferten Versicherungskarten hervorgeht, neben den Gefangenen Arbeiter aus befreundeten Nationen (v. a. Italien), Franzosen aus Lothringen sowie Polen in Speyer beschäftigt.[Anm. 27]
Mit der Ankunft der ersten "Ostarbeiter" im Frühjahr 1942 nahm der Fremdarbeitereinsatz auch in Speyer größere Dimensionen an. Im Juli des Jahres meldet der Oberbürgermeister, dass sich ca. 1.000 ausländische Arbeiter in der Stadt aufhielten, von denen ein Großteil schon zu diesem Zeitpunkt aus der Sowjetunion kam.[Anm. 28] Es existierten damals acht Firmenlager für "Ostarbeiter" mit insgesamt 543 Insassen.[Anm. 29] Allein die Flugwerke Saarpfalz, das größte Unternehmen vor Ort, beschäftigte etwa 200 „Ostarbeiter“. Auch auf die Stadt bezogen, stellten die Arbeitskräfte aus der Sowjetunion die größte Gruppe unter den Zwangsarbeitern dar.
Eine Statistik vom Juli 1943 verzeichnet bereits 1.915 Fremdarbeiter in Speyer.[Anm. 30] Bis zum Juni 1944 veränderte sich diese Zahl kaum:[Anm. 31]
Nach der Darstellung von Quellenlage und Größenordnung des Zwangsarbeitereinsatzes in Speyer nun ein kurzer Ausblick auf eine Facette des Alltagslebens der ausländischen Arbeitskräfte: dem vom nationalsozialistischen Regime streng verfolgten Umgang von Einheimischen mit Zwangsarbeitern.
Für die Ideologen in der NSDAP war es von Anfang an ein Problem, dass sich Kontakte zwischen Deutschen und ins Reich verschleppten Zwangsarbeitern praktisch nicht vermeiden ließen. Sie beschworen die "Gefahr der Rassenvermischung" und versuchten durch Propaganda und strenge Reglementierungen eine "Verunreinigung des Blutes" zu verhindern.[Anm. 32] Die von rassistischem Gedankengut geleiteten Vorschriften zur Behandlung der Zwangsarbeiter hielten dem Alltag nicht immer stand. In der Fabrik oder auf dem Feld kam es zwangsläufig zu Kontakten, die zumindest bei einigen Deutschen dazu führten, ihre ausländischen Kollegen als Menschen und weniger als Feinde zu betrachten.
In den Berichten der Kriminalpolizei häuften sich in den Jahren 1942 und 1943 Meldungen, in denen von Delikten des verbotenen Umgangs zwischen Deutschen und Zwangsarbeitern berichtet wird, wobei es sich bei letzteren hauptsächlich um französische Kriegsgefangene oder französische Fremdarbeiter handelt. Die Kriminalpolizei beklagte bereits am 30. März 1943, auf französische Zivilarbeiter bezogen: "Der Einsatz französischer Arbeitskräfte bringt wieder neue Momente in rassenpolitischer Hinsicht zur Diskussion. Die Franzosen bewegen sich ihrer Art entsprechend in jeder Hinsicht ungeniert in der Stadt und zwar zur Tages- und Nachtzeit. Der deutschen weiblichen Bevölkerung gegenüber sind sie auch nicht zurückhaltend und fangen schon mit Liebeleien an. Der Verkehr wird nicht gewünscht, jedoch sind (
) noch keine Strafen für die deutschen Beteiligten vorgesehen."[Anm. 33]
Mit Rücksicht auf die Bevölkerung in den besetzten Gebieten und befreundeten Staaten erließen die NS-Parteistellen zwar kein Verbot des Umgangs und des Geschlechtsverkehrs ziviler Westarbeiter mit Deutschen,[Anm. 34] trotzdem erstattete die Kriminalpolizei Speyer bei derartigen Fällen Meldung an die Gestapo. Der Kontakt von Deutschen mit westlichen Kriegsgefangenen außerhalb des Arbeitsplatzes war hingegen verboten.[Anm. 35] Jede Form des humanen Verhaltens wurde von der Polizei kriminalisiert, wie ein Fallbeispiel aus den Akten des Amtsgerichts für die Stadt Speyer zeigt.[Anm. 36]
Ein beim Umbau des Gesundheitsamtes beschäftigter Hilfsarbeiter machte sich im Juni/Juli 1942 des verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen schuldig, indem er auf Aufforderung seines französischen Kollegen einen Brief an dessen Frau schrieb und einen von ihr erhaltenen Antwortbrief an den Gefangenen weiterleitete. Ein Arbeitskollege beobachtete den Briefaustausch und meldete den Vorfall der Kriminalpolizei. Der Hilfsarbeiter wurde angeklagt, mit Kriegsgefangenen in einer "das gesunde Volksempfinden gröblich" verletzenden Weise umgegangen zu sein.[Anm. 37] Er wurde zu einer Bewährungsstrafe von vier Jahren und einer Geldbuße verurteilt.
