Rheingauer Heimatforschung

Mittelheim

             Mittelheim im Dreißigjährigen Krieg

          Eine Untersuchung anhand zeitgenössischer
                    Unterlagen aus dem Ortsarchiv

                          Von Rudolf Rosensprung                      
                                          Teil 3


                                          Finanzielle Lasten

Heute dürfte es wohl kaum mehr möglich sein, die Summe aller von der Landschaft Rheingau zu leistenden Abgaben wie Landrettungssteuern, Schätzungen, Kontri­butionen, Ranzionen „und wie sie alle heißen mögen", zu errechnen. Sie nahmen Ihren Anfang, als im fernen Prag mit dem Fenstersturz der kaiserlichen Vertreter Martinitz und Slawata der große Krieg begann. Sie hörten - lange nach Friedensschluß - erst auf, als der Rheingau mit 26 000 Reichsthalern, die von Kölner Kaufleuten geliehen werden mußten, die ..Friedensgelder" bezahlt hatte. Die Bürger halten 1656, als die Gemeinde Mittelheim mit ihnen Abrechnung hielt, ihre letzten Schulden noch nicht entrichtet.

Gewiß wußten während dieser dreieinhalb Jahrzehnte oft weder Schultheiß noch Ratsherren, woher sie für den nächstfälligen Termin die verlangten Summen hernehmen sollten. Weit über die Hälfte der vorliegenden Hand­schriften befaßt sich mit diesem Problem. Der Kurfürst erinnert Vicedom und Gemeinden an ihre Verpflichtungen, der Vicedom drängt auf Zahlung. Die erste Mahnung des Erzbischofs stammt vom 9. Juni 1618. Am 10. Mai 1622 stellt dieser wiederum mit Befremden fest, daß der Rhein­gau die fällige Rate der Landrettungssteuer noch nicht entrichtet habe, und „befiehlt gnädigst", sofort zu zahlen. Gerade damals aber halte Mittelheim großen Aerger mit seinen Adeligen, die sehr säumige Zahler waren. Diese beriefen sich auf ihre Adelsfreiheit, nach der sie von der Entrichtung der Steuern befreit sein sollten. Schultheiß und Rat hingegen beriefen sich auf kurfürstliche Erlasse, nach denen neuerworbene adelige Güter (um solche han­delte es sich im wesentlichen) „beetbar" seien, also be­steuert werden müßten. Länger als ein Jahrzehnt hatte die Gemeinde ihre Ansprüche nur lässig vertreten; nun aber benötigte der Rat jeden Gulden und bestand nach­drücklich auf Zahlung, doch der Erfolg war gering. Am hartnäckigsten weigerte sich der Junker von und zu Kronberg (in Nr. 63), und erst 1651 fand ein Vergleich mit seinen Erben statt. Obwohl auch einige andere Bürger mit ihren Zahlungen jahrelang im Rückstand blieben oder bleiben mußten, war es dennoch der Gemeinde zu­meist möglich, ihren Verpflichtungen einigermaßen nach­zukommen.

Die schlimmste Zeit für den Rheingau begann 1631 am „Niclassen Abent" mit dem Einmarsch der Schweden. Aber verglichen mit den andren Landschaften kam auch jetzt der Rheingau noch glimpflich davon. Während dem Mainzer Klerus und der Bürgerschaft eine Kontribution von je 80.000 Rth. auferlegt wurde, hatte der Rheingau eine solche von ,,nur" 46.000 Rth. aufzubringen. Da die Mainzer eine solche Summe nicht zur Hand hatten, wurde die Stadt geplündert und verwüstet. „Vor solchem Schicksal blieb der Rheingau bewahrt, ihn rettete das Gold, das auf seinen Bergen gedieh und in seinen Kellern lagerte." (Richter.) Frankfurter Kaufleute streckten den Betrag vor und nahmen dafür 1600 Fuder Wein. Die Rheingauer hielten Zusammen: Da das Halbamt Lorch beinahe alles schuldig bleiben mußte und andre Orte wie Eltville u. a. nur teilweise ihr Quotum an Wein liefern konnten, gaben die fünf Gemeinden des Mittelamtes, nämlich Hallgarten, Oestrich, Mittelheim, Winkel und Johannisberg weit mehr ab, als ihre Pflicht gewesen wäre, nämlich mit 802 Fudern die Hälfte der Kontri­bution. Dies dürfte ein Hinweis darauf sein, welche Orte schon zu Beginn der Schwedenzeit in Mitleidenschaft gezogen waren: Eltville und Lorch an den Eingangs­pforten des Rheingaues und auch die größeren und wichtigsten Orte: Mittelheim aber war der „geringste Ort.“ Natürlich sollte nachträglich ein gerechter Ausgleich geschaffen werden. In einer „vera et brevis relatio" stellt der Gewaltbote Nikolaus Itzstein fest, daß das Mittelamt als das „geringste Amt" mehr bezahlt habe als die ,,übrigen dritt Halbämter", daß bei einer Land­rechnung in Geisenheim in jedem Haus 3 Ohm 15 Viertel Wein oder das entsprechende Bargeld zugeteilt worden wäre, daß alle Flecken ehrlich und redlich lieferten, allein „Eltvill und Walluf seindt ohne Exception in mora ge­blieben", d. h. sie zahlten einfach nicht. Erbost über dieses „ohnrühmliche Vmbtreyben" der beiden Orte be­fiehlt er ihnen in einem Amtsbescheid, zu zahlen oder die Schuld wenigstens anzuerkennen.

