0.Mainz - Franzosen und Deutsche im 20. Jahrhundert
von Wolfgang Stumme
0.1.Mainz bis zum Ersten Weltkrieg
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich wurde jahrhundertelang durch massive Konflikte geprägt, die immer wieder auch neue Grenzziehungen mit sich brachten. Die Kriegsentschädigungen, die Frankreich nach dem Deutsch- französischen Krieg von 1870/71 im Frieden von Frankfurt auferlegt wurden, konnten dort nicht so schnell vergessen werden. Neben den Gebietsabtretungen von Elsass und Lothringen an Deutschland [Anm. 1] musste Frankreich Reparationen in Höhe von 5 Milliarden Francs zahlen. Die enormen Reparationszahlungen behinderten die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs. In Deutschland dagegen lösten sie einen wirtschaftlichen Boom aus: Die Gründerzeit.
Von deutscher Seite wurde die Demütigung Frankreichs durch die Krönung Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, dem Schloss Ludwig XIV., auf die Spitze getrieben. Obwohl auf den Deutsch-Französischen Krieg eine der längsten Friedensphasen in Westeuropa folgte (1817 – 1914) [Anm. 2], wurde ein politischer Ausgleich zwischen Frankreich und Deutschland nicht erreicht – ja, nicht einmal angestrebt. Ein französischer Staatsmann fasste die französischen Revanchegelüste nach dem Deutsch-Französischen Krieg mit den Worten zusammen: „Niemals davon sprechen, immer daran denken“.[Anm. 3]
Beide Länder schlossen zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Bündnisse, um sich gegen die politischen Rivalitäten abzusichern und sich militärisch aufzurüsten. [Anm. 4] Auf diplomatischem Terrain erreichte Frankreich erfolgreich ein Bündnis mit Großbritannien und Russland (Triple Entente). Deutschland schloss ein Militärbündnis mit Österreich-Ungarn, dem sich später das Osmanische Reich und Bulgarien anschlossen. [Anm. 5]
Mainz hatte zunächst von der Einverleibung Lothringens profitiert, denn nun war Metz die westlichste, gegen Frankreich gerichtete deutsche Festung: Erstmals durfte in Mainz außerhalb des Festungsrings gebaut werden, und die Mainzer Neustadt entstand. Trotzdem blieb Mainz eine Festungsstadt und wurde nach 1900 weiter ausgebaut. Da die Reichweite moderner Geschütze bei 16 km lag, wurde ein neuer Festungsgürtel angelegt – die „Selzstellung“. Sie reichte von Bodenheim über Zornheim, Nieder-Olm, Wackernheim bis Heidenfahrt am Rhein und bestand aus über 300 Bunkern. Ein Munitions- und Versorgungszug fuhr von Uhlerborn bei Heidesheim bis Zornheim; neue Militärstraßen wurden gebaut. Finanziert wurde dies aus den französischen Reparationszahlungen des Friedens von Frankfurt 1870/71.
Auf französischer Seite setzte der Ausbau der gegen Deutschland gerichteten Festungen schon früher ein. So wurden beispielsweise ab den 1880er Jahren auf den Höhen um Verdun – nicht weit von Metz entfernt – Forts errichtet, die bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges immer wieder den neuesten Anforderungen der Waffentechnik angepasst wurden.
Unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkrieges schrieb das Mainzer Journal am 27. Juli 1914: „Der gestrige Sonntag stand auch in Mainz im Zeichen der Kriegserwartungen. ... Und alle sind einig in der Treue zu Österreich! ... Begeisterungs-Ovationen brachen bei den Städtischen Sommerkonzerten in der dichtbesetzten Stadthalle aus. Die Kapelle spielte als Zugabe den ‚Hoch-Deutschmeistermarsch’, was sofort mit anhaltenden Hochrufen und Händeklatschen aufgenommen wurde und so lange anhielt, bis noch ‚Deutschland, Deutschland über alles’, ‚Die Wacht am Rhein’ und ‚Heil Dir im Siegerkranz’ intoniert wurden. Das Publikum sang stehend die Hymnen mit und blieb noch lange in erregter ‚Kriegsstimmung’.“
Ganz so einheitlich war die Stimmung jedoch nicht. [Anm. 6] Einen Tag später wendet sich die den Sozialdemokraten nahestehende Volkszeitung in Mainz gegen die kopflose Politik in Wien und forderte die Zurückweisung Österreichs, denn „das ist tausendmal besser, als wenn Deutsche und Franzosen – denn darauf kommt es doch zum Schluss heraus – um fremder Interessen willen wie Bestien übereinander herfallen.“ Der Widerstand der Sozialdemokratie gegen den Krieg verstummte angesichts der anfänglichen Siegesmeldungen schon nach wenigen Wochen.
