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0.Hans Weszkalnys - Lebenserinnerungen eines Saarbrücker Architekten

0.1.Teil IV.: Aus den Jahren 1893-1945

Vorbemerkung des Bearbeiters: In Teil III der „Lebenserinnerungen" (,,Saarbrücker Hefte" Nr. 38) schildert Hans Weszkalnys die Blüte und das jähe Ende seiner Architektentätigkeit vor dem Ausbruch des I. Weltkrieges. Der folgende IV. Teil der „Lebenserinnerungen" greift zeitlich zwar nochmals bis ins Jahr 1893 zurück, vermittelt aber durch die Beschreibung der Verflechtung von zivilem und militärischem Leben in der typischen Figur des „Reserve-Offiziers", Aufschlüsse über die Entwicklung zum damaligen Kriege.

0.2.Meine militärischen Erlebnisse in Saarbrücken und im 1. Weltkrieg vom 1. Juli 1893 bis 17. November 1918

0.2.1.Als Reserve-Offizier in Saarbrücken vom 01.Juli 1893 bis 1.August 1914

Aus dem Bezirkskommando Hagenau, in dem wir nur 5 Offiziere zählten, war ich nach dem Bezirkskommando Saarbrücken mit der stattlichen Zahl von rund 120 Offizieren gekommen.

Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes in Saarbrücken meldete ich mich beim Bezirkskommando. Nachdem ich meinen Namen in das Meldebuch eingetragen hatte, begrüßte mich der Bezirks-Adjutant, Oberleutnant von During, sehr liebenswürdig und sagte mir, der Kommandeur lege Wert darauf, dass ihm die neu ins Bezirkskommando kommenden jüngeren, unverheirateten Reserve-Offiziere einen persönlichen Besuch machten. Also warf ich mich am nächsten Sonntag wieder in Uniform und stattete dem Herrn Oberstleutnant Bauer den gewünschten Besuch ab. Schon am Sonntag darauf wurde dieser Besuch prompt erwidert.

Der Kommandeur wollte mit seinen jungen Offizieren schon vor der ersten dienstlichen Gelegenheit in persönlichen Kontakt treten. Im Juli und August waren die großen Offizier-Versammlungen wegen der Ferien ausgefallen. Den ersten dienstlichen Befehl erhielt ich zur Meldung, welchem Kriegerverein ich beigetreten wäre. Das bedeutete mit anderen Worten, dass ich einem solchen beizutreten hätte. Darauf erfolgte eine Einladung zur Teilnahme an einer Vorbesprechung der Offiziere im „Alten Münchner Kindl", die an der Kaiserparade des VI. Armeekorps in Trier teilnehmen wollten. Sehr erstaunt war ich, dass außer dem Bezirks­ Kommandeur nur wenige Herren zur festgesetzten Zeit anwesend waren. Allmählich wuchs die Teilnehmerzahl auf ca. 15 an. Groß war die Begeisterung also nicht, die weiße Paradehose anzuziehen, die ich, nebenbei gesagt, mir noch schleunigst bestellen musste. Schließlich meldeten sich nur 6 Herren, die den Kommandeur begleiten wollten. Die Besprechung war zwanglos beim Glase Bier erfolgt, und nach Schluss des offiziellen Teiles verabschiedete sich einer nach dem anderen vom Kommandeur und verschwand.

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Mir steckte meine ostpreußische militärische Erziehung noch in den Knochen, nach der niemand vor dem Kommandeur aufbrechen durfte, und so war ich mit noch einem gleichaltrigen Herrn der Rest der Versammelten, die beim Kommandeur ausharrten und auf diese Weise mit dem gemütlichen badischen Oberstleutnant gute Bekanntschaft schlossen.

Als der Kommandeur sich dann empfahl, blieben wir allein zurück, hatten uns bald als gleichgestimmte Seelen gefunden und blieben den Abend über zusammen. Dieser Kamerad von den 99ern war ein Beamter der Halbergerhütte, der in späteren Jahren Generaldirektor der Hütte wurde, und mit dem mich nach dieser ersten Bekanntschaft enge Freundschaft verband.

Am frühen Morgen des Tages der Kaiserparade fanden wir 6 Mann uns auf dem Saarbrücker Bahnhof ein, um in Begleitung des Kommandeurs die Fahrt nach Trier anzutreten. Hier begaben wir uns zunächst in ein Hotel, um unseren Paradeschmuck anzulegen, und dann begann ein ziemlich langer Weg zum Paradeplatz. Nachdem wir hier unser Plätzchen gefunden hatten, gab es zunächst das gewohnte sehr lange Warten, bis die Sache losging. Wir Reserve-Offiziere aus der ganzen Umgegend hatten einen sehr schönen Platz, gerade der Stelle gegenüber, an der der Kaiser die Parade abnehmen sollte und konnten die ganzen Vorgänge daher prächtig verfolgen.

Es war im Sommer 1893, als ich den Kaiser und die Kaiserin zum ersten Male zu Gesicht bekam, und meine Erwartung war natürlich aufs Höchste gespannt. - Endlich ertönte der Präsentiermarsch, eine ruckartige Bewegung ging durch die zum Parademarsch in Kompaniefront aufgestellten Regimenter, und schon wurde _S. M., mit seinem Gefolge in leichtem Gang daherkommend, neben ihm die stattliche Gestalt der Kaiserin auf einem hohen Rappen, und auf deren anderer Seite, einem kleinen Husarenschimmel, die noch kleinere Gestalt des italienischen Kronprinzen, sichtbar.

Es war ein glänzendes militärisches Schauspiel, das ich in seiner Art hier zum ersten Male erlebte, und in gehobenster Stimmung kehrten wir zu unserem Hotel zurück. Hier blieben wir mit unserem Kommandeur zum Mittagessen und alsdann bei einigen guten Flaschen bis zum Abgang unseres Zuges zusammen. Bald darauf erhielt ich vom Bezirkskommando die Anfrage, ob ich dem Offizier-Schieß-Verein beitreten wollte. Ich sagte zu, da ich früher immer gerne und mit gutem Erfolg geschossen hatte. Nun hieß es, jeden Sonnabendnachmittag die Uniform anzuziehen und nach den ziemlich entfernten Schießständen des J. R. 70 hinauszumarschieren, wo um 17.00 Uhr das Schießen begann. Nach 1 1/2 Stunden ging es dann wieder heimwärts, das heißt in irgendein als Treffpunkt vorher verabredetes Lokal, wo unser Oberstleutnant dann glücklich war, eine möglichst große Anzahl seiner Offiziere begrüßen zu können. Da er ein trunkfester Herr war, ging die Tafelrunde selten vor Mitternacht auseinander. Einige Male wurden wir nach dem Kasino der Burbacher Hütte eingeladen, wo es dann zum Abendessen ein vorzügliches „Pichelsteiner" gab.