Die Schweden hatten ihre Brandschatzung erhalten; nun muteten sie dem Rheingau weitere Zahlungen zu: An­fangs monatlich 3000, dann 2000 und zuletzt bis Ende 1634 1600 Reichsthaler. Diese riesigen Summen aus der Landschaft herauszuholen, bereitete den Verantwortlichen natürlich ungeheuere Schwierigkeiten. „Cito, citissime" (schleunigst) verlangt der Vicedom am 15. Mai 1633, daß jeder Rheingauer unter Glockengeläute in die Rathäuser zu rufen sei, um dort seinen Besitz sowie seine Schulden zu spezifizieren. Schultheißen und Räte müssen die ge­samte Gemarkung und den Hausbesitz in vier Pflegen (Güteklassen) einteilen, damit „eine durchgehende Gleich­heit gehalten, auch desto eher die Schätzung expediert werden möge."

Nun beginnt eine ununterbrochene Folge von Zahlungen, die Lieferungen und Lasten nehmen kein Ende. Eine voll­ständige Aufstellung ist heute wohl kaum mehr möglich. Ein ungefähres, gewiß nicht vollständiges Bild: Allein von 1639 bis 1650 sind in den Mittelheimer Akten etwa dreißig verschiedene Namen für Abgaben genannt. Neben kurfürstlichen Werbegeldern mußten 1642 sogar „Küchen­gelder" abgeliefert werden. Es ist wahrhaft zu verwun­dern, wie es die Gemeinden ermöglichten, all diesen schweren Verpflichtungen nachzukommen. Daß ihnen dies aber doch gelang, dürfte wohl der beste Beweis dafür sein, daß die Wirtschaft des Rheingaues während des Krieges im wesentlichen intakt geblieben sein muß. Bezahlen kann auf die Dauer nur derjenige, welcher entsprechende Ein­nahmen hat. Der Wein war damals des Rheingaues bestes Gold, denn es wuchs immer wieder nach. Das Vorbild von Mainz und Oestrich vor Augen, die nicht pünktlich zahlen konnten und deswegen geplündert, bzw. niedergebrannt wurden, scheint jeden einzelnen zu größten Opfern und Anstrengungen bereit gemacht zu haben. 1647 notiert sich der Schultheiß: „Die Kontri­bution zu treiben, daß kein Exekution erfolgt!" Bürger streckten der Gemeinde Geld vor, sie halfen denen, die sich in Not befanden. Der Bürgersinn der Rheingauer half die schwersten Zeiten überwinden. So streckte der Adelige Schenk von Schmittberg Getreide vor und erhielt sein Geld erst nach sieben Jahren, wobei er nur 6% Zinsen berechnete. Lange nach dem Kriege, 1650 und später, rechnen andere über Schulden aus der Zeit von 1640 und vorher ab. Einer trat für den anderen und die Gemeinschaft ein, und so kamen die meisten glimpf­lich durch.

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                                    Wirtschaftlicher Niedergang?

Da in keiner der Mittelheimer Quellen von Kämpfen die Rede ist, darf man mit einem gewissen Recht wohl an­nehmen, daß eigentliche Kriegshandlungen im Ortsbereich nicht stattgefunden haben. Sollte dies aber tatsächlich der Fall gewesen sein, dann gewiß nur vereinzelt. Der Be­völkerung des Ortes war es daher wohl immer möglich, ihrer Arbeit in den Weinbergen und auf den Aeckern nach­zugehen. Es gibt auch genügend Zeugnisse dafür, daß der Weinbau während des großen Krieges in Mittelheim keineswegs darniederlag. Für die Bezahlung der Kontri­butionen z. B. stand wohl immer Wein zur Verfügung. Dafür sprechen die Ablieferungen und die Weinmärkte der dreißiger Jahre. Natürlich mußten die Märkte ent­fallen, wenn - wie 1639 - der Wein von den „Baierische gesoffen und hinweggeführt“ wurde oder wenn 1640 der Wein „vor Herbst" erfror. Auch die Schröterordnung von 1644 und die alljährliche Wahl von Öhmern und Feld- und Waldschützen beweist, daß die Mittelheimer ihre Weinberge nicht wüst liegen ließen.