Besonders streng reagierten die Nationalsozialisten auf Fälle verbotenen Umgangs zwischen Kriegsgefangenen und deutschen Frauen. Wie aus den Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankenthal aus dem Jahr 1946 hervorgeht,[Anm. 38] drangen am 5. Mai 1941 gegen Abend sechs bis sieben Männer, unter ihnen politische Leiter der NSDAP und SA-Angehörige, in die Wohnung einer Speyrer Arbeiterin ein, der ein Verhältnis mit einem französischen Kriegsgefangenen nachgesagt wurde. Die Eindringlinge packten die Beschuldigte, hielten sie an den Händen fest, während einer der Männer ihr die Kopfhaare mit einer Schere vollständig abschnitt. Anschließend führten die Nazis die Arbeiterin aus ihrer Wohnung und zerrten sie angeblich unter dem Gejohle der Menge durch die Straßen der Stadt zum Gerichtsgefängnis, wo sie in völlig erschöpftem Zustand abgeliefert und eingesperrt wurde. Vor dem Gefängnis hielt einer der Männer eine kurze Ansprache, in der er klarstellte, dass es so allen Frauen gehen werde, die mit einem Kriegsgefangenen Umgang hätten. Das Amtsgericht Speyer verurteilte die Angeklagte zu vier Monaten Gefängnis.
Die öffentliche Anprangerung war in den ersten Kriegsjahren ein von höchster Parteiebene akzeptiertes Mittel zur Abschreckung und wurde erst Ende 1941 verboten.[Anm. 39] In seiner Brutalität und Menschenverachtung ist der Fall für Speyer einmalig. Eginhard Scharf gelang es jedoch, neben dem genannten weitere Fälle dieser Art für die Pfalz nachzuweisen.[Anm. 40]
Gravierender noch als der verbotene Umgang mit westlichen Kriegsgefangenen waren Kontakte zu Polen und "Ostarbeitern". Die Bestrafung der Beteiligten war klar geregelt, wobei nachweisbare Fälle des Geschlechtsverkehrs besonders streng geahndet wurden.[Anm. 41] Die vorgesehene Bestrafung wird in ihrer Brutalität an einem Fall aus dem September 1942 deutlich, der sowohl in den Berichten der Kriminalpolizei als auch in den im Landesarchiv Speyer aufbewahrten Akten der Gestapostelle Neustadt a. d. Weinstraße dokumentiert ist.[Anm. 42] Abstoßend ist der voyeuristische Charakter, der deutlich aus den Gestapoakten spricht.
Im September 1942 wurden eine deutsche Haushaltshilfe und ein ehemaliger polnischer Kriegsgefangener, beide in einem Speyrer Gärtnereibetrieb beschäftigt, von der Kripo wegen verbotenen Umgangs und Geschlechtsverkehrs festgenommen und ins Gerichtsgefängnis Speyer bzw. in das Hausgefängnis der Gestapostelle Neustadt eingeliefert. In den Verhörprotokollen gaben beide zu, bereits ein längeres Verhältnis miteinander gehabt zu haben. Die beschuldigte Deutsche war bereits im zweiten Monat schwanger. Beiden war bewusst, dass ein intimes Verhältnis zu einem Polen bzw. zu einer Deutschen verboten war und im Falle des polnischen Zivilarbeiters mit der Todesstrafe geahndet wurde. Offenbar betrachtete sich der ehemalige Kriegsgefangene jedoch als Volksdeutscher – ein Urteil, das vom stellvertretenden Beauftragten des Reichsführers SS Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums am 17.11.1942 nicht bestätigt wurde. Die Gestapo stellte daher im Januar 1942 beim Staatlichen Gesundheitsamt in Ludwigshafen a. Rh. im Hinblick auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Antrag auf Unterbrechung der Schwangerschaft. Die Beschuldigte wurde am 16.12.1942 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überführt. Erst am 3.4.1943 erfolgte die Verlegung des polnischen Zivilarbeiters vom Hausgefängnis der Gestapo in das Konzentrationslager Natzweiler, wo er als Facharbeiter eingesetzt werden sollte. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
In einer Stadt, in der 1943 fast 7 % der Bevölkerung Zwangsarbeiter waren, ließen sich Kontakte zwischen Ausländern und Deutschen nicht verhindern. Die Fallbeispiele zeigen, wie brutal auch in Speyer Parteiorgane, Kriminalpolizei oder Gestapo dagegen vorgingen. Ziel derartiger Aktionen war nicht zuletzt die abschreckende Wirkung, mit der man eine weitere Ausdehnung des Massendeliktes „Verbotener Umgang“ zu verhindern suchte. Erschreckend ist die Bereitschaft einiger Bürger, durch Denunziation die Aufdeckung von Fällen des verbotenen Umgangs zu ermöglichen.