Zahlreiche Ingenieure der Hütte waren Reserve-Offiziere und da die Verbindung von Burbach über die Metzer Eisenbahnbrücke zu den Schießständen sehr bequem war, nahmen viele am Offizier-Schießen teil. Bei dieser Gelegenheit lernte ich den Büro-Direktor der Hütte, einen alten Landwehr-Hauptmann Raabe kennen, mit dem mich später, obgleich er viel älter als ich war, enge Freundschaft verband. Bei unserem Schießen erhielten wir oft Besuch von aktiven Offizieren des I. R. 70, so daß ich mit der Zeit mit dem ganzen jüngeren Offiziers-Korps dieses Regimentes bekannt wurde. Ende September fand die erste große Offiziers-Versammlung in den Gesellschaftsräumen des Civil-Casinos statt.

Das war ein buntes Bild, das die vielen Uniformen der verschiedensten Truppenteile boten, es waren wohl fast· alle hier vertreten. Nach einer allgemeinen Begrüßung durch den Kommandeur fand zunächst eine Offizierswahl statt. Dann wandte er sich uns jüngeren, neu in den Bezirk gekommenen Offizieren zu, die besonders Aufstellung genommen hatten, um dem Offiziers-Korps vorgestellt zu werden, und hielt an uns eine längere Ansprache des Sinnes, dass wir immer und überall daran denken müssten, dass wir Offiziere wären, und dass wir unseren Wandel und Umgang stets danach einrichten müssten, und dass wir uns in jeder Lebenslage in erster Linie als Offiziere fühlen müssten.

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Damit war der offizielle Teil der Versammlung erledigt, wir durften ab­ schnallen und ablegen, und dann ging es zum Abendessen, an dem fast alle Anwesenden teilnahmen. Eine Militärkapelle spielte. Für die Stabsoffiziere und Hauptleute waren die Plätze belegt, die übrigen konnten nach Belieben Platz nehmen. Es hatten sich da schon vorher Gruppen von Bekannten gebildet, die Plätze zusammen belegten, und ich hätte einsam und verlassen dagestanden, wenn wir nicht auch schon eine solche Gruppe gebildet hätten. Außer Naumann und mir gehörten dazu Max Wagner, Artillerist und Glashüttenmann, ein Pionier Lonsdorfer, ein Eisenbahner Zimmermann, ein Gardeschütze Decker und ein Artillerist Lehnert, letztere beide Ingenieure der Burbacher Hütte. Wir hatten uns beim Offiziers­ schießen kennengelernt und hielten jahrelang bei allen militärischen Gelegenheiten und auch außer Dienst treu zusammen, bis uns das Leben auseinanderriss. – Max Wagner erschoss sich als Hauptmann im Weltkrieg, weil er seine Batterie auf unsere eigenen Leute aus Irrtum hatte feuern lassen. Lonsdorfer fiel als Bergrat in holländischen Diensten den Speeren der Eingeborenen Borneos zum Opfer, und die übrigen verließen einer nach dem anderen Saarbrücken. Ich blieb in der Folge mit Naumann allein, es kristallisierte sich wohl der eine oder der andere an uns an, aber eine so nette Kameradschaft wie in meinen ersten Saarbrücker Jahren fand sich nicht mehr zusammen. Wir gehörten ja dann auch allmählich zu den älteren Semestern und dann zu dem großen Kreise der dauernd hier Ansässigen.

Als nach ungefähr drei Jahren Oberstleutnant Bauer einen Nachfolger in Oberst von Carlowitz fand, begann sich die enge Kameradschaft des Offizier-Korps etwas zu lockern, zumal auch der Schießverein ein­ schlief und mit ihm die allwöchentlichen Zusammenkünfte. Aber die monatlichen Offiziers-Versammlungen nahmen auch weiter ihren -nach Erledigung des dienstlichen Teiles - gemütlichen Verlauf.

Auf Veranlassung des Vorstandes des Civil-Casinos bürgerte sich der Brauch ein, dass, wenn es 1.00 Uhr wurde und der Schwarm der Gäste sich verlaufen hatte, der Kommandeur an der Spitze seiner in Reihe zu zweien angetretenen Offiziere hinter der Musik in die unteren Casino-Räume einzog, wo wir immer mit großem Jubel empfangen wurden. Bei einem guten Glase „Münchener" blieben wir dann manchmal noch recht lange zusammen.

Das war die angenehme Seite unserer Zusammenkünfte, bei denen ich mit der Zeit Gelegenheit hatte, mit allen Großindustriellen unseres Offiziers-Korps, es waren auch ziemlich betagte Herren im Majorsrang darunter, bekannt zu werden. Wer von diesen Spitzen und auch den Spitzen der Behörden nicht oder nicht mehr Offizier war, den lernte man an diesen späten Samstag-Abenden im Kasino kennen.

Aber es waren nicht im allgemeinen dienstliche Angelegenheiten, die in den Offiziers-Versammlungen zur Erörterung kamen, es gab auch Ehrenhändel mit ehrengerichtlichem Nachspiel zu erledigen, wie es ja in einem so großen Offiziers-Korps mit so verschiedenen bürgerlichen Berufen und den damit verbundenen Reibungsflächen nicht ausbleiben konnte. Waren es Angelegenheiten zwischen Offizier und Offizier, so waren diese Fälle ja verhältnismäßig einfach und konnten auf normale Weise so oder so erledigt werden. Schwierig aber waren die Fälle, die zwischen Reserve­ Offizieren und Zivilisten und so mal solchen Zivilisten sich ereigneten, die nach den damaligen Anschauungen nicht satisfaktionsfähig waren. Hier musste zur Vermeidung eventueller öffentlicher Skandale besonders vorsichtig vorgegangen werden. Und zweimal konnte ich mich der äußerst unangenehmen Aufgabe nicht entziehen, als Kartellträger fungieren zu müssen.

Es war ziemlich natürlich, dass sich jeder um solch eine Sache herumzudrücken suchte, zumal wenn es sich um einen Kameraden handelte, zu dem man sonst in keinerlei persönlichen Beziehungen stand. Im ersteren Falle handelte es sich um eine Betrunkenengeschichte zwischen einem Pionier-Offizier und einem Obersteiger. Der Kommandeur richtete an mich die persönliche Bitte, den Kartellträger zu spielen, und, da er mich für besonders ruhig und besonnen hielt, zu versuchen, die böse Angelegenheit irgendwie aus der Welt zu schaffen. Ich durfte mir in diesem heiklen Falle einen Zeugen mitnehmen, das war mein Freund Naumann. Wir nahmen uns eines Tages einen Wagen und fuhren zu dem Obersteiger und trafen ihn in seiner Wohnung. Wenn wir nun gedacht hatten, mit einem aufgeregten, groben Patron zu tun zu haben, so sahen wir uns in dieser Annahme zunächst enttäuscht. In größter Ruhe und mit ausgesuchter Höflichkeit wurden wir empfangen und erörterten wir die unangenehme Sache. Als wir uns dann aber ·unseres Auftrages, der Überbringung der Forderung entledigten, da lachte der · gute Mann vergnügt und sagte, er wolle sich in seinem Alter und als alter Soldat doch mit einer Schießerei nicht lächerlich machen, aber von den beleidigenden Äußerungen wollte er auch nichts zurücknehmen, denn er hielte sie für berechtigt. Wir erstatteten andern Tags dem Kommandeur Bericht. Die Sache lief nun ihren Gang. Ehrengerichtliche Verhandlung, die mit Erkennung auf Entlassung mit schlichtem Abschied für den Pionier-Offizier lautete, aber keine kriegsgerichtliche Verhandlung gegen mich als Kartellträger.

