Kuhweg/Märchenweg und ehemaliger Märchenhain
Der Märchenhain in Niederheimbach lockte knapp 60 Jahre lang zahlreiche Tourist:innen in den kleinen Ort am Mittelrhein. Seine Geschichte reicht zurück bis in die 1920er Jahre: 1926 begann der Münsteraner Bildhauer Ernst Heilmann (1877–1969) mit der Erschließung des Felshanges hinter seinem Haus in seiner Wahlheimat Niederheimbach am Mittelrhein. So legte er Treppen an und entfernte die Weinreben oberhalb des Hanges, den er im Anschluss planierte und somit Platz schaffte für sein geplantes neues Projekt: der Anlage eines „Märchenhaines“ mit zugehörigem Wirtschaftsgebäude. Heilmann war Ende der 1890er Jahre in Überlingen am Bodensee als Bildhauer tätig gewesen und hatte auch in Frankreich und Italien gearbeitet. Dabei hatte er sich als Erschaffer zahlreicher Kirchenaltäre, -gestühle und -figuren als Meister der Gotik einen Namen gemacht.Im Jahr 1910 war er nach Niederheimbach gezogen und hatte sich dort eine Werkstatt eingerichtet.[Anm. 1]
Jene Idee eines Freiluft-Märchenparks wurde in Niederheimbach selbst zunächst jedoch eher spöttisch betrachtet: Da der Weinbau die wichtigste Einnahmequelle des Ortes darstellte, begegnete man der Entfernung der Hangreben mit einigem Unverständnis. Auch die Finanzierung des Projektes gestaltete sich als schwierig: Mit seinem Bruder Wilhelm gründete Ernst Heilmann schließlich eine Gesellschaft, die eine Hypothek von ganzen 10.000 Goldmark aufnahm – eine Summe, die gänzlich erst im Jahr 1934 getilgt werden konnte.[Anm. 2]
All diesen Widrigkeiten zum Trotz fand am 10. August 1927 die Grundsteinlegung des Wirtschaftsgebäudes im oberen Bereich des Märchenhaines statt. Am 2. Juli 1931 konnte schließlich der gesamte Park eröffnet und am 6. August desselben Jahres ein Brüder-Grimm-Denkmal im Märchenhain enthüllt werden – zu diesem Anlass waren sogar Nachfahren der beiden berühmten Märchensammler zugegen. Fortan etablierte sich der Niederheimbacher Märchenhain als bekannte Fremdenverkehrsattraktion, was sich in zunehmend steigenden Besucherzahlen ausdrückte und den Tourismus zu einem immer wichtigeren Erwerbszweig des mittelrheinischen Ortes werden ließ.[Anm. 3]
Am Muttertag des Jahres 1934, dem 6. Mai, wurde eine weitere Skulptur im Heilmannschen Märchenhain eingeweiht: die weiße Statue einer Mutter mit fünf Kindern. Jenes Werk Heilmanns wurde schnell ganz im Sinne des NS-„Mutterkultes“ durch die Nationalsozialisten vereinnahmt und inszeniert; in vielen Zeitungen in ganz Deutschland wurde die Skulptur durch die nationalsozialistische Propaganda als das „‚erste Mutterdenkmal am Rhein‘“.[Anm. 4] gefeiert. Ob die Statue in nationalsozialistischem Auftrag durch Heilmann gefertigt worden war oder ob dieser sein Werk unabhängig von der NS-Mutterschaftsideologie schuf, kann allerdings nicht zweifelsfrei rekonstruiert werden. Diese deutschlandweite Werbung für den Märchenhain führte jedoch unbestreitbar zu weiter steigenden Besucherzahlen, auch durch die Veranstaltung von Besucherfahrten der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF) nach Niederheimbach – die Tourismusbranche wurde dort dank des Märchenhaines zu einem immer wichtigeren Arbeitgeber, auch befördert durch die propagandistische Vermarktung des Haines im Sinne der NS-Ideologie.[Anm. 5]
Während des Zweiten Weltkrieges erlebte der Märchenhain allerdings einen deutlichen Rückgang der Besucherzahlen. Erst ab 1949 erholten sich diese sukzessive – für das Jahr 1951 zählte der Hain wieder etwa 35.000 Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. 1953 wurde der 500.000. Gast des Märchenhaines gefeiert. Aufgrund des steigenden Andranges ließ Heilmann 1957 einen großen Saal an die in der Mitte des Parkes gelegene und mit großer Terrasse mit Rheinblick ausgestatte Gaststätte anbauen, wodurch dort nun an die 3.000 Personen bewirtet werden konnten. Zudem stattete man die Anlage mit weiteren Märchenfiguren aus. Bereits 1950 war darüber hinaus eine eigene Landungsbrücke am Rhein extra für Besuchende des Parks eingerichtet worden. Insgesamt umfasste der Märchenhain nun sieben, auf der Anlage verteilte Märchenhäuser, eingerichtet mit durch Heilmann zusammengetragenen heimatkundlichen Gegenständen. Im Ort Niederheimbach selbst entstand angelehnt an den Hain im Pfälzer Hof eine „Sagenhalle“. Die neben dem Park gelegene Gaststätte an der Rheinstraße wurde zudem auf den Namen „Nibelungenhort“ getauft. Dies unterstreicht die hohe Bedeutung des Märchenhains für den gesamten Niederheimbacher Fremdenverkehr – im Jahr 1952 bildete die Märchenhain-Gastwirtschaft sogar den Schauplatz des Lokals „Rheinschlösschen“ im Spielfilm „Einmal am Rhein“ des Regisseurs Helmut Weiss.[Anm. 6]