Während in den Gestapoakten und Berichten der Kriminalpolizei fast ausschließlich von Strafmaßnahmen der Polizei bzw. Gestapo die Rede ist, verdeutlichte das Gespräch mit der ehemaligen "Ostarbeiterin" Olga M., dass trotz der entwürdigenden Vorschriften und Bestimmungen zur Behandlung der „Ostarbeiter“ Kontakte zu Arbeitskollegen mit Einschränkung möglich waren. Auch wenn sie nicht von allen Kollegen gut behandelt wurde, betonte Frau M., dass sie von einigen immer wieder Unterstützung erfahren habe. So sei ihr und den anderen „Ostarbeiterinnen“ in der Firma Essen von Arbeitskollegen zugesteckt worden. Erstaunlich ist, dass sie direkt nach der Ankunft an ihrer Arbeitsstelle im Mai 1942 ihren späteren deutschen Mann kennen lernen konnte, dessen Vater zu diesem Zeitpunkt als Schlosser in der Firma Hess arbeitete. Angeblich mit Wissen einiger in der Firma hielt Frau M. unter anderem über Briefe Kontakt zu ihrem späteren Gatten, die durch den Firmensanitäter weitergeleitet wurden. Frau M. berichtete sogar von gemeinsamen Ausflügen nach Bruchsal und Heidelberg. Ihrer Auskunft zufolge wusste neben dem Sanitäter zumindest der Prokurist der Firma von dem Verhältnis. Als Parteimitglied saß er im Stadtrat. Interessant ist, dass niemand die beiden denunzierte und dieser "verbotene Umgang" trotz der strengen Richtlinien und des Überwachungssystems möglich war.
Qualitativ unterscheidet sich dieses Fallbeispiel von den vorher behandelten dadurch, dass ein deutscher Mann involviert war, was einen Unterschied in der Bestrafung des Deliktes gemacht hätte.[Anm. 43]. Kontakte dieser Art waren dennoch nicht erlaubt. Es zeigt auch, dass in einer Gesellschaft, in der offenbar große Denunziationsbereitschaft bestand, derartige Nischen der Humanität existierten. Offensichtlich gelang es weder Partei noch Sicherheitsorganen, eine hundertprozentige Kontrolle auszuüben. Gleichzeitig waren die Personen von ihren Kollegen und ihrer Umgebung abhängig, die sie jederzeit hätten verraten können.
Das Beispiel zeigt, inwiefern Zeitzeugeninterviews eine neue, wenn auch subjektive Perspektive eröffnen können, indem sie Informationen liefern, die aus anderen Quellen oft nicht hervorgehen. Die Zeitzeugin erlaubt einen Zugang zu einer erfahrungsgeschichtlichen Dimension und ist den schriftlichen Quellen in dieser Hinsicht überlegen. Die Tatsache, dass die ehemalige „Ostarbeiterin“ in den Jahren ihrer Zwangsarbeit ein Verhältnis mit einem Deutschen haben konnte, ist erstaunlich und zeigt eine Facette des Alltags im Zwangsarbeitersystem, die sonst kaum aus den Quellen spricht. Trotz strenger Überwachung durch den nationalsozialistischen Sicherheitsapparat muss auch in Speyer von einer Dunkelziffer an Fällen des "verbotenen Umgangs" ausgegangenen werden, die den Behörden verborgen blieben.
Da es sich in dem Zeitzeugeninterview um individuelle Erfahrungen handelt, besitzt der Bericht der Olga M. keinen repräsentativen Charakter. Isoliert betrachtet, mag die Gefahr bestehen, die Situation der Fremdarbeiter in Speyer zu verharmlosen – obwohl das keinesfalls der Tenor des Gesprächs war. Nur in Kombination mit anderen Quellen ergeben sich daher zuverlässige Ergebnisse. Das Beispiel zeigt jedoch auch, dass es nur durch Berücksichtigung aller Quellenarten möglich ist, ein realistisches Bild des Zwangsarbeitereinsatzes zu entwerfen.