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Mehrere Jahre waren seit dieser Affäre verflossen, - es war schon im Jahre 1900, -ereignete sich in unserem Landwehr-Offiziers-Korps wieder ein solch dummer Fall. - Wieder war es ein Pionier, der mit einem älteren, hier sehr bekannten Bauunternehmer, mit dem er vorher ein­ trächtig Skat gespielt hatte, so heftig in Streit geriet, daß es Beleidigungen gab, in deren Verlauf der Pionier, -er war in Zivil -, den Bauunternehmer an der Brust packte und drohte, ihn zum Fenster hinauszuwerfen. Ehe die Mitanwesenden die Kampfhähne trennen konnten, schlug der Bauunternehmer seinen Angreifer ins Gesicht. Der Pionier-Reserve-Offizier meldete diesen Vorfall dem Bezirkskommandeur, der Ehrenrat tagte und wieder sollte geschossen werden. Der wenig bekannte Pionier fand niemand, der seinen Auftrag übernehmen wollte.

Da wandte sich mein älterer Freund, Hauptmann Raabe, der Mitglied des Ehrenrates war, an mich mit der Bitte, in dieser dummen Sache das Weitere zu übernehmen. Ein jüngerer Offizier wurde mir als Zeuge mitgegeben, und nun trat ich den in diesem Falle wirklich bitteren Gang zu dem mir gut bekannten Bauunternehmer an. Ich schämte mich direkt für meinen Auftraggeber, mich meiner Sache zu entledigen. Nach kurzen Erörterungen lehnte der ältere Herr, wie es nicht anders vorauszusehen war, die Gewährung jeder Genugtuung ab. Wieder tagte das Ehrengericht, wieder gab es eine Entlassung mit schlichtem Abschied wegen Verletzung der Offiziersehre.

Aber diesmal gab es noch ein kriegsgerichtliches Nachspiel. Der Pionier wurde zu einer einhalbjährigen Festungshaft verurteilt. Unter Anerkennung meiner Bemühungen zu einer friedlichen Regelung der Sache und unter verschiedenen anderen Lobsprüchen meines Kommandeurs, wurde ich zu einer Festungshaft von einem Tage verurteilt, wobei gleichzeitig ein Gnadengesuch um Umwandlung. in einen Stubenarrest beschlossen wurde. Nach ca. 6 Wochen traf die Bewilligung des Gnadengesuches ein und ich erhielt den Befehl, Tag und Stunde des Hausarrestes nach meinem Belieben zu melden. Ich wählte mir die Zeit von Sonnabend bis Sonntag 1.00 Uhr mittags, und damit war für mich diese mir sehr lästig gewesene Sache erledigt.

Die Jahre vergingen und das kameradschaftliche Leben in unserem Offiziers-Korps wechselte, ganz nach der Einstellung der wechselnden Kommandeure zu ihm. Ich war mittlerweile Hauptmann geworden, hatte nun auch bei unseren Essen nach den Offiziersversammlungen in der Nähe des Kommandeurs einen Kameradenkreis, der sich regelmäßig zusammenfand. -Da gab es im Jahre 1910 eine kleine Sensation. Die vier größten Bezirks-Kommandos im Reich sollten aktive Generäle als Kommandeure erhalten, und unter diesen befand sich auch das unsere.

Nun begann ein frischer Wind bei uns zu wehen. Wir Reserve-Offiziere sollten eine gründliche theoretische Vorbildung erhalten, und es wurden nun, außer den regelmäßigen Offiziers-Versammlungen, monatlich ein- bis zweimal stattfindende Unterrichtsabende eingeführt, an denen militärwissenschaftliche Vorträge von älteren, aktiven Stabsoffizieren gehalten und Kriegsspielaufgaben gestellt wurden. Diese Abende fanden im Kasino 3) des J. R. 70 statt und sie waren sehr interessant, obgleich es natürlich Nörgler gab, die wegen ihrer so often Beanspruchung murrten. Als weitere Neuerung wurde eingeführt, dass Reserve-Offiziere bestimmten Übungen der Garnison-Truppen als Zuschauer, natürlich in Uniform, teilnehmen sollten. Es waren eben schon praktische Vorbereitungen auf den kommenden Krieg, dessen Vorzeichen sich damals schon bemerkbar machten.

Meine Kriegsbeorderung lautete in den letzten drei Vorkriegsjahren auf meine Bestimmung als Kommandant der mobilen Bahnhofskommandantur 3/21 AK. In jedem Frühjahr erhielt ich eine ganze Menge geheimer Dienstvorschriften für die Zeit von 4 Wochen. Durch Studium dieser sollte ich mich auf meine künftige Stellung vorbereiten, was ich denn auch gewissenhaft tat, zumal mich die Sachen lebhaft interessierten. Als im Jahre 1911 ein Krieg in bedrohliche Nähe zu kommen begann, mehrten sich in unserem Offiziers-Korps die Abschiedsgesuche der älteren Herren, die zwar im Frieden gerne Soldat gewesen waren, aber sich nun den unvermeidlichen Strapazen eines eventuellen Feldzuges doch nicht mehr aussetzen wollten.

Aber zu unserer Ehre sei es gesagt, es handelte sich dabei in der Hauptsache um Außenseiter, unser alter Stamm hielt unter der Führung eines Generals als Kommandeur treu bis zum. Ende zusammen, und tat seine Pflicht, als die Mobilmachung dann erfolgte, auf die wir nach der Ermordung des Erzherzogs Ferdinand von Osterreich täglich warteten.

Mitte Juli 1914 hatten wir unsere letzte große Offiziers-Versammlung, die schon ganz unter dem Zeichen des kommenden Krieges und des Abschiedes voneinander stand, nach dem es für viele von uns voraussichtlich kein Wiedersehen mehr gab.

So schloss mein Erleben im Offizierskorps des Landwehr-Bezirks Saarbrücken. Unvergesslich geblieben sind mir die vielen frohen Stunden, die ich in gleichgestimmtem Kameradenkreise verleben durfte. Sie waren nun vorüber - und zwar: auf Nimmerwiederkehr!

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Im 1. Weltkrieg

0.2.1.Als Kommandant der mobilen Bahnhofskommandantur 3/21 A. K.

Es ist nicht meine Absicht, die Vorgeschichte des 1. Weltkrieges zu wiederholen, aber soweit sie unmittelbar in die Saarbrücker Lebensverhältnisse eingriff, möchte ich sie kurz ergänzen.