1961 wurde Ernst Heilmann schließlich zum Ehrenbürger der Gemeinde Niederheimbach ernannt. Der Schöpfer des Märchenhaines starb nur einige Jahre später am 22. Dezember 1969 im Alter von 92 Jahren. Weitergeführt wurde der Märchenhain daraufhin von seinem Sohn Gerhard Heilmann, der jedoch – aufgrund der starken Konkurrenz für den Hain durch vermehrt entstehende Freizeit- und Vergnügungsparks – die bereits rückläufigen Besucherzahlen, hohen Instandhaltungskosten und damit wachsenden finanziellen Schwierigkeiten des Märchenhains nicht aufhalten konnte. Zudem scheiterte im Jahr 1976 ein erstes Denkmalschutzersuchen für den Hain. 1977 sollten die groß angelegten Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum des Themenparks mit einem Weinbrunnen, Tanzgruppen sowie einer Weinkönigin eine letzte große Werbemaßnahme darstellen; letztendlich übernahm man sich jedoch mit den zu hohen Kosten für das Jubiläumsfest.[Anm. 7]
Zu Beginn der 1980er Jahre verkaufte Gerhard Heilmann den Märchenhain schließlich – wohl für lediglich 180.000 DM. Der neue Besitzer des Hains überließ diesen in der Folge zahlreichen verschiedenen Pächtern, von denen allerdings keiner mehr an die alten Besucherzahlen anknüpfen konnte. Ein weiteres Denkmalschutzersuchen im Jahr 1989 scheiterte erneut. Der letzte Pächter des Parks verschwand 1993/94 spurlos, sodass das ca. 10.000 Quadratmeter große Märchenhain-Areal anschließend dem Verfall preisgegeben wurde – so wurden auch die Märchenfiguren des Parks zunehmend beschädigt oder gänzlich gestohlen. Die verbliebenen Figuren konnten zwar durch einige Niederheimbacher aus dem Gelände geborgen und somit gerettet werden; Pläne zur Wiederbelebung des Märchenhains scheiterten jedoch – auch, da der Besitzer des Geländes angeblich einen Verkaufspreis von zwei Millionen DM verlangte. Auch der Ende der 1990er Jahre geplante Bau eines Seniorenheims auf dem ehemaligen Märchenhain-Areal wurde schließlich nicht verwirklicht. Bis heute liegt das Gelände des ehemaligen Themenparks daher brach und ist von Pflanzen überwuchert, begehbar lediglich über den Zweiteingang an der nach dem Begründer des Hains benannten Ernst-Heilmann-Straße.[Anm. 8]
Von 1998 bis 2002 begann allerdings die ehrenamtlich arbeitende „Initiatorengruppe Kuhweg“ mit der mühevollen Restaurierung der geretteten Märchenhainfiguren. Ziel war es, den Niederheimbacher Kuhweg zu einer Art „Märchenweg“ umzugestalten, beginnend am ebenfalls restaurierten Heiligenhäuschen im Heimbachtal und endend am Gelände der Burggärtnerei Lenz. Heute säumen den Niederheimbacher Märchenweg die geretteten und restaurierten Heilmannschen Figuren aus dem einstmals so populären Märchenhain und konnten somit zumindest in dieser Form wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.[Anm. 9]
Nachweise
Verfasser: Felix Maskow
Literatur:
- Bröder, Christoph: Es war einmal, in: burgenblogger.de (2018).
- Krienke, Dieter (Bearb.): Kreis Mainz-Bingen. Städte Bingen und Ingelheim, Gemeinde Budenheim, Verbandsgemeinden Gau-Algesheim, Heidesheim, Rhein-Nahe und Sprendlingen-Gensingen. Worms 2007 (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz 18.1), S. 560.
- Scheibe, Heinz: Es war einmal. Die Geschichte vom Märchenhain vom Anfang bis zum Ende, in: Website der Gemeinde Niederheimbach (2003).
Erstellt am: 20.06.2022
Anmerkungen:
- Vgl. Bröder, Christoph: Es war einmal, in: burgenblogger.de (2018). URL: https://web.archive.org/web/20190824030507/https:/www.burgenblogger.de/es-war-einmal/ [05.06.2022]; Scheibe, Heinz: Es war einmal. Die Geschichte vom Märchenhain vom Anfang bis zum Ende, in: Website der Gemeinde Niederheimbach (2003). URL: https://niederheimbach.welterbe-mittelrheintal.de/geschichte/der-maerchenhain/de-geschichte-vom-maerchenhain [05.06.2022]. Zurück
- Vgl. Bröder 2018; Scheibe 2003. Zurück
- Vgl. Bröder 2018; Krienke, Dieter (Bearb.): Kreis Mainz-Bingen. Städte Bingen und Ingelheim, Gemeinde Budenheim, Verbandsgemeinden Gau-Algesheim, Heidesheim, Rhein-Nahe und Sprendlingen-Gensingen. Worms 2007 (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz 18.1), S. 560; Scheibe 2003. Zurück
- Scheibe 2003. Zurück
- Vgl. Bröder 2018; Krienke (Bearb.) 2007, S. 560; Scheibe 2003. Zurück
- Vgl. Bröder 2018; Scheibe 2003. Zurück
- Vgl. ebd. Zurück
- Vgl. ebd. Zurück
- Vgl. ebd. Zurück