Anmerkungen:
- Der Aufsatz stellt einen vorläufigen Ergebnisbericht der zu dem Zeitpunkt noch in Arbeit befindlichen und vom Verfasser im Dezember 2002 dem Fachbereich Geschichtswissenschaft der Johannes Gutenberg – Universität Mainz vorgelegten Staatsexamensarbeit mit dem Titel "Zwangsarbeit in Speyer: 1939-1945" dar. Zurück
- Norbert Ohler: Speyer in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, zur Zeit des 2. Weltkrieges und am Beginn des demokratischen Aufbaues (1933-1949). In: Geschichte der Stadt Speyer. Band II. Hrsg. v. der Stadt Speyer. Redaktion Wolfgang Eger, Stuttgart [u.a.] 1982, S. 355-364. Zurück
- Michael Schepua: Nationalsozialismus in der pfälzischen Provinz. Herrschaftspraxis und Alltagsleben in den Gemeinden des heutigen Landkreises Ludwigshafen 1933-1945 (Mannheimer Historische Forschungen, 20), Mannheim 2000. Zurück
- Vgl. v. a. Eginhard Scharf: "Jede Veröffentlichung verboten!" Vertrauliches Zahlenmaterial von Wehrmacht, Polizei und Arbeitsverwaltung zum Fremdarbeitereinsatz in der Pfalz während der NS-Zeit. In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz (MHVP) 94 (1996), S. 461-480; ders.: Justiz und Politische Polizei. In: Justiz im Dritten Reich. Justizverwaltung, Rechtssprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, Teil 2 (Schriftenreihe des Ministeriums der Justiz, 3), Frankfurt/M. (u.a.) 1995, S. 625-743; ders.: Die Verfolgung pfälzischer Frauen wegen „verbotenen Umgangs“ mit Ausländern. In: Hans-Georg Meyer/Hans Berkessel (Hrsg.): Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Band 3 "Unser Ziel – die Ewigkeit Deutschlands", Mainz 2001, S. 79-88; ders.: Quellenzeugnisse zum Umgang von Gestapo und Bevölkerung mit den polnischen Fremdarbeitern in der Pfalz. Eine Spurensuche in den Akten der Gestapostelle Neustadt an der Weinstraße. In: MHVP 95 (1997), S. 401-474. Zurück
- Die Ausstellung „'Arbeiten für den Feind'. Ausländische ArbeiterInnen in Speyer von 1940-1945“ war vom 27.1. bis 14.2.1999 in der Speyrer Heiliggeistkirche zu sehen und wurde vom Stadtarchiv Speyer in Zusammenarbeit mit dem Friedensdienst der Evangelischen Kirche und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft konzipiert. Zurück
- Stadtarchiv Speyer (StASp) 73-03. Besonders interessant auch die Fotosammlung (StASp 233, 2). Zurück
- Die Rheinpfalz, Nr. 193, 21.8.2001. Zurück
- Hervorzuheben sind die Bestände des Bezirks- und Landratsamts Neustadt/Weinstraße, Landesarchiv Speyer (LASp) H 41 und H 45, sowie der Bestand H 91 mit den Akten der Gestapostelle Neustadt/Weinstraße. Aufgrund eines fehlenden Ortsregisters ist die Benutzung der Akten der Gestapostelle nicht unproblematisch. Wichtige Vorarbeit wurde auch hier von Eginhard Scharf geleistet; vgl. Scharf, Quellenzeugnisse (wie Anm. 4). Zurück
- Vgl. Ohler, Speyer (wie Anm. 2), S. 360. Zurück
- StASp 10-1, 4. Zurück
- StASp 10-1, 5. Zurück
- StASp 10-1, 8. Zurück
- StASp 10-1, 10. Zurück
- Das Interview mit Frau Olga M. wurde vom Verfasser am 1. August 2002 geführt. Zurück
- Methodische Überlegungen zu Gesprächen mit ehemaligen Zwangsarbeitern und deren Interpretation enthält insbesondere der Aufsatz von Katharina Hoffmann: Schichten der Erinnerung. Zwangsarbeitererfahrungen und Oral History. In: Wilfried Reininghaus/Norbert Reimann (Hrsg.): Zwangsarbeit in Deutschland. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld 2001, S. 62-75. Zurück
- Vgl. Scharf, Zahlenmaterial, S. 468. Zurück
- Vgl. Schreiben des Oberbürgermeisters an den Ortsbauernführer vom 18. Mai 1940, StASp 6, VII, H 4. Zurück
- Vgl. Monatsberichte des städtischen Wehr- und Wohnungsreferats, StASp 10-1, 10. Zurück