Im Jahre 1911 erreichte uns die Nachricht der Landung des „Panther" in Agadir, als wir gerade gelegentlich der großen Hygiene-Ausstellung in Dresden waren. Diese Nachricht verursachte im ganzen in- und ausländischen Blätterwalde ein so gewaltiges Rauschen, dass man glauben konnte, wir ständen direkt vor einem Kriege. So weit war es ja nun noch nicht, aber der kommende Weltbrand warf doch bereits seine Schatten bis in diese Zeit hinaus.

In Saarbrücken machte sich das zunächst in einem Rückgang der Konjunktur bemerkbar, der auch sonst in gewissen Abständen immer wiederkehrte, der diesmal aber zu früh eintrat.

Auch auf dem Gebiet der Bautätigkeit machte sich dieser Konjunkturrückgang bemerkbar, aber er wurde dadurch noch besonders verschärft, dass die großen Hypothekenbanken keine Baugelder mehr nach Saarbrücken gaben.

Als ich einmal einen Agenten fragte, was denn nun auf einmal los sei, flüsterte er: ,,Die Großbanken fürchten einen baldigen Kriegsausbruch, ein Krieg könne für uns unglücklich ausgehen, dann käme das Saargebiet zu Frankreich, ja, man müsste für alle Fälle vorsichtig sein." Dieser Standpunkt war zwar recht bedauerlich, aber die Finanzleute hatten immer einen guten Riecher. Jedenfalls, die Verhältnisse zeigten keine Besserung mehr, es blieb schwül und still.

In dieser Zeit trat der Syndikus der Saarbrücker Handelskammer, mein Freund Dr. Alexander Tille, mit dem Antrag an das Kriegsministerium heran, im Saargebiet eine Reihe großer Silobauten aufzuführen, zur Sicherung des Getreidebedarfes der zahlreichen Industrie­ und Bergarbeiterbevölkerung im Falle eines Krieges. Der Antrag wurde abgelehnt, obwohl die großen Saarwerke ihrerseits den Bau solcher Anlagen übernommen hätten. Ein paar Jahre vergingen noch, dann zuckte wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachricht auf: ,,der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, sei zusammen mit seiner Gemahlin ermordet." ,,Das ist der Krieg" hieß es hier ganz allgemein. Äußerlich blieb zunächst noch alles ruhig. Dann wurde eine ganze Anzahl unserer Reserve-Offiziere zu einem sonst ungewöhnlichen Termin zu ihren Truppenteilen einberufen, andere, deren Übungszeit abgelaufen war, wurden nicht mehr entlassen. Das ganze Leben ging aber zunächst noch seinen Gang weiter. Nun kam aber am 24. Juli das Ultimatum Österreichs an Serbien, und von diesem Augenblick an bereitete sich in Saarbrücken jedermann auf den Krieg vor. - Am 25. Juli, einem Samstag, fuhr ich noch einmal nach Idar, wo ich mehrere Bauten zur Ausführung hatte und besprach mit den Bauherren und Unternehmern die für eine ·Stillsegung zu treffenden Maßnahmen. Auf meiner Bahnfahrt hatte ich schon alle Brücken von Sicherheitsposten besetzt angetroffen, ebenso die zahlreichen Tunnels. Als ich am Mittwoch, dem 29., früh auf mein Büro ging, kamen mir zahlreiche Soldaten des J. R. 70 mit Wagen voll Koffern entgegen. Ich fragte sie, was denn los sei. Sie antworteten, sie sollten heute früh zum Abtransport nach dem Truppenübungsplatz Elsenborn verladen werden, aber der Zug wäre nicht gegangen. Am Sonntag hatte ich dieses schon von meinem jungen Freund Klingholz, Regiments-Adjutant J. R. 70, so ungefähr erfahren. Er war gekommen, um sich vor der Fahrt nach Elsenborn von uns zu verabschieden, aber er sagte schon, es sei noch zweifelhaft, ob der Abtransport des Regimentes stattfinden werde. Im Vertrauen teilte er mir mit, wir ständen kurz vor der Mobilmachung, und seine Zeit wäre in nächster Woche so in Anspruch genommen, dass er sich schon heute von meiner Frau verabschieden wolle, wir würden uns ja noch dienstlich sehen.

Nun besprach ich mit meinem Bürovorsteher alles, was für unsere Saarbrücker Bauten zu besprechen nötig war, und begab mich dann zu dem fast fertigen, großen Speicherraum der Firma Sander. Nachdem wir das Geschäftliche erledigt hatten, zog mich Herr Sander in sein Privat­Kontor und sagte zu mir, er wüsste als Proviantlieferant des Heeres, dass der Krieg kurz vor dem Ausbruch stände, man wüsste nicht, wie es bald nach Kriegsausbruch mit dem Warenbezuge wäre, und er riet mir, meine Familie doch vorher noch ordentlich zu verproviantieren. Er wolle gleich aufschreiben, von welchen Waren er mir umgehend je 100 Pfund schicken solle. Es handelte sich um: Reis, Bohnen, Erbsen, Linsen, Zucker, Makkaronis und anderes mehr. Am Nachmittag traf die hochbeladene Rollfuhre bereits ein. Wir waren erstaunt über ihren Umfang, und als ich den Lieferzettel betrachtete, stellte es sich heraus, dass von allem statt der bestellten 100 Pfund 100 Kilo gekommen waren. Nun, desto besser, sagte ich mir, also wurden unsere schönen Bodenkammern mit dem reichen Segen gefüllt.

Und wie gut diese Verwechslung war, - vielleicht war sie von Herrn Sander wohlgemeint, - bis lange ins 3. Kriegsjahr waren die Meinen mit Vorräten gut versehen.

In diesen letzten Julitagen des Jahres 1914 war die Unruhe unter der Saarbrücker Bevölkerung groß. Genährt wurde sie durch sich überstürzende Extrablätter der verschiedenen Tageszeitungen, namentlich an der sogenannten „Hofer'schen Ecke", der Druckerei der „Saarbrücker Zeitung" staute sich tagsüber die Menge. Die Extrablätter brachten neben richtigen auch in sensationeller Form aufgebauschte falsche Meldungen.

Diesem Treiben machte der kommandierende General des 21. Armeekorps, Fritz von Below, persönlich ein Ende. Als er von seiner Wohnung in der Winterbergstraße kommend an der Litfaß-Säule an der Feldmannstraße wieder ein derartiges Extrablatt der „Saarbrücker Volkszeitung" las, riss er es ab und schrieb auf seiner Rückseite auf dem Rücken eines herangewinkten Soldaten einen Befehl an die Presse, dass fernerhin der Text aller Extrablätter der Zensur des Generalkommandos unterworfen sei. Damit hatte dieser Rummel ein plötzliches Ende gefunden.