Die Überheblichkeit und der Spott gegenüber dem militärischen Gegner kommen im Mainzer Journal vom 13. August 1914 zum Ausdruck: „Die ersten gefangenen Franzosen sollten heute Nacht den hiesigen Hauptbahnhof passieren. ... Während unsere Sanitätskolonne in die Wagen eilte, um nach den Verwundeten zu sehen, versuchten die schlauen Franzmänner nebenher ein kleines ‚Geschäftchen’ zu machen; sie rissen nämlich die Knöpfe von ihren Uniformen ab und boten sie den lachenden Neugierigen an ‚Stück für Stück 10 Pfg.‘. Man sah den Rothosen an ihrem ganzen Benehmen an, dass sie schon von allem Anfang mehr Angst wie Vaterlandsliebe hatten und dass in diesem Krieg von einem Elan oder Revanchegedanken nicht die Rede sein kann. Aber wir wollen nunmehr Revanche für das ekelhafte Revanchegeschrei der Franzosen, das ihnen die unglaublichsten Beleidigungen gegen unser Vaterland auf die welsche Zunge legte.“
Dies macht deutlich, wie private Verleger versuchten, den Feind lächerlich zu machen und zu verunglimpfen. Anders dagegen die offizielle Kriegspropaganda. Die Deutschen stellten vorrangig ihre kultivierte, friedliebende und damit letztlich ‚überlegene‘ Nation dar, während der Schwerpunkt der offiziellen Kriegspropaganda bei den Franzosen bei einem brutalen antideutschen Feindbild lag. [Anm. 7]
Die Euphorie, die weite Teile der Mainzer Bevölkerung bei Kriegsausbruch ergriffen hatte, war bald verflogen. Niemand hatte mit einer längeren Kriegsdauer gerechnet. Viele Familien, deren Haupternährer verwundet oder arbeitsunfähig heimgekehrt oder gar gefallen waren bzw. noch an der Front standen, gerieten in wirtschaftliche Not. Ende 1915 versorgte das „Amt für Unterstützung von Kriegerfamilien“ bereits über 9.000 Familien. [Anm. 8]
0.2.Die (Kriegs-) Nagelsäule
Für die notleidenden Familien wurde eine Spendensammlung initiiert. Als Ausdruck der Spendenfreudigkeit entstand die Kriegssäule [Anm. 9], die uns heute als Nagelsäule bekannt ist. Bei der feierlichen Einweihung wurde die Hoffnung ausgedrückt, dass die Kriegssäule bald zu einer Siegessäule werden möge. – Wie wir wissen, ist diese Hoffnung nicht erfüllt worden. [Anm. 10]
Die Nagelsäule erinnert einerseits „an die Kräfte des sozialen Zusammenhalts, die sich während der allgemeinen Notlage in der Mainzer Bevölkerung bildeten“, andererseits ist sie aber auch ein Beispiel für den Missbrauch karitativen Engagements für Zwecke der Kriegspropaganda. [Anm. 11]
0.3.Die fünfte französische Besetzung von Mainz: 1918 – 1930
Vor der Stadthalle hatte der Sozialdemokrat Bernhard Adelung am 10. November 1918 die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. und von Großherzog Ernst Ludwig [Anm. 12] verkündet und die Republik ausgerufen. Einen Tag später wurde das Waffenstillstandsabkommen mit den Alliierten unterzeichnet. Nun wiederholten sich die Waffenstillstandsbedingungen von 1871 – nur umgekehrt: Elsass und Lothringen wurden wieder Teil der französischen Republik, und jetzt stöhnte Deutschland unter den Reparationszahlungen.