- Vgl. zur allgemeinen Entwicklung v.a. die grundlegende Darstellung von Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Neuauflage Bonn 1999. Zurück
- Vgl. Monatsberichte der Kriminalpolizei (Mai 1941), StASp 10-1, 8; Scharf, Zahlenmaterial, S. 471. Zurück
- Vgl. Scharf, Zahlenmaterial, S. 470. Zurück
- Vgl. Monatsberichte des städtischen Wehr- und Wohnungsreferats (Dez. 1940/Januar 1941), StASp 10-1, 10. Zurück
- Vgl. StASp 6, VII, H 16, a, c-e; Monatsberichte der Kriminalpolizei (Januar 1942), StASp 10-1, 8; Monatsberichte des Oberbürgermeisters (April 1942), StASp 10-1, 4. Zurück
- Auch wenn sich in der Speyrer Überlieferung kaum Hinweise auf die Zwangsarbeit gefangener Rotarmisten finden und sich demzufolge keine Angaben über deren Gesamtzahl machen lassen, so ist ihr Einsatz in der lokalen Wirtschaft zumindest ab Juni 1943 belegt (vgl. Monatsberichte der Schutzpolizei, 2. Juli 1943, StASp 10-1,5.). Ein Unterbringungsort lässt sich mit dem Lager Reffenthal erst für den April 1944 lokalisieren (vgl. Monatsberichte der Kriminalpolizei, April 1944, StASp 10-1, 8. Zurück
- Auf einer undatierten Liste im Stadtarchiv sind 22 Namen italienischer Militärinternierter verzeichnet (Vgl. StASp 6, VII, H 4.). Die ehemaligen Verbündeten waren zu diesem Zeitpunkt im Kriegsgefangenenlager Speyer-Waldeslust untergebracht (vgl. Inventar-Verzeichnis des Lagers Waldeslust vom 27.10.1944, StASp 6, VII, H 16, c-e). Zurück
- Zum Einsatz ziviler ausländischer Arbeitskräfte in Speyer besonders hilfreich: verschiedene Statistiken der Jahre 1943 und 1944 im Stadt- und Landesarchiv Speyer (StASp 6, VII, H 5; LA Sp. H 45, 4106 u. 4108). Im Landesarchiv Saarbrücken überlieferte Meldungen der pfälzischen Polizeibehörden wurden bereits von Eginhard Scharf ausgewertet und die Ergebnisse 1996 veröffentlicht (Scharf, Zahlenmaterial, S. 479f.). Ergänzend herangezogen wurden etwa 1.500 Versicherungskarten ehemaliger Fremdarbeiter (StASp 30, 2). Zurück
- Vgl. StASp 30, 2. Zurück
- Vgl. Monatsberichte des Oberbürgermeisters (Juli 1942), StASp 10-1, 4. Zurück
- Vgl. Aufstellung der Lager mit Zivilarbeitern aus den altsowjetischen Gebieten in der Saarpfalz nach dem Stand vom 30.6.1942. LA SP. H 45, 4108. Zurück
- Vgl. StASp 6, VII, H 4. Zurück
- Vgl. Scharf, Zahlenmaterial, S. 479. Zurück
- Vgl. Mark Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945. Stuttgart/München 2001, S. 200. Zurück
- Monatsberichte der Kriminalpolizei (März 1943), StASp 10-1, 8. Zurück
- Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 287. Zurück
- Vgl. RGBl. 1939 I, S. 2319 sowie RGBl. 1940 I, S. 769. Zurück
- Vgl. LASp J 34, 503. Zurück
- LASp J 34, 503. Zurück
- Vgl. LASp J 34, 503. Zurück
- Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 147. Zurück
- Vgl. Scharf, Quellenzeugnisse, S. 468. Zurück
- Vgl. zur Gesetzeslage Herbert, Fremdarbeiter, S. 85-95 und 178-182. So genannte "GV-Verbrechen" deutscher Frauen mit polnischen oder sowjetischen Männern wurden von den Behörden besonders ernst genommen und endeten für die Zwangsarbeiter nicht selten mit der Todesstrafe. Zurück
- Vgl. Monatsberichte der Kriminalpolizei (September 1942), StASp 10-1, 8; LASp H 91, Nr. 6649. Zurück
- Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 93; Scharf, Quellenzeugnisse, S. 469. Es ist ein deutliches Indiz für den frauenfeindlichen Charakter der „GV-Erlasse“, dass bei Delikten des verbotenen Umgangs gegen deutsche Männer geringere Strafen verhängt wurden als gegen deutsche Frauen, denen freundschaftlicher Kontakt oder eine geschlechtliche Beziehung zu einem „Ostarbeiter“ oder Polen nachgewiesen wurde. Zurück