Inzwischen befanden sich alle Saarbrücker Truppen in höchster Alarmbereitschaft. Am Nachmittag des 31. Juli wurde das Eintreten des Kriegszustandes erklärt, und am Morgen des 1. August rückten unsere 7. Dragoner zum Grenzschutz nach der französischen Grenze ab.

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0.2.2.Die Mobilmachung in Saarbrücken

Wir waren am Nachmittag des 1. August nach dem „Petersbergerhof" hinaufgegangen, wo ich noch meine letzten Anweisungen zu erteilen hatte und gingen über St. Arnual nach Hause. Unterwegs schallten uns Rufe entgegen: ,,Mobil, mobil," Ich ging in die Postnebenstelle Blücherstraße hinein und fand dort bereits die Depesche von dem um 6.00 Uhr nachmittags bekanntgegebenen Mobilmachungsbefehl vor. Als erster Mobilmachungstag war der 2. August befohlen. Nun waren also die Würfel gefallen, gefallen über den Krieg, der alsdann als der 1. Weltkrieg, in die Geschichte eingehen sollte.

Anfänglich herrschte auf den Straßen eine ernste Stille, dann brach sich aber stellenweise die Begeisterung Luft. In der Eisenbahnstraße sprach Pfarrer Ebeling vom Balkon der „Saarbrücker Zeitung" herab zur Volksmenge, überall erklang es: ,,Deutschland, Deutschland über alles", durch die Hauptstraßen wogte es auf und ab.

Am Sonntag, dem 2. August, waren alle Geschäfte geöffnet. Ich benutzte diese Gelegenheit, um in Begleitung meiner Jungen Uli und Hako noch einige notwendige Einkäufe wie Feldmütze, Gamaschen und dergleichen zu besorgen. Am Nachmittag packte ich meine große Manöverkiste und meinen Offizierskoffer, und dann hatten wir noch einige Stunden für uns. Am Abend saßen wir vor dem Schlafengehen bei warmem Sommerwetter auf dem Balkon vor unserem Schlafzimmer, es war die letzte Nacht, die ich in unserem schönen Heim vor dem Kriege zubringen sollte und sahen, in ernste Gedanken versunken, auf das Lichtermeer der Stadt. das sich zu unseren Füßen ausbreitete. Da, -was war das ­ heftiges Maschinengewehr-Geknatter und dazwischen ein paar Kanonenschüsse, es klang, wie vom kleinen Exerzierplatz her gekommen. Plötzlich gingen am Bahnhof, den wir gerade vor uns sahen, alle Lichter aus. Sollten die Franzosen etwa schon unseren Bahnhof beschießen? fragten wir uns. Es war ungefähr 23.00 Uhr. Um 23.30 Uhr wiederholte sich noch einmal dasselbe.

Jetzt wurde es auch in dem dicht neben uns gelegenen Generalkommando lebendig. Aus den Äußerungen einiger auf die Straße hinausgetretener Offiziere entnahmen wir, es hätte sich um einen Angriff eines französischen Luftschiffes oder von Fliegern auf unseren Bahnhof gehandelt.

Das war ja für die damalige Zeit etwas unheimlich, doch wir begaben uns zur Ruhe, denn am anderen Morgen hieß es für mich, um 5.30 Uhr aufzustehen. Fortwährend hörte ich nun das Rattern der nach Westen in kurzen Abständen rollenden Militärzüge, die gellenden Pfiffe der Lokomotiven.

Der Morgen kam, wir frühstückten noch einmal alle zusammen, die Jungen hatten ihren letzten Schultag vor den Ferien, in unserem netten Frühstückszimmerschen. Dann musste ich nach der 70er Kaserne aufbrechen, wo ich mich am 2. Mobilmachungstage auf dem Regiments-Geschäftszimmer zu melden hatte. Dort begrüßte mich Freund Klingholz und verwies mich zum II. Bataillon, das die Mobilisierung meines Kommandos zu besorgen hatte.

Der Stamm meiner Leute, 2 Unteroffiziere und 2 Mann standen schon bereit, dann ging es mit ihnen zur Bataillonskammer, auf der auch eine feldgraue Uniform bereitliegen sollte, was aber nicht der Fall war. Mit Mühe und Not fand ich einen für meine Größe passenden Rock, beim besten Willen aber keine passende Hose. Die aktiven Offiziere hatten schon seit etwa 2 Jahren feldgraue Uniformen, die Reserveoffiziere, die nicht gerade in dieser Zeit geübt hatten, sollten von der Kammer ausgerüstet werden. Nach meiner Rückkehr zum Bataillonsbüro meldete sich bei mir der mir zugeteilte Adjutant, ein schon älterer Artillerieleutnant, seines Zeichens Oberförster von Bullay an der Mosel.

Jetzt wurde uns eine große Kiste mit Dienstvorschriften und Kartenmaterial ausgehändigt, die wir den beiden Unteroffizieren anvertrauen. Auf dem Zahlmeistergeschäftszimmer wurden mir dann noch 6 Stangen Goldes zum Ankauf eines Pferdes für mich und als Gehalts- und Löhnungsvorschuß ausgehändigt. Der Adjutant des III. Bataillons, Leutnant von der Floo, händigte mir alsdann noch einen Befehl aus, nach dem ich mich um 1.00 Uhr beim Generalkommando zur Entgegennahme meiner Einsetzungs- und Abreise-Order zu melden hatte. Ich hatte ja noch keine Ahnung, was aus mir werden sollte, da mir meine Mobilmachungsordner darüber keinerlei Aufschluss gab. Auf dem Kasernenhof traf ich einige mir bekannte Offiziere, dann kam Leutnant von der Floo, er sollte noch heute von seinem Vater getraut werden und 10 Tage später war er bereits gefallen, auf uns zu und fragte: ,,Haben die Herren denn schon ihre Säbel schärfen lassen?" Das hatten wir nicht, aber die Büchsenmacherei hatte auch dieses bald erledigt. Wir fragten nach Browning-Pistolen. Es waren keine für uns vorhanden.

Also nun von der Kaserne herunter zur Stadt. Es gelang mir, ein leeres Auto zu erwischen, ohne das ich sonst kaum fertig geworden wäre. Eine Browning-Pistole - die letzte noch vorhandene - bekam ich bei einem Waffenhändler, aber keine Munition. Ich würde sie wohl in der Waffenhandlung Kohlen erhalten. Im Auto war ich schnell dort, Munition war aber nur gegen Waffenschein erhältlich. ,.Auch für Offiziere?" - ,.Auch für Offiziere." Eben wäre ein entsprechender strenger Befehl vom Generalkommando gekommen. Nun zur Polizeidirektion, wo ich schnell den Waffenschein erhielt und meine Munition in Empfang nehmen konnte. Ich entließ mein Auto und fuhr mit der Straßenbahn zum Generalkommando. Unterwegs in der Eisenbahnstraße Verkehrsstockung. Ich sah zum Fenster heraus. Da fuhr das Auto des Kronprinzen, von der Menge umjubelt, gerade neben meiner Straßenbahn.

