Marga Faulstich
Chemikerin, geb. 1915, gest. 1998.
Marga Faulstichs beruflicher Erfolg ist im Vergleich zu anderen Frauen ihrer Zeit erstaunlich. Bereits ihre Mutter war über viele Jahre berufstätig gewesen. Faulstich selbst wurde als spezialisierte Glaschemikerin Teil des Managements des Jenaer Glaswerks Schott & Gen. und eine der ersten einflussreichen Forscherinnen in der rheinhessischen Wirtschaft. Ihre Entwicklung eines Leichtgewicht-Brillenglases wurde international gewürdigt. Aufgrund ihrer fachlichen und menschlichen Kompetenz verhalf ihr in dieser „Männerdomäne“ zu großer Anerkennung. Ihre Durchsetzungsstärke und rasche Hilfsbereitschaft brachten ihr bei ihrer Arbeitsstelle die Spitznamen „kleine Gewalt“ und „Kugelblitz“ ein.
Marga Faulstich kam am 16. Juni 1915 in Weimar zur Welt. Im Jahr 1922 zog Faulstichs Familie nach Jena um. Dort besuchte sie das Reformrealgymnasium und schloss 1934 ihre Schulzeit mit der Reifeprüfung ab. Danach entschied sich die junge Frau vor allem aus finanziellen Gründen gegen die Aufnahme eines Studiums. Im Juli 1935 wurde sie auf Entscheidung des jüngst angestellten Dr. Walter Geffcken als dessen Hilfskraft im Jenaer Glaswerk ausgewählt. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in dieser Zeit hatten sich Faulstich zufolge mehr als zehn Personen auf diese Stelle beworben. Geffcken führte mit einigen Bewerbern einen Einstellungstest durch, bei dem sie praktische Probleme lösen mussten und ihre Persönlichkeit auf die Probe gestellt wurde. Faulstich überzeugte Geffcken auf ganzer Linie.
Für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war es, dass Faulstich 1938 die Führerscheinprüfung absolvierte. Ihr Verlobter starb im August 1942 im Krieg. Vermutlich bewog sie dieses Ereignis, berufsbegleitend das Studium der Chemie aufzunehmen, das sie allerdings nach einiger Zeit wieder aufgab.
Als eine von zwei Frauen unter den sogenannten „41 Glasmachern“ wurde sie im Juni 1945 von amerikanischen Soldaten auf Anordnung des westalliierten Oberkommando SHAEF nach Heidenheim verbracht, bevor Thüringen in die Besatzungsmacht der Sowjetunion überging. Ihrer Mutter und Schwester zogen mit ihr. Nach Angaben Faulstichs erwarteten die meisten der Glasmacher, bald wieder nach Jena zurückzukehren. Die früheren Mitarbeiter von Schott lebten in Heidenheim zunächst in Baracken und waren unter provisorischen Bedingungen tätig. Die Zukunft war für sie ungewiss, die Bezahlung schlecht. Für ihre Arbeiten stand Geffken und Faulstich ein Raum bei dem Unternehmen Voith zur Verfügung. Über Heidenheim hinaus war das Glaswerk noch in Zwiesel und Landshut tätig, das zunehmend zur Zentrale avancierte. Faulstich arbeitete mit ihrem Vorgesetzten zunächst auch in Zwiesel, dann in Landshut. Von einer Assistentin entwickelte sie sich zur Mitarbeiterin und erhielt bald Führungsverantwortung.
Ab 1950 verhandelte Erich Schott mit der Stadt Mainz über die Übersiedelung des Jenaer Glaswerks Schott & Gen. in die Stadt am Rhein. Am 2. Juni 1951 erfolgte der erste Spatenstich auf der Industriehalbinsel Ingelheimer Aue, am 10. Mai 1952 wurde das Werk eröffnet und die Produktion in der Optikhütte lief an. Diese Erfolge waren nicht zuletzt infolge eines Darlehens von 15 Mio. DM aus dem Marshall-Plan möglich. Anlässlich des ersten Glasgusses kam Faulstich zum ersten Mal nach Mainz, von dem sie zunächst aufgrund der noch herrschenden Kriegsschäden einen schlechten Eindruck hatte. Anfang 1953 siedelte sie nach Mainz über und baute ein neues Labor auf. Nachdem sie bereits in den vorhergehenden Jahren an der Umsetzung eines neuen Schmelzverfahrens in Platingefäßen mitgearbeitet hatte, leitete sie nun bis 1969 die Tiegelschmelze. In diesem Jahr übernahm sie die Verantwortung für die Entwicklungsabteilung für optisches Glas. Von der Idee bis hin zur Umsetzung entwickelte sie sowohl optische als auch ophthalmische Spezialgläser. Insgesamt war sie an fast 40 Patenten und der Entwicklung von über 300 Glastypen beteiligt.