Das Waffenstillstandsabkommen sah u. a. vor, dass die deutschen Truppen das linksrheinische Deutschland räumen mussten und rechts des Rheins eine zehn Kilometer breite neutrale Zone geschaffen wurde. Die französischen Truppen bildeten in Köln, Koblenz und Mainz Brückenköpfe. Am 8. Dezember 1918 rückten die Franzosen in Mainz ein. Über der Stadt wehte die Trikolore.
In Mainz begann zum fünften Mal eine französische Besetzung. [Anm. 13] Es galt ein modifiziertes Besatzungsrecht. [Anm. 14] Deutsche Gesetze und Verordnungen blieben zwar in Kraft, alle neuen mussten den Franzosen zur Genehmigung vorgelegt werden. [Anm. 15]
Die ersten Jahre waren die härtesten: Die Wohnungsnot war riesig. Dennoch wurden Wohnungen in großem Umfang beschlagnahmt. Waren es 1920 noch 170 Wohnungen, so waren es 1924 über 9100 Wohnungen, die requiriert wurden. Darüber hinaus wurden massenhaft Soldaten bei Mainzer Bürgern einquartiert. Eine Folge der beengten Wohnverhältnisse und der schlechten Ernährungslage war ein rapider Anstieg ansteckender Krankheiten, insbesondere der Tuberkulose. Die meisten öffentlichen Gebäude wurden von der Besatzungsmacht beansprucht – so z. B. die Stadthalle, Justizgebäude und der Schlacht- und Viehhof – daneben aber auch Fabrikgebäude, Lagerhallen und Kaianlagen. Auch der Bahnverkehr lag in französischen Händen. Mainz hatte die höchste Arbeitslosenzahl im französisch besetzten Gebiet. [Anm. 16] Hinzu kamen ein Ausreiseverbot in das rechtsrheinische Deutschland und Ausgangssperren. Die französische Zeit wurde eingeführt, d. h. am 15. Dezember 1918 wurden die Uhren um eine Stunde zurückgestellt. Es wurde angeordnet, dass die Mainzer Bevölkerung Französische Offiziere grüßen mussten. Die Meinungsfreiheit wurde stark eingeschränkt. So wurden in der Anfangszeit der Besatzung der Postverkehr, Zeitungen und die Verbreitung von Büchern und Flugschriften verboten. [Anm. 17]
Die Sprengung der Festungsanlagen von Mainz begann. Nur diejenigen Kasernen [Anm. 18] blieben vorerst erhalten, die von der Besatzungsmacht selbst genutzt wurden.
Die Franzosen versuchten, der deutschen Bevölkerung ihre französische Kultur nahe zu bringen. Es gab Gastaufführungen berühmter französischer Theater und Künstler; französische Zeitungen wurden in öffentlichen Lesehallen ausgelegt; die Volkshochschule bot kostenlose Sprachkurse an; die Armee lud die Mainzer Bevölkerung zu billigen Preisen zu Filmaufführungen ein.
Diese massive Beeinflussung („Pénétration pacifique“) hatte insgesamt gesehen nicht den erhofften Erfolg. Ganz im Gegenteil. Es gab Bestrebungen, bis dahin im Deutschen gebräuchliche Lehnwörter durch deutsche Begriffe zu ersetzen: So z. B.: Trottoir durch Gehweg, Kasino durch Werksgasthaus, automatisch durch selbsttätig oder Telefon durch Fernsprecher.
0.4.Der ‚Ruhrkampf‘
Nachdem die aus Vertretern des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Russlands bestehende Reparationskommission Ende 1922 festgestellt hatte, dass Deutschland statt der geforderten 13,8 Millionen nur 11,7 Millionen Tonnen Kohle und nur 65.000 statt 200.000 Telegraphenmasten geliefert hatte, kam es zur Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen. Daraufhin stellte die Reichsregierung die Reparationen an Frankreich und Belgien ein und rief zum passiven Widerstand auf, was zur Folge hatte, dass Industrie, Verkehr und Verwaltung teilweise lahmgelegt waren. Frankreich reagierte darauf mit 150.000 verhängten Strafen. Neben Fritz Thyssen mussten sich auch drei weitere Zechenbesitzer im Januar 1923 vor dem französischen Kriegsgericht in Mainz verantworten.