Im Generalkommando kam mir der frühere Präsident unserer Bergwerksdirektion, Geheimer Bergrat Ewald Hilger, in seiner Uniform als Rittmeister der gelben Saarburger Ulanen entgegen. Nach unserer Begrüßung sagte er mir, er wäre zum Kommandant des Stabsquartiers des Generalkommandos bestimmt. Auf dem Vorplatz warteten schon die anderen 4 Bahnhofskommandanten unseres Armeekorps, und bald erhielten wir unsere versiegelten Befehle. Ich erhielt die mobile Bahnhofskommandantur Insmingen und hatte mit meinem Personal um 6.30 Uhr abends nach Saargemünd abzufahren.

Ich sagte meinem Adjutanten und dem zum Befehlsempfang anwesenden Unteroffizier Bescheid. Ich konnte nun - es war 3.00 Uhr geworden - gerade noch zum Mittagessen zurechtkommen. Nun noch die letzten Stunden zu Hause, dann galt es Abschied zu nehmen, vielleicht für eine lange Zeit. Auf dem Bahnhof fand ich meinen Adjutanten und meine Leute mit den Bücherkisten schon vor, aber unser Zug ging erst mit einer Stunde Verspätung ab. In Saargemünd angekommen, war unser Anschlusszug bereits abgefahren.

Mit zwei anderen Bahnhofskommandanten saßen wir nun um 1.00 Uhr nachts da und konnten nicht weiter. Doch wozu waren wir denn Bahnhofskommandanten. Unser gemeinsames Vorstellen beim Stationsvorsteher, daß wir am nächsten Morgen unseren Dienst auf unseren Bahnhöfen aufnehmen müssten, hatten Erfolg. Bald stand eine Lokomotive mit 3 Personenwagen zu unserer Verfügung, und dann brausten wir mit unserem kleinen Extrazug in die Nacht hinaus.

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0.2.3.Die Aufgaben eines Kommandanten einer mobilen Bahnhofskommandantur

Es erscheint mir nun notwendig, einige Worte darüber zu sagen, was eine mobile Bahnhofskommandantur eigentlich ist und welche Aufgaben ihrem Kommandanten gestellt wurden. Ich erwähnte bereits früher, daß mir in den letzten 3 Jahren die Dienstvorschriften für Bahnhofskommandanten auf je vier Wochen zum Studium übergeben wurden. Natürlich kann ich nur das wesentlichste aus ihnen hier erwähnen. Man unterschied zunächst mobile und immobile Bahnhofskommandanturen.

Die ersteren waren beweglich, d. h. sie folgten je nach Bedarf dem Vormarsch unserer Truppen, die letzteren blieben an den Heimatorten, an denen sie eingesetzt worden waren. Als Kommandanten der mobilen Bahnhofskommandanturen waren Stabsoffiziere und ältere Hauptleute vorgesehen, die Stabsoffiziersgehalt bezogen. Ihren Stamm bildeten der Kommandant, der Adjutant, 2 Unteroffiziere und 2 Mann. Dazu unterstanden dem Bahnhofskommandanten die Bahnhofswache, eine Anzahl Feldgendarmen und, falls der Bahnhof in Feindesland gefährdet sein sollte, die zu einer eventuellen Verteidigung erforderlichen Truppenteile.

Hierzu ist nun festzustellen, dass die Dienstvorschriften wahrscheinlich noch aufgrund der Erfahrungen des Krieges 1870/71 aufgestellt waren. Im Westen kamen wir so bald schon zum Stellungskriege, daß ich für eine Verteidigung des Bahnhofs nicht mehr zu sorgen brauchte. Auch als Beförderungsmittel brauchte ich kein Pferd mehr, dafür dienten mir aber ausgiebig Lokomotiven. Die nächste Aufgabe bei Übernahme eines Bahnhofs war die Sorge für die Untersuchung des Trinkwassers und der übrigen sanitären Einrichtungen für durchpassierende Truppenteile sowie die Einrichtung einer Krankenstation usw. Dann waren die Zufahrtsstraßen auf ihre Geeignetheit für den Truppentransport zum und vom Bahnhof einer Prüfung zu unterziehen, wenn Laderampen fehlten, sofort ihre Anlage anzufordern und zu überwachen, kurz eine ganze Anzahl von Aufgaben, die mir besonders gut lagen, den anderen Bahnhofskommandanten aber Schwierigkeiten machten, da auch öfter die Anfertigung von Zeichnungen notwendig wurde. Zu den täglichen Aufgaben des Bahnhofskommandanten gehörte dann das Überwachen der Verladung und Entladung von Truppenteilen bei Tag und bei Nacht, ferner die Entgegennahme von Meldungen der transportführenden Offiziere und die Aushändigung der Marschbefehle für den Fußmarsch zur nahen Front.

Zu diesem Zwecke mussten die Marschwege auf der Karte den oft von weit her eingetroffenen Offizieren erörtert werden, nachts auch gegebenenfalls ortskundige Führer mitgegeben werden. Ferner musste man einzeln ankommenden Offizieren und Mannschaften die Standorte ihrer Truppenteile angeben, Fahrkarten ausstellen lassen, für Verpflegung sorgen, kurz jedem, der sie brauchte, die erforderliche Hilfe angedeihen lassen.

Ferner unterstand dem Bahnhofskommandanten der gesamte Polizeidienst, zu welchem Zwecke ihm je nach Bedarf eine größere oder kleinere Anzahl von Feldgendarmen zur Verfügung standen. Auch der Gerichtsdienst in Bezug auf Aufnahme von Protokollen und Verhören gehörte hierzu. Bestand am Orte der Bahnhofskommandantur keine Ortskommandantur, so waren auch die vielfachen Geschäfte der letzteren zu übernehmen.

In den eigentlichen Bahnverkehr hatte der Bahnhofskommandant nicht einzugreifen; dieser unterstand dem Stationsvorsteher oder, wenn er von einer Eisenbahn-Betriebskompanie ausgeübt wurde, dem Bahnhofsoffizier. Wohl kam es aber darauf an, mit dem Stationsvorsteher auf einem möglichst angenehmen Verkehrsfuß zu stehen. Das erforderte viel Takt und Zurückhaltung, und es ist mir in allen Fällen gut gelungen, während viele Bahnhofskommandanten, die früher aktive Offiziere gewesen waren, mit ihren Stationsvorstehern in ewiger Fehde lebten, weil sie zu sehr das Vorgesetztenverhältnis herauskehrten und vergaßen, daß für den gesamten technischen Eisenbahnverkehr der Stationsvorsteher die persönliche Verantwortung hatte.