Historische Dokumente unterstreichen die Besonderheit von Faulstichs Lebenslauf. So lobte Erich Schott 1960, sie leite die Sonderschmelze „mit Erfolg und männlicher Energie“. Offensichtlich erschien es ihm zu diesem Zeitpunkt nicht naheliegend, dass eine „normale“ Frau dies leisten könne. Anlässlich Faulstichs 40. Betriebsjubiläums lobte Schott das Engagement insbesondere für die Schulung junger Kollegen und die soziale Verantwortung des „Menschen Faulstich, der immer ein aktives Ferment der Gemeinschaft gewesen ist“. Faulstichs Geselligkeit spiegelt sich in Freizeitbeschäftigungen wie dem Tennissport und Reisen.
1973 wurde Faulstich für die Entwicklung des Leichtgewicht-Brillenglases Schwerflint 64 mit der IR-100-Medaille der Industrial Research Incorporation in Chicago für die hundert wichtigsten technischen Innovationen des Jahres ausgezeichnet. Besonders war an diesem mit Titan hergestellten Glas sein schmalerer Rand, mit dem es nur noch 60 % des Gewichts eines Bleiglases hatte.
Im September 1979 schied die Abteilungsleiterin Marga Faulstich mit 64 Jahren aus dem Berufsleben aus. Als Beraterin stand sie dem Unternehmen jedoch noch bis Ende Juni 1984 zur Verfügung. Damit war sie den größten Teil ihres Lebens für Schott tätig, dem sie weiterhin verbunden blieb. So gehörte sie in den 1980er Jahren dem Sprecherausschuss der Pensionäre von Schott an und unternahm Ausflüge mit ehemaligen Schottianern. Im September 1991 besuchte sie erstmals nach 1945 wieder ihr altes Labor in Jena. Am 1. Februar 1998 starb Marga Faulstich nach schwerer Krankheit in Mainz.
Im Jahr 1975 kommentierte Faulstich den Beginn ihrer Tätigkeit: „Es hörte sich so glatt und einfach an und doch war es ein auf und ab, ein Kampf um Probleme und Menschen.“ Doch sie habe „Glück gehabt mit vielen Kollegen, die […] meine Stimme in der Männergesellschaft hörten.“ Ein Artikel in der Mitarbeiterzeitung Schott intern brachte es 1995 auf den Punkt: „Dies war keine Quotenfrau, sondern eine wirklich ganz Große. Ihre Geistesblitze brachten Schott Millionen DM an Umsatz.“
Verfasser: Ute Engelen
erstellt am: 13.11.2015
Ich danke Jürgen Steiner und Judith Hanft von der SCHOTT AG sowie Kirsten Henneberg-Quester für ihre Unterstützung bei meinen Recherchen.
Quellen & Literatur:
- Universitätsarchiv Jena, Kartei der Studierenden der Universität Jena 1935-1967 und Studentenakte (alt), Nr. 12095.
- Beichert, Helmut: Auch für die Wirtschaft attraktiv. Mainz und seine Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Chronik in Firmenporträts. In: Ders. (Hg.): Mainz. Porträt einer wiedererstandenen Stadt, 2. Aufl. Mainz 1985, S. 251–304.
- Der Glasmacher 18/1992, 2/1998.
- Faulstich, Marga, Dankrede anläßlich meines 40-jährigen Dienstjubiläums, 24.7.1975.
- Kappler, Dieter; Steiner, Jürgen, Schott 1884-2009. Vom Glaslabor zum Technologiekonzern, Mainz 2009.
- Neues Glas aus Mainz ersetzt künftig die „Bullaugen“-Brillen, in: AZ Mainzer Stadtnachrichten, 25.10.1973.
- Schott, Erich an Marga Faulstich, 24.7.1960 und 18.7.1975.
- Schott intern 8/1973, 3/1977, 7/1984, 7/8 1987, 5/1991, 5-6/1995, 1/1998.
- Steiner, Jürgen, Marga Faulstich (1915-1998), in: Rheinland-Pfälzerinnen. Frauen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in den Anfangsjahren des Landes Rheinland-Pfalz, hg. v. Hedwig Brüchert, Mainz 2001, S. 126-128.
- Tobies, Renate, Marga Faulstich. Eine Pionierin der Industrieforschung, in: Wechselwirkung Oktober 1997, S. 53-57.
- Von Jena nach Mainz. Erich Schott erinnert sich, Sonderdruck der Werkzeitschrift „Schott intern“ zum 100jährigen Bestehen der Schott Glaswerke, September 1984.