Die Blütezeit der Turnerbewegung nach der Turnsperre: Vereinsgründungen in Worms, Oppenheim und Bingen sowie die Große nationale Turnfahrt nach Bingen in den Jahren 1846 und 1847
Die Turnerbewegung
Die Turnerbewegung des 19. Jahrhunderts kann nicht mit unserer heutigen Auffassung von Sport oder sportlicher Betätigung verglichen werden. Hinter den Übungen steckte viel mehr; sie waren Symbol und Ausdruck einer politischen Gesinnung, die geprägt war von der Lebenswelt in den deutschen Ländern: Kleinstaaterei, die weit verbreitete absolutistisch-feudale Herrschaftsordnung, schließlich die Ideen der Französischen Revolution und die Enttäuschung über die restaurative Politik des Wiener Kongresses spielten hier ein große Rolle. Die Turner standen dabei für Werte wie Demokratie und nationale Einheit.
Die deutsche Turnerbewegung kann grob in zwei verschiedene Phasen eingeteilt werden. Die erste Phase begann in den 1810er Jahren in Preußen und breitete sich rasch in den deutschen Ländern aus. Diese frühe Bewegung war vor allem vom Wirken des berühmten Turnvater Jahn geprägt. Erste Turngemeinden und
–vereine wurden in dieser Zeit gegründet. Doch schon nach wenigen Jahren kämpfte die Bewegung mit politischer Unterdrückung durch die sogenannte Turnsperre. Nach der Aufhebung dieser Sperre im Jahr 1842 begann eine zweite Phase, die durchaus als kurze Blütezeit der Turnerbewegung betrachtet werden kann und nach der Revolution 1848/49 endete. In den 1840er Jahren entstand eine Vielzahl neuer Vereine, die teilweise noch heute existieren. [Anm. 1]
Nach der Revolution 1848/49 geriet die Turnerbewegung erneut in den Fokus der Politik. Viele Turngemeinden hatten sich an der revolutionären Bewegung und an den vielerorts entstandenen, bewaffneten Bürgerwehren beteiligt, nahmen an den Kämpfen im Zuge der Reichsverfassungskampagne teil und hatten sich somit offen gegen die restaurativen Regierungen gestellt. Auf dem 2. Hanauer Turntag am 3. Juni 1848 spaltete sich die Bewegung in zwei nationale Verbände: Den „Deutschen Turnerbund“ (liberal-konstitutionelle Orientierung) und den „Demokratischen Turnerbund“ (demokratisch-republikanische Orientierung). Mehrere Versuche, die beiden Verbände in den folgenden Jahren wieder zu vereinigen, scheiterten. Viele der Vereine wurden als politische Organisationen aufgelöst. Von den inzwischen etwa 300 Gemeinden konnten nur 100 die Verbote überstehen. Die Vereine waren zunehmend der Willkür der lokalen Behörden ausgeliefert, die Mitgliedszahlen gingen aufgrund der Enttäuschung über das Scheitern der liberalen Bewegung und auch aufgrund der Unterdrückungsmaßnahmen stark zurück. [Anm. 2]
Turngemeinde 1846 Worms e.V.
Die Turngemeinde 1846 Worms e.V. wurde am 1. Juni 1846 gegründet. Die Genehmigung der offiziellen Satzung folgte Ende des gleichen Jahres. Der Zweck des Vereins war laut Vereinsordnung: „durch gemeinschaftliche Turnübungen Gesundheit und Stärkung des Körpers und des Geistes zu erreichen suchen.“ [Anm. 3]
Aufgrund der politischen Situation war der Verein jedoch schon früh unter Beobachtung. Der Wormser Kreisrat schrieb an den Bürgermeister von Osthofen, seit geraumer Zeit würden „die Turnvereine, Lesevereine, Singvereine und dergleichen dazu benutzt, die politischen Bestrebungen des Radikalismus zu befördern“ und würden „insbesondere in den Versammlungen solcher Vereine hauptsächlich revolutionäre Reden gehalten, aufrührerische Schriften empfohlen und verbreitet und Geldsammlungen veranstaltet.“ [Anm. 4] Dennoch gelang es der Wormser Gemeinde den nach 1847 um sich greifenden Verboten durch die hessische Regierung zu entgehen.