Es gab aber außerordentlich viele Fälle, in denen eine Zusammenarbeit des Bahnhofskommandanten mit dem Stationsvorsteher unbedingt erforderlich wurde, z. B. bei der Ankunft von Verwundeten-Tansporten, Munitionszügen, Urlauberzügen, Militärtransporte bei Fliegergefahr, Proviantzügen usw. Mir gelang es während meiner langen Dienstzeit noch jedesmal, die Züge bei Fliegergefahr auf die freie Strecke zu bringen, die Munitions- oder Benzinzüge so abzustellen, dass kein Unheil passieren konnte, die Proviantzüge, dass sie vor Beraubung geschützt werden konnten; kurz, ich bin bei allen diesen manchmal wirklich schwer zu lösenden Aufgaben, bei denen man unbedingt auf den guten Willen des Stationsvorstehers angewiesen war, gut mit diesem zurechtgekommen.

Alles in allem war der Posten des Kommandanten einer mobilen Bahnhofskommandantur einer der interessantesten, den man sich in einem Kriege denken und wünschen konnte, zumal die Arbeitsbedingungen mit jedem neuen Bahnhof , in den man eingesetzt wurde, wechselten .

Im folgenden will ich nun meine Erlebnisse, die ich auf meinen verschiedenen größeren oder kleineren Bahnhöfen während des ganzen Kriegsverlaufes hatte, schildern.

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0.3.Saarländische Charakterköpfe

Aus einem Gliederungsentwurf der unvollendet gebliebenen „Lebenserinnerungen " ist die Absicht des Verfassers erkennbar, die bedeutendsten Persönlichkeiten des Landes an der Saar zu porträtieren, die ihm in den Jahren 1893 bis 1914 hier begegneten. Bürgermeister Feldmann, der Freiherr von Stumm-Halberg, der Geheime Commerzienrat Carl Röchling, Bürodirektor der Burbacher Hütte Mathias Raabe und der Handelskammer Syndikus Dr. Alexander Tille sind in den früheren Teilen der „Lebenserinnerungen" wenigstens im Zusammenhang mit historischen Anlässen bereits vorgestellt und in ihren wesentlichen Zügen erkennbar geworden.
Beabsichtigt waren noch Ausführungen über den Geheimen Kommerzienrat Rudolf Böcking, Richard und Louis von Vopelius neben anderen Vertretern der Glasindustrie, die beiden Teilhaber der Firma Erhard und Sehmer, die Kommerzienräte Emil und Franz Haldy, den Fabrikanten Bernhard Seibert, die Gebrüder Lüttgens und den Geheimen Sanitätsrat Dr. Hoederath.
Lediglich die Person des Apothekers Consul Steffen ist noch im Einzelbild festgehalten und steht hier auf als ein Denkmal aus der „guten, alten Kaiserzeit":

Spanischer Vizekonsul Steffen

Mit diesem Manne will ich die Reihe der saarländischen Charakterköpfe beschließen. Er war weder ein Großindustrieller noch eine führende Persönlichkeit, aber er war ein ausgesprochenes Original. Herr Steffen war seines Zeichens ehrsamer Apothekenbesitzer in Friedrichsthal bei Saarbrücken, und ich lernte ihn gelegentlich eines Prozesses kennen, den er gegen den Bauunternehmer seines Apothekenumbaus bereits in zweiter Instanz führte. Ich war in diesem Prozess zum gerichtlichen Obergutachter ernannt worden, und abweichend von der Regel, dass keine der streitenden Parteien mit einem Gutachten zufrieden war, war Herr Steffen von dem meinen so entzückt, dass er alle früheren Gutachter als Dummköpfe beschimpfte, mich von da ab in sein Herz schloss und mir vieles, was ihm auf dem Herzen lag, anvertraute. Apotheker Steffen hatte sich viel mit chemischen Studien beschäftigt und ein mehr­ bändiges Werk geschrieben, das ihm neben der Anerkennung der Fachleute auch -er war gut katholisch -einen päpstlichen Orden für Kunst und Wissenschaft eintrug. Damit begann Steffens Sammeln von Orden, und er entwickelte auf diesem Gebiet eine geradezu erstaunliche Virtuosität.

Als er davon bereits eine stattliche Anzahl beisammen hatte und sie anlässlich einer Feier zu seiner Konsul-Uniform angelegt hatte, begegnete er einem ihm bekannten Obersten, der sich ebenfalls im Schmuck seiner Orden befand. Letzterer hielt ihn an und fragte: ,,Sagen Sie einmal, Herr Konsul, wie sind Sie denn eigentlich zu all' den schönen Orden gekom­men?" "Ja, das will ich Ihnen sagen, Herr Oberst", antwortete Steffen, „es gibt drei Sorten von Orden, nämlich erstens die erdienten, und die tragen Sie, Herr Oberst, zweitens die erdienerten, von diesen wollen wir nicht sprechen, und drittens die verdienten, und diese Orden trage ich."

Es war zur Zeit des spanisch-amerikanischen Krieges; da packte Apotheker Steffen eine große Kiste voll mit allerlei kriegswichtigen Medikamenten und schickte sie nicht etwa an das Rote Kreuz sondern direkt an den König von Spanien.

Der Erfolg ließ nicht lange auf sieht warten, er traf bald als ein besserer spanischer Orden bei Herrn Steffen ein. Ein schriftlicher Dank schien nicht angebracht, vielmehr machte sich Herr Steffen auf die Reise, um dem König von Spanien seinen Dank persönlich abzustatten. Eine Audienz wurde erbeten und bewilligt, und bei dieser Gelegenheit stattete Herr Steffen nicht nur seinen Dank für den Orden ab, sondern wusste es dem König geschickt beizubringen, daß die zahlreichen Spanier in Saarbrücken unbedingt einer konsularischen Vertretung bedurften.

Kurz gesagt, nach den sofort mit den zuständigen Ministerien an Ort und Stelle gepflogenen Verhandlungen wurde Herr Steffen einige Monate später zum spanischen Vizekonsul ernannt. Darob große Genugtuung bei Herrn Steffen, und um seiner neuen Eigenschaft auch nach außen hin Ausdruck zu verleihen, prangte bald an seiner Haustüre ein Schild: ,,Steffen y Reisdorf" war darauf zu lesen; er hatte seinem Namen noch den seiner Frau hinzugefügt. Das Ehepaar Steffen hatte einen Sohn, den wollte sein Vater Artillerie-Offizier werden lassen. Nachdem es mit der Annahme als Fahnenjunker bei einigen preußischen Regimentern nicht klappen wollte, fuhr Herr Steffen nach Stuttgart zum König von Württemberg, erbat und erhielt eine Audienz, deren Erfolg die alsbaldige Einstellung des jungen Steffen in ein württembergisches Artillerie-Regiment war.

Inzwischen hatte Seine Majestät der Kaiser ein lebhaftes Interesse an der Restauration der Saalburg gewonnen, mit deren Leitung Baurat Jakobi aus dem nahen Homburg vor der Höhe betraut war. Dieser wandte sich an den als guten Chemiker bekannten Apotheker Steffen wegen eines guten Konservierungsmittels für die vielen auf der Saalburg gefundenen römischen Altertümer. Steffen, auf vielen Gebieten beschlagen, stellte das gewünschte Konservierungsmittel her. Erfolg: Persönliche Vorstellung bei Seiner Majestät gelegentlich eines Besuches auf der Saalburg und Dekorierung mit dem Kronenorden. Gelegentlich einer meiner vielen Fahrten nach ldar stieg Steffen zu mir ins Abteil.