In Mainzer Gefängnissen wurden sogenannte Ruhrgefangene untergebracht. Die Mainzer zeigten ihre Haltung deutlich. Sie besuchten die ‚Politischen‘; sie brachten ihnen Lesestoff aus der Stadtbibliothek; Schauspieler und Sänger des Mainzer Theaters traten im Gefängnis in der Ottiliengasse auf. In der Stadt kam es zudem zu feindseligen Äußerungen gegen die Franzosen und zu tätlichen Angriffen gegen die Besatzungskräfte.
0.5.Separatisten
Separatisten, die eine ‚Rheinische Republik‘ außerhalb des Reichsverbandes anstrebten, hatten kurzfristig Erfolg. Sie besetzten im Oktober 1923 den Erthaler Hof, proklamierten eine neue Provinzialregierung. Während die Franzosen die Separatisten unterstützten, fanden sie bei den Mainzern keine Gegenliebe. Da die Separatisten jedoch wenig Aussicht auf Erfolg hatten, ließen die Franzosen sie nach einem viertel Jahr wieder fallen.
0.6.Inflation
Die soziale Lage der Mainzer zur Zeit der Inflation war kritisch. Zu der Einquartierung ungeliebter Marokkaner [Anm. 19], dem Lebensmittelmangel, der Wohnungsnot und der Arbeitslosigkeit kam schließlich auch noch die Inflation, die dazu führte, dass ein Brötchen wertlose Millionen Mark kostete.
Die Mainzer konnten erst wieder etwas aufatmen, als Ende 1923 die Rentenmark eingeführt wurde und damit die Inflation gestoppt werden konnte.
0.7.Deutsch-Französische Spannungen, aber auch Annäherungen und wieder Krieg
Bereits kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begannen Franzosen und Deutsche schon wieder mit der Aufrüstung.
Unmittelbar nach Kriegsende beauftragte die französische Regierung den Generalstab, Vorschläge zur Verteidigung der Grenzen zu erarbeiten, um Frankreich vor einer neuen Invasion aus Deutschland zu schützen. Die wichtigsten Abschnitte der sog. Maginot-Linie waren bis 1936 errichtet. Jetzt, mit der steigenden Bedrohung Deutschlands unter der Führung Hitlers, konnten die hohen Kosten für dieses gewaltige Militärprojekt auch besser begründet werden.
Auf der deutschen Seite unterlagen auf Grund des Versailler Vertrages Umfang und Bewaffnung des Berufsheeres starken Beschränkungen. Die Reichswehrführung umging diese Rüstungsbeschränkungen durch geheime und illegale Maßnahmen. Zum einen erweiterte sie die auf 100.000 Mann beschränkte Personalstärke durch geheime Absprachen mit den nationalistischen Freikorps und republikfeindlichen Wehrverbänden, wie dem Stahlhelm und dem Kyffhäuserbund. Zum anderen kam es im Geheimen zur Rüstungskooperation mit der Sowjetunion. Entgegen dem Versailler Vertrag wurden so u. a. neue Waffensysteme erprobt und die Luftwaffe aufgebaut.
Somit waren schon in den 1920er Jahren die Weichen für den neuen Waffengang gestellt worden.
Parallel zu diesen geheim gehaltenen Kriegsvorbereitungen und der unmissverständlichen Position der Alliierten auf Einhaltung des Versailler Vertrages nahmen ab 1923 die Annäherungsversuche zwischen Frankreich und Deutschland Gestalt an.
Die Außenminister Frankreichs, Aristide Briand, und Deutschlands, Gustav Stresemann, waren bestrebt, das deutsch-französische Verhältnis nach einer Zeit der Gewaltanwendung zwischen 1914 und 1923 auf eine friedliche Basis zu stellen. Aufgrund der ausgehandelten Verträge von Locarno, mit denen der Status quo am Rhein (Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy) anerkannt wurde, wurde das Deutsche Reich 1926 in den Völkerbund aufgenommen. [Anm. 20] – Für ihre Friedenspolitik erhielten Briand und Stresemann 1926 den Friedensnobelpreis.