Während der Revolution von 1848/49 kam es zunehmend zur Differenzierung unter den Turnvereinen und zur Spaltung der verschiedenen politischen Lager. Der Wormser Turnverein folgte dem Demokratischen Turnerbund, der sich im Sommer 1848 vom „Deutschen Turnerbund“ abgespalten hatte (s.o.). [Anm. 5]
Im Jahr 1869 richtete die Turngemeinde das mittelrheinische Turnfest aus, an dem 1.500 Turner aus 70 Vereinen teilnahmen. Nachdem die Stadt Worms dem Verein einen Bauplatz für eine eigene Sporthalle zur Verfügung stellte, konnte die neu gebaute Jahnturnhalle im November 1894 feierlich eingeweiht werden. Bei einem Bombenangriff wurde das Gebäude 1945 vollkommen zerstört und anschließend bis 1952 wieder aufgebaut sowie in den 70er Jahren erweitert. Nach dem Verkauf der alten Halle konnte am 20. April 2012 die Neue Jahnturnhalle feierlich auf der gegenüber liegenden Jahnwiese eingeweiht werden.
Noch heute ist die Turngemeinde 1846 ein eingetragener Verein mit insgesamt 16 Abteilungen. Dazu gehören Badminton, Ballett, Baseball, Basketball, Boxen, Eissport, Fechten, Herzsport, Hockey, Leichtathletik, Selbstverteidigung, Tanzen, Tischtennis, Turnen, Volleyball und Wandern. Die Sportstätten befinden sich an mehreren Standorten im Stadtgebiet. Im Jahr 2014 besaß der Verein etwa 3.000 Mitglieder. [Anm. 6]
Der Turnverein 1846 Oppenheim
Die Turngemeinde Oppenheim wurde am 17. Juli 1846 auf Initiative von 44 Oppenheimer Bürgern gegründet. Wenige Wochen später erhielt die Gemeinde von der Stadt einen eigenen Turnplatz vor dem Rheintor. Nach dem erneuten Verbot der Turnvereine im Anschluss an die Revolution 1848/49 wurde es ruhig um den Verein. 1860 veröffentlichten die verbliebenen Mitglieder schließlich eine Einladung an die Oppenheimer Bürger zur Generalversammlung und Wiederbegründung. Bis auf wenige Jahre in den 1870er Jahren blieb der Verein sehr aktiv. Es gab zahlreiche Schauturn-Veranstaltungen, der Ausbau der Abteilungen sowie die stete Erweiterung und Optimierung der Sportstätten schritten voran. Nach dem Zweiten Weltkrieg differenzierte sich der Verein weiter. 1952 wurde die Boxabteilung, 1954 die Wassersportabteilung, 1956 und 57 die Federball- und Handballabteilung gegründet. In den 1980er Jahren erreichte der Verein eine besonders große Popularität, 1986 überschritten die Mitgliedszahlen die 1.000er Marke. Im Jahr 2000 besaß der TV 1846 Oppenheim rund 1.300 Mitglieder. [Anm. 7]
Turnverein 1846 Bingen
Der Turnverein Bingen wurde ebenfalls 1846 im Kontext der aufblühenden Vereinslandschaft gegründet. Initiator war der Binger Tabakfabrikant Carl Gräff. Bereits nach kurzer Zeit zählte der Verein 80 Mitglieder und vernetzte sich mit weiteren rheinhessischen Turngemeinden. Gräffs Intention nach sollte der Verein im Wesentlichen auf die rein körperliche Betätigung ausgerichtet sein – weniger „zu einem Treibhaus“ vorzeitiger „politischer Mündigkeit“ werden. [Anm. 8] Dementsprechend verlief die Geschichte des Vereins zunächst verhältnismäßig ruhig und wurde wenig von den politischen Verfolgungen beeinflusst. 1847 fand in Bingen die Erste nationale Turnfahrt statt, an deren Organisation die Binger Gemeinde um Carl Gräff maßgeblich beteiligt war.