Da gab es immer eine interessante Unterhaltung: ,,Was glauben Sie, wohin ich heute fahre", begann er und ich erwiderte: ,,Nun, wohl wieder auf die Saalburg?" ,,Ja, aber ich hole mir heute den Weißen­ Elefanten-Orden." Er fuhr nämlich zum König von Siam, der damals in Bad Homburg zur Kur weilte und dem er in Abwesenheit von Baurat Jakobi die Saalburg zeigen sollte. Am gleichen Abend trafen wir uns auf der Rückfahrt nach Saarbrücken wieder im Zuge. Auf meine Frage, wie es mit dem „Weißen Elefanten" stünde, sagte er mir, er hätte ihn natürlich noch nicht, aber es wäre alles in der Ordnung, er bekäme ihn bestimmt.

Das war dann auch nach kurzer Zeit der Fall. Der König von Siam, jetzt Thailand, hatte sich vorsichtigerweise einen ganzen Kasten „Weißer Elefanten" auf seine Europareise mitgenommen. An die Geschichten der übrigen Orden des Herrn Steffen weiß ich mich nicht mehr zu erinnern.

Der junge Steffen war mittlerweile württembergischer Artillerieoffizier geworden, da traf ich Vater Steffen wieder einmal. Er erzählte mir, dass sein Sohn trotz seiner verhältnismäßig kurzen Dienstzeit schon mit einer Abkommandierung ausgezeichnet sei, und zwar zu einem Train-Bataillon, um diese nützliche Waffe auch kennenzulernen.

Schweigend nahm ich von dieser Mitteilung Notiz, da ich als kundiger Thebaner das sich aus ihr entwickelnde Unheil voraussah. Aber richtig, kaum war ein Jahr vergangen, da berichtete mir Herr Steffen mit Entrüstung, man habe seinen Sohn zum Train versetzt, aber das ließe er sich nicht gefallen, er würde wieder zum König von Württemberg fahren. Gesagt, getan, Herr Steffen fuhr wieder nach Stuttgart und erzählte mir dann, dass seine Bemühungen leider keinen Erfolg gehabt hätten; da wäre er aber wieder zum König gegangen und hätte gesagt: ,,Majestät, dafür habe ich meinen Sohn nicht das Abiturienten-Examen machen und Offizier werden lassen, dass er hier bei Ihrem Train versauern soll, ich nehme ihn raus." Das geschah dann auch und bald war Steffen jun. Leutnant a. D. Als solchen wollte der zielbewusste Mustervater seinen Sohn nun auch nicht weiter herumlaufen lassen. Zunächst brachte er eine Heirat mit einer millionenreichen Industriellentochter zustande, deren Verlobung mit einem Offizier vor einiger Zeit auseinandergegangen war. Als es dem jungen Ehepaar in einigen Jahren nicht gelang, die von Vater Steffen gewünschte Rolle zu spielen, sann er auf Abhilfe.

Der König von Spanien war gerade zum Chef eines Infanterie-Regiments in Magdeburg ernannt worden, und dieses Ereignis wusste Herr Steffen seinen Plänen in geschickter Weise dienstbar zu machen. Er fuhr wieder einmal zum König von Spanien, um ihm als sein Konsul zu der ihm gewordenen hohen Auszeichnung zu gratulieren. Gleichzeitig brachte er zur Sprache, dass es nun doch auch angemessen wäre, wenn der König von Spanien als Chef eines Magdeburger Regimentes in Magdeburg auch einen konsularischen Vertreter hätte. Eine geeignete Persönlichkeit könne er in der Person seines Sohnes vorschlagen.

Es klingt fast unglaublich, aber Herr Steffen hatte wieder Erfolg und nach Erledigung aller Förmlichkeiten konnte Herr Steffen jun. seine Konsulatie in Magdeburg eröffnen. Nun war es selbstverständlich, dass im Hause des spanischen Konsuls die Offiziere des Regiments des Königs von Spanien verkehrten und ihm den von Vater Steffen erwünschten äußeren Glanz verliehen. Doch da wollte es die Laune des Schicksals, dass die Tochter des Regimentskommandeurs in Saarbrücken verheiratet war und über die Vorgeschichte der Ernennung des Herrn Konsuls aus der Schule plauderte. Kurz, auch in Magdeburg war dann seine gesellschaftliche Rolle nicht die, wie sie sich der sorgende Vater wünschte.

Er brachte in Erfahrung, dass im fernen südlichen Tirol eine der päpstlichen Verwaltung gehörige Schlossherrschaft zu erwerben wäre, deren Besitz den päpstlichen Adel mit sich brächte. Diesen Herrensitz erwarb nun Steffen jun., ließ sein spanisches Konsulat in Magdeburg Konsulat sein und siedelte nach ihm über.

Nun hatte Vater Steffen sein Ziel erreicht, seinen Sohn als Grand-Seigneur zu sehen, der dann schließlich nach dem Tode seiner Frau eine italienische Gräfin heiratete. Der mittlerweile alt gewordene Herr Steffen behielt sein spanisches Konsulat bis in die letzten Jahre des Weltkrieges bei. Es brachte ihm dann aber soviel Ärger, daß er es aufgab.

Der traurige Ausgang des Krieges brachte es dann mit sich, dass dieser merkwürdige Mann, dessen höchster Stolz es noch in den letzten Vorkriegsjahren war, bei der Kaiser-Geburtstags-Parade zusammen mit dem italienischen Generalkonsul im Schmucke seiner Uniform und Orden neben dem kommandierenden General die Front abzuschreiten, sich still und bescheiden aus der Öffentlichkeit zurückzog, um seinen Lebensabend unter der Pflege einer Tochter zu verbringen.

Nur in den Vorstandssitzungen des Haus- und Grundbesitzervereins traf ich ihn noch ab und zu. Nie aber berührte er die Sachen, die ihm früher so sehr am Herzen lagen. Als er eines abends nach einer Vorstandssitzung allein noch bei mir ausgehalten hatte und hörte, ich wolle meinen Sohn Hako von der Bahn abholen, begleitete mich der über 80jährige, der Hako von der Weinheimer S.C.-Kneipe gut kannte, noch auf den Bahnhof. Still und von der Welt vergessen, legte sich dieser, durch seine Zielstrebigkeit interessant gewesene Mann, hochbetagt zur Ruhe.

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Auszug aus: Weszkalnys, Stefan: Lebenserinnerungen eines Saarbrücker Architekten. Teil IV: aus den Jahren 1893-1945, in: Sonderdruck aus Saarbrücker Hefte 41 (1975), S. 2-16.

red. Bearb. KT

Erstellt am: 20.12.2016