Durch den frühen Tod Stresemanns (1929), der in Deutschland als Erfüllungspolitiker diffamiert wurde, und durch die unnachgiebige Haltung des französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré, blieb eine weitergehende Annäherung versagt. Die Zeit für eine dauerhafte Aussöhnung war noch nicht reif. Die Besetzung des Rheinlandes wurde 1930 beendet.
Die Mainzer dankten Gustav Stresemann für seine Ausgleichspolitik 1931 mit einem Denkmal an der Rheinseite des Fischtorplatzes. [Anm. 21] Nach 1933 passte das Denkmal für die Aussöhnung [Anm. 22] mit Frankreich nicht mehr in die Landschaft. Deshalb zerstörten die Nationalsozialisten es. – Die Vernichtung dieses Denkmals ist Ausdruck eines neuen Abschnittes der Jahrhunderte alten Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland.
0.8.Ausbeutung der Arbeitskraft und menschenunwürdige Behandlung
Nach dem ‚Blitzkrieg‘ im Westen im Mai/Juni 1940 wurden rund 1.600.000 französische Kriegsgefangene nach Deutschland verbracht und zu einem großen Teil zur Arbeit eingesetzt. Daneben befanden sich während des Zweiten Weltkrieges über 850.000 freiwillige und dienstverpflichtete ‚Zivilfranzosen‘ als Arbeitskräfte im Deutschen Reich. Die meisten von ihnen hatte man zwangsweise rekrutiert.
Die sechste französische Besetzung von Mainz: 1945 – 1955
Das Ende des Zeiten Weltkrieges kam für die Mainzer am 22. März 1945, als Amerikaner die Stadt besetzten. Die Wehrmacht hatte die Mainzer Rheinbrücken gesprengt, so dass Notbrücken errichtet wurden, über die Material und Verpflegung in die rechtsrheinischen Kampfgebiete gelangten.
Die Stadtverwaltung residierte in ihrem Notquartier, der ehemaligen Kunstgewerbeschule, dem ‚Pulverturm‘.
In Mainz fehlte es am Notwendigsten. Die Ernährungslage war schlechter als während des Krieges. Lebensmittel mussten zudem an die Besatzungsmacht abgegeben werden. Die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas musste wieder hergestellt werden. Große hygienische Mängel waren unübersehbar. Wohnungen mussten für Besatzungsoffiziere geräumt werden. Angesichts der Wohnungsnot wurden die Bewohner aufgefordert, Mainz zu verlassen; Evakuierte durften zunächst nicht zurück in die Stadt. Die Menschen lebten in Notquartieren wie Kellern, Kasernen und Bunkern oder in notdürftigen Behelfsbauten.
Aufgrund der Absprache zwischen den Siegermächten über die Abgrenzung ihrer Zonen verließen die Amerikaner Mainz am 9. Juli 1945, und die Franzosen marschierten ein. Mit der Grenzziehung der neuen Zonen lagen nun sechs ehemalige rechtsrheinische Mainzer Stadtteile in der amerikanischen Zone. Mainz verlor dadurch mehr als die Hälfte seines Stadtgebietes, mehr als ein Viertel seiner Bevölkerung und vor allem bedeutende Industriebetriebe mit ihrem Steueraufkommen.
Am Kaisertor, dem linksrheinischen Brückenkopf der behelfsmäßigen Straßenbrücke, stand jetzt ein Schild mit der Aufschrift ICI MAYENCE und Armeesymbole erinnerten an die vorangegangenen fünf Besetzungen von Mainz durch Franzosen. Viele Franzosen revanchierten sich für die Demütigungen, die Frankreich durch die deutsche Besetzung während des Krieges erlitten hatte; deshalb musste die Ankündigung von Charles de Gaulle bei seinem Besuch im Oktober 1945, „er komme als „Freund und Nachbar, ja als Europäer nach Mainz“, für die Bürger zunächst unverständlich bleiben.
Der erste Winter nach dem Krieg traf Mainz besonders hart. Schulen, die im Oktober 1945 den Unterricht wieder aufgenommen hatten, mussten wegen fehlenden Heizmaterials Zwangspausen einlegen.