Das nationale Turnfest zog in der politisch aufgewühlten Zeit der späten 1840er Jahre politische Konsequenzen nach sich. Die preußische Regierung warnte die hessische Regierung im November 1847 ausdrücklich vor der revolutionären Bedrohung durch die Turn- und Gesangsvereine. [Anm. 9] Die politischen Verhältnisse wirkten sich auch auf den Binger Turnverein aus. Hinzu kam ein Besuch von Turnvater Jahn im Frühjahr 1848 [Anm. 10], wodurch innerhalb des Vereins Diskussionen über eine politische Ausrichtung ausgelöst wurde. Die zunehmende Politisierung einiger Mitglieder führte zu deren Abspaltung vom restlichen, eher unpolitischen, Teil der Gemeinde. Unter der Leitung von Ferdinand Allmann und dem Lehrer Jakob Nix bildete dieser radikalere Teil einen neuen „demokratischen Turnverein“. [Anm. 11] Hier wurde das Turnen bald ganz von politischen Aktionen, der Teilnahme an Demonstrationen und einer republikanisch-revolutionären Agitation abgelöst. [Anm. 12] Der neue Verein beteiligte sich unter anderem an den Aufständen in der Revolution 1848/49. Jakob Nix wurde Hauptmann der 3. Kompagnie der rheinhessischen Freischärler und emigrierte nach der Revolution nach Amerika. [Anm. 13]
Die verbliebenen 60 Mitglieder des TV 1846 Bingen um Carl Gräff orientierten sich weiterhin hauptsächlich an der rein körperlichen Betätigung. Ab 1860 sorgte das entspanntere politische Klima für einen erneuten Aufschwung des Binger Turnvereins. Eduard Sander, Sohn des damaligen Realschuldirektors, begann mit Unterstützung des Vereinsgründers Carl Gräff mit dem Wiederaufbau. [Anm. 14] 1885 errichtete der Verein seine erste Turn- und Gerätehalle auf einem Grundstück an der Drususbrücke. Dennoch musste das Vereinsgelände in der Folge häufig umziehen, da man ohne eigenes Gelände den Mietbedingungen der Stadt unterlag. Erst im Jahr 1919 gelang es dem Verein ein eigenes Sportgelände zu erwerben. Zur Jahrhundertwende war die Mitgliederzahl wieder auf 300 angewachsen und der Verein feierte große Erfolge im Turnsport. [Anm. 15] Die Kriegswirren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte der Verein verhältnismäßig gut überstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lief der Turnbetrieb ab 1949 wieder an und die Mitgliedszahlen wuchsen. 1979/80 begannen die Planungen für eine Renovierung des vereinseigenen Sportplatzes, der im Juli 1987 eingeweiht werden konnte. [Anm. 16]
Im Jahr 2000 hatte der Verein etwa 850 Mitglieder. Heute besteht er aus sechs großen Abteilungen (Gerätturnen, Gesundheitssport, Gymnastik & Fitness, Schießsport, Freizeitsport und Tanzen). [Anm. 17]
Die erste nationale Turnfahrt nach Bingen 1847
Auf einem Turntag in der Nähe von Frankfurt am 17. Januar 1847 und der im Juli/August 1847 stattgefundenen Nachbesprechung beschlossen die Teilnehmer die Unternehmung einer Großen Nationalen Turnfahrt. Initiiert wurde diese vom Begründer des Turnvereins 1846 Bingen Carl Gräff. Gräff setzte sich für seine Heimatstadt Bingen als Ziel der Turnfahrt ein. Außerdem beschlossen die Teilnehmer zwei zusätzliche Winterwanderungen auf den Feldberg und nach Oppenheim.