Die französische Besatzungsmacht hatte bereits am 30. August 1946 Mainz zur Hauptstadt des neuen Landes Rheinland-Pfalz bestimmt. 1951 zogen Landtag und Landesregierung von Koblenz nach Mainz. Sitz des Landtags wurde das wieder aufgebaute Deutschhaus, in dem 1793 schon das erste gewählte Parlament auf deutschem Boden getagt hatte.
Deutsch-französische Aussöhnung
Seit 1947 führte die Johannes Gutenberg-Universität ‚Internationale Ferienkurse‘ [Anm. 23] durch, die schon kurz nach dem Krieg einen Beitrag zur Aussöhnung zwischen den Völkern leisteten. Am Ende des ersten Ferienkurses berichtete ein französischer Student:
„Der deutsche Geist war uns fremd. Umso interessanter musste es für uns sein, einmal unmittelbar deutsche Anschauungen kennenzulernen. Wir kamen mit einem verständlichen Misstrauen, das auch zunächst zu einer gewissen Zurückhaltung führte. Aber dann haben wir im Umgang mit deutschen Studenten gute Erfahrungen gemacht. Ein erster Schritt zum gegenseitigen Kennenlernen und Verstehen ist getan.“
Es sollte nicht bei diesem ersten Schritt bleiben. Als der Mainzer Stadtrat 1953 auf Vorschlag der französischen Besatzungsbehörden nach Dijon fuhr, um die Möglichkeiten einer Partnerschaft zu erkunden, wurden die Gäste noch recht zurückhaltend empfangen. Erst als Oberbürgermeister Stein versicherte, dass die Vergangenheit keinesfalls vergessen, sondern überwunden werden solle, löste sich die Zurückhaltung. In den folgenden Jahren wurden die Kontakte zwischen den Vertretern beider Städte fortgeführt. 1954 trafen sich Professoren der Universitäten Mainz und Dijon und 1957 fuhr zum ersten Mal eine Schülergruppe nach Dijon.
Bei der feierlichen Verkündung der Städtepartnerschaft Mainz-Dijon im Jahre 1958 sprach Kanonikus (Domherr) Félix Kir, der bei der Résistance aktiv und von der deutschen Besatzungsmacht verhaftet und zum Tode verurteilt worden war:
„Wir wollen diesen Freundschaftsvertrag aus tiefstem Herzen schließen und uns gegenseitig Hilfe leisten. Deutschland und Frankreich sollen in Einigkeit leben, und dazu legen wir heute den Grundstein.“
Diese Städtepartnerschaft, eine der ältesten deutsch-französischen Städtepartnerschaften, wird bis heute durch Treffen von Kommunalpolitikern beider Städte, aber auch durch die Beziehungen zwischen den Universitäten und die Aktivitäten von Bürgern aus Dijon und Mainz mit Leben erfüllt.
Die Partnerschaft zwischen Burgund und Rheinland Pfalz ist ein zukunftsweisendes Beispiel einer regionalen Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen: Land, Kommunen, Kirche, Universitäten und Schulen, Kammern und Vereine.
1963, also 10 Jahre nach den ersten Kontakten zwischen Mainz und Dijon, wurde der Vertrag über die deutsch-französische Freundschaft geschlossen.
Nach Jahrzehnten des friedlichen Zusammenlebens zwischen Deutschen und Franzosen können wir nicht mehr nachvollziehen, warum die ‚Erbfeindschaft‘ zwischen Deutschland und Frankreich über Jahrhunderte immer wieder zu neuen Aggressionen geführt hat. Inzwischen begreifen wir, was Charles de Gaulle 1945 in Mainz aussprach: „Ich komme als Freund und Nachbar, ja als Europäer nach Mainz“.
Verfasser: Wolfgang Stumme
Redaktionelle Bearbeitung: Jasmin Gröninger
Verwendete Literatur:
- Cabanes, Bruno: 9. Juni 1920. Georg V. eröffnet das Imperial War Museum. In: Cabanes, Bruno, Duménil, Anne (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Darmstadt 2013, S. 434 – 441.
- Durst, Georg: Alzey in der Besatzungszeit (1918-1930). In: von Wothe, Heinrich (Hg.): Rheinhessen. Ein Heimatbuch Bd. 3. Eine Festgabe zur Befreiung der Rheinlande 1930. Mainz 1930, S. 105–110.
- Engels, Jens Ivo: Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik. Köln, Weimar, Wien 2007.