Im April und im Mai 1847 erschien die Einladung zu einer zweitägigen nationalen Turnfahrt am 23. Und 24. Mai 1847 nach Bingen in allen deutschen Turnzeitschriften. Dem Aufruf folgten schließlich fast 1.200 Turner aus allen deutschen Ländern. Auf kostenlos zur Verfügung gestellten Sonderschiffen der Düsseldorfer Dampfschifffahrtsgesellschaft wurden die Turner nach Bingen gebracht. Am Pfingstmontag (24. Mai) erreichten die Schiffe die Stadt und gemeinsam machte man sich auf den Weg zum eigens errichteten Turnplatz auf dem Niederwald (gegenüber von Bingen, oberhalb von Rüdesheim gelegen). Damit verband die Turnfahrt verschiedene Elemente, wie Wandern, Gesänge und „markige Reden“. [Anm. 18]
Die Versammlung der Turnvereine auf der Turnfahrt erregte bei der hessischen Regierung großes Misstrauen. Die „Allgemeine Zeitung Mainz“ berichtete von der Verbreitung aufrührerischer Flugblätter durch die Turner mit dem Titel „Brot oder Revolution“. Solche als radikal eingestuften Aussagen feuerten die Revolutionsangst der Regierungen zusätzlich an. Die Reaktion der Politik ließ nicht lange auf sich warten. Mit einem Erlass der hessischen Regierung vom 31. Mai 1847 wurden in Teilen des hessischen Staates die Turnvereine offiziell untersagt, zunächst noch nicht in Rheinhessen. Als Folge der Revolution 1848/49 und der regen Beteiligung der Turner und Turnvereine kam es zu umfangreichen Überwachungen und weiteren Vereinsverboten. Endgültige Konsequenzen zog dieses Verbot nicht überall nach sich. Von den etwa 300 Gemeinden konnten etwa 100 das Verbot überstehen. Die Vereine waren jedoch zunehmend der Willkür der lokalen Behörden ausgeliefert, die Mitgliedszahlen gingen stark zurück. Viele Vereine überstanden dennoch auch diese Phase der Unterdrückung. [Anm. 19]
Verfasser: Sarah Traub
Erstellt am: 28.10.2016
Literatur:
- Festschrift Turnverein 1846 Oppenheim e.V. 150 Jahre. Hrsg. vom Turnverein 1846 Oppenheim e.V. Oppenheim 1996.
- Loos, Joseph: 150 Jahre Geschichte des Turnverein 1846 Bingen. In: Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Turnvereins Bingen. Bingen 1996.
- Köhler, Manfred H.W.: Die hessische Landstadt in Vormärz und Revolution 1848/49 (1816-1852). In: Geschichte der Stadt Worms. Hrsg. im Auftrag der Stadt Worms von Gerold Bönnen. Darmstadt 2015. S.401-478.
- Loos, Josef: 150 Jahre Turnverein Bingen 1846 e.V. In: Heimatjahrbuch 1996 Landkreis Mainz-Bingen. 40. Jahrgang. Hrsg. in Zusammenarbeit mit der „Vereinigung der Heimatfreunde am Mittelrhein e.V.“ und der Kreisverwaltung Mainz-Bingen.
- Loos, Seppel: Der Turnverein Bingen 1846 e.V. und die deutsche Turnbewegung. Vor 140 Jahren: erste nationale Turnfahrt nach Bingen. In: Heimat am Mittelrhein: Monatsblätter für Kultur- und Heimatpflege. Hrsg. von der "Allgemeinen Zeitung" Bingen und Ingelheim unter Mitwirkung der Vereinigung der Heimatfreunde am Mittelrhein. Bd. 32 (1987), H. 3, S. 2.
- http://www.tgworms.de/index.php/unser-verein/vorstand/vorstandsberichte [Zugriff am 24.10.2016].
- http://www.tv-bingen.de/der-verein/vereinschronik/ [Zugriff am 24.10.2016].
Anmerkungen:
- Pfister, S.28. Zurück
- Braun, S.66ff. Zurück
- Köhler, S.413. Zurück
- Köhler, S.414. Zurück
- Köhler, S.414. Zurück
- http://www.tgworms.de/index.php/unser-verein/vorstand/vorstandsberichte [Zugriff am 24.10.2016]. Zurück
- Festschrift Turnverein 1846 Oppenheim e.V. 150 Jahre. Hrsg. vom Turnverein 1846 Oppenheim e.V. Oppenheim 1996.S.23ff. Zurück
- Loos, 1996, S.242. Zurück
- Loos, 1987, S.2. Zurück
- Loos, 1996, S.242. Zurück
- Loos, 1987, S.2. Zurück
- oos, 1996, S.242. Zurück
- Loos, 1987, S.2. Zurück
- 150 Jahre Geschichte des Turnverein 1846 Bingen. S.18. Zurück
- 150 Jahre Geschichte des Turnverein 1846 Bingen. S.19f. Zurück
- 150 Jahre Geschichte des Turnverein 1846 Bingen. S.27. Zurück
- http://www.tv-bingen.de/der-verein/vereinschronik/ [Zugriff am 24.10.2016]. Zurück
- Braun, S.45f. Zurück
- 150 Jahre Geschichte des Turnverein 1846 Bingen. S.14. Zurück