- Mommsen, Wolfgang J.: Das Zeitalter des Imperialismus. Fischer Weltgeschichte Band 28. Frankfurt am Main 1969.
- Rödder, Andreas: Revisionismus und Verständigung – Gustav Stresemann und die deutsche Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Vortrag im Auswärtigen Amt Berlin, 29. Juni 2007. URL: http://www.stresemann-gesellschaft.de/downloads/andreasroedder.pdf (Aufruf 25.07.2016).
- Schütz, Friedrich: Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. In: Dumont, Franz, Scherf, Ferdinand, Schütz, Friedrich (Hrsg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt. Mainz 1999, S. 475 – 509.
- Scriba, Anulf: Der erste Weltkrieg: Deutsches Historisches Museum, 08.09.2014, URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg (Aufruf 19.04.2016).
- Stumme, Wolfgang: Kriegsbeginn und ‚Augusterlebnis‘ im Spiegel der Mainzer Presse. In: Verein für Sozialgeschichte (Hg.): Mainz und der Erste Weltkrieg( Mainzer Geschichtsblätter 14). Mainz 2008, S. 45 – 60.
- Teske, Frank: Die Nagelsäule. Zur Geschichte eines Mainzer Denkmals. In: Verein für Sozialgeschichte (Hg.): Mainz und der Erste Weltkrieg (Mainzer Geschichtsblätter 14). Mainz 2008, S. 79 – 90.
Aktualisiert am: 25.07.2016
Anmerkungen:
- Dies war – gegen den Willen Bismarcks – eine Forderung des preußischen Militärs. Zurück
- Friedensphase vom deutsch-französischen Krieg bis zum Ersten Weltkrieg: 1871- 1914= 43 Jahre; Ende der Völkerschlacht von Leipzig bis zum Krimkrieg: 1813-1853=40 (bezogen auf Deutschland bis zum Beginn des deutschen Einigungskriegs: 1864: 1813- 1864 = 51 Jahre); seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: 1945-2016=71 Jahre. Zurück
- „Toujours y penser, jamais en parler“. Dieser Ausspruch, der exemplarisch für die nationalistische Strömung in Frankreich nach dem Deutsch-Französischen steht, stammt von Leon Gambetta (1838 – 1882), der sich ursprünglich gegen diesen Krieg gewandt hatte und der sich nach 1871 denen anschloss, die eine Rückeroberung Elsass-Lothringens propagierten. Vgl. u. a. Engels, Jens Ivo: Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik. Köln, Weimar, Wien 2007. Zurück
- Scriba, Anulf: Der erste Weltkrieg: Deutsches Historisches Museum, 08.09.2014, URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg (Aufruf 19.04.2016). Zurück
- Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: Das Zeitalter des Imperialismus. Fischer Weltgeschichte Band 28. Frankfurt am Main 1969. Zurück
- Vgl. Stumme, Wolfgang: Kriegsbeginn und ‚Augusterlebnis‘ im Spiegel der Mainzer Presse. In: Verein für Sozialgeschichte (Hg.): Mainz und der Erste Weltkrieg( Mainzer Geschichtsblätter 14). Mainz 2008, S. 45 – 60. Zurück
- Vgl. Seite „Propaganda im Ersten Weltkrieg“. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 30. März 2016, 16:29 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Propaganda_im_Ersten_Weltkrieg&oldid=153011679 (Abgerufen: 4. Mai 2016) Zurück
- Vgl. Stumme, Wolfgang, a.a.O. Zurück
- Cabanes, Bruno: 9. Juni 1920. Georg V. eröffnet das Imperial War Museum. In: Cabanes, Bruno, Duménil, Anne (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Darmstadt 2013, S. 434 – 441 (438): „Zweifellos hoffte man auch, mit solchen Museen den Zusammenhalt an der Heimatfront zu stärken. In Deutschland etwa drückt sich dieses Bemühen vor allem in den beliebten „Nagelfiguren“ aus: Man stellt eine hölzerne Plastik auf – U-Boot, Schild, Kreuz, Adler, oder dergleichen – und bietet Nägel zum Kauf an, die der Erwerber dann einschlagen darf. Der Preis richtet sich nach dem Metall – Gold und Silber sind am teuersten. Das Geld fließt an das Rote Kreuz. Ab 1916 wird die Praxis durch große Wanderausstellungen allseits bekannt und beliebt. In Düsseldorf weiht man im Januar einen riesigen Löwen ein; er ist im Handumdrehen mit Nägeln bedeckt. Und bringt knapp 800 000 Mark ein. In Berlin wird am 4. September 1915 ein zwölf Meter hoher „Eiserner Hindenburg“ errichtet. Die mit Nägeln bespickten Kriegswahrzeichen demonstrieren die Rückendeckung der Soldaten in der Heimat. Nach Ansicht der Historikerin Susanne Brandt stärkt das deutsche Volk mit den Nagelungen konkret und symbolisch die Holzfigur und zeigt damit seine Entschlossenheit, bis zum Endsieg weiterzukämpfen. Bezeichnenderweise verlieren Nagelungen und vergleichbare Praktiken ab 1917 merklich an Popularität.“ Zurück
- Teske, Frank: Die Nagelsäule. Zur Geschichte eines Mainzer Denkmals. In: Verein für Sozialgeschichte (Hg.): Mainz und der Erste Weltkrieg (Mainzer Geschichtsblätter 14). Mainz 2008, S. 79 – 90 (86). Zurück
- Teske, Frank, a.a.O, S. 90. Zurück
- Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt bestand von 1806 – 1918. Zurück
- 1.:1644 – 1650, 2.: 1688 – 1689, 3.: 1792 – 1793, 4.: 1798 – 1814 Französische Besetzung von Mainz. Zurück
- Der Dritte Abschnitt der Haager Landkriegsordnung mit dem Titel „Militärische Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiete“ bildet die völkerrechtliche Grundlage des Besatzungsrechts. Zurück
- Schütz, Friedrich: Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. In: Dumont, Franz, Scherf, Ferdinand, Schütz, Friedrich (Hrsg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt. Mainz 1999, S. 475 – 509 (S. 486). Zurück
- Schütz, Friedrich, a.a.O., S. 481. Zurück
- Durst, Georg: Alzey in der Besatzungszeit (1918-1930). In: von Wothe, Heinrich (Hg.): Rheinhessen. Ein Heimatbuch Bd. 3. Eine Festgabe zur Befreiung der Rheinlande 1930. Mainz 1930, S. 105–110,(S. 105). Zurück
- z. B.: Eisgrubkaserne, Defensionskaserne. Zurück
- Französische Soldaten aus Nordafrika (vorwiegend Marocko, aber auch Algerien) wurden Utschebebbes genannt. Wahrscheinlich nach den Garnisonsnamen Oudjidda und Sidi bel Abbes. Bis 1923 waren in Rheinhessen von farbigen Soldaten 20 Kinder gezeugt worden, die die Nationalsozialisten „Rheinlandbastarde“ nannten. Zurück
- Rödder, Andreas: Revisionismus und Verständigung – Gustav Stresemann und die deutsche Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Vortrag im Auswärtigen Amt Berlin, 29. Juni 2007. URL: http://www.stresemann-gesellschaft.de/downloads/andreasroedder.pdf (Aufruf 25.07.2016). Rödder berichtet, wie am Rande der aus diesem Grunde angesetzten Tagung des Völkerbundes Briand in einem privaten Gespräch die Rückgabe des Saargebietes sowie ein Ende der Rheinlandbesetzung in Aussicht gestellt hat, und Stresemann im Gegenzug eine Wirtschaftliche Unterstützung Frankreichs angeboten hat. Denn Deutschland hatte trotz Kriegsfolgen, Reparationen, Ruhrkampf und Inflation Frankreich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder wirtschaftlich überholt. Zurück
- Seit 1960 erinnert die Stresemann-Gedenkstätte in der Staatskanzlei in Mainz an Gustav Stresemann. Zurück
- Stresemann hatte sich vom Saulus zum Paulus gewandelt. Der ehemalige Verfechter einer aggressiven Annexions- und Kriegszielpolitik wurde Wegbereiter der Aussöhnung mit Frankreich. Zurück
- Sprachkurse in der vorlesungsfreien Zeit für Deutschlernende aus aller Welt. Zurück