Wie sehr die Mittelheimer auch wahrend des Krieges auf ordentliche Pflege ihrer Wingerte Wert legten, geht aus vielen Protokollen des Hengeratsbuches hervor: 13 Beschwerden über nicht gut gepflegte Weinberge werden vom Haingericht verhandelt, Strafen werden ausgespro­chen, weil Hofleute die Weinberge ihrer Herrschaft oder Vormünder diejenigen ihrer Mündel nicht richtig ge­schnitten, übel gepfählt, nicht „gerührt" (= gelockert), nicht „gebessert" (- gedüngt), mit Kohl besetzt oder die „jungen Stock nicht vffgeraumbt" hatten. Wer einen Weinberg ,,vff ein Dritteil" gepachtet hatte, war ver­pflichtet, diesen in acht Jahren zweimal zu düngen. Wiederholt werden Grenzstreitigkeiten geschlichtet oder Winzer angehalten, Bäume, die zu nahe an der Grenze standen, zu entfernen. Als 1637 Johann Debes schon im September lesen will, holt er sich eine Genehmigung ein. Nur von einem einzigen Gut, dem Kronbergerischen (Nr. 63), erfahren wir 1646, daß es „wüst leyhen verplieben" sei. weil sich niemand darum gekümmert habe. Doch die Kronberger wohnten als Ausmärker nicht im Ort (1625 waren sie in Gernsheim) und hatten wohl keinen Hofmann gefunden.

Neben Weinbergen hatte jeder Winzer auch Wiesen und Aecker. Doch über den Getreidebau erfahren wir kaum etwas. Getreide mußte abgeliefert werden, so 1634 nach Bingen. Daß es zu Zeiten an Brot mangelte, erfahren wir 1636: Joachim Bücher muß sich 1634 13 Simmer (etwa 400 Liter oder 6 Zentner) Korn ausleihen „in Erwehrung Hunger und Kummers, so ich sonstens mit Weib und Kind leyden müssen". Außer diesem einen, sicher nicht vereinzelten Fall ist von Hungersnöten oder von Tatsachen, die auf solche schließen ließen, nir­gends die Rede. Auf der anderen Seite aber können wir aus zwei anderen Dokumenten den Schluß ziehen, daß zeitweise auch gut gegessen und getrunken wurde. Wenn, wie oben erwähnt, die Wittib Spuler den Leutnant so bewirtet, daß der durchaus nicht freigebige Schultheiß 2 Reichsthaler für die drei Tage anrechnet, und die Gemeinde am letzten Tag ein (unberechnetes!) Viertel Hammel dazugibt, dann kann in diesem Jahr von einer ausgesprochenen Lebensmittelnot wohl kaum gesprochen werden. Dasselbe gilt 1648 für Eltville. In einem Ver­zeichnis, „was mir ahn franz Einquartierung vffgangen ist", stellt der Bäcker Meutt in Eltville in Rechnung 12 Maß firnen und 2 Ohm alten Wein, sowie für 22 fl Hammel-, Kalb- und Rindfleisch. Weißbrot, Licht, Salz, Würze, Essig, Branntwein, Eier, Butter und Käse.

Sicher wäre es falsch, aus diesen wenigen Angaben auf ein Wohlleben der Rheingauer Bevölkerung im 30 jährigen Krieg schließen zu wollen. Alles aber weist darauf hin, daß damals keineswegs das „gräßliche Elend in unserer Gegend" herrschte, von dem Bertram spricht. Und an Hunger ist wohl sicher keiner gestorben; in den Zeiten der größten Not war immer noch der Rhein mit seinen Fischen und den Fischern da. 

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                                      Bevölkerungsverluste

Wie aber sah es mit den Verlusten an Menschenleben aus? Darüber ist nirgends ein zeitgenössisches Dokument aufzufinden. Vor   allem   ist  außer den vier verstorbenen Einquartierten - kein einziger Sterbefall ver­zeichnet, geschweige denn die Todesursache. Sterbe-, Ge­burt- und Heiratsregister der Pfarrei sind nicht vor­handen, wahrscheinlich wurden in Mittelheim noch keine geführt. Erst 1644 hatte der damalige aus Hingen stammende Pfarrer Wiegand fünf Jahre lang bis 1648 die Taufen registriert. Nach den Eintragungen wurden in diesen Jahren je neun Kinder ortsansässiger Eltern getauft.

Jede Schätzung der Einwohnerzahl muß natürlich mehr oder weniger fehlerhaft sein. Nähme man jedoch eine Geburtenhäufigkeit von 35 pro 1000 an, so käme man gegen Ende des Krieges bei neun Geburten im Jahr auf eine Einwohnerzahl von etwa 230. Zu einer ähnlichen Zahl aber kommt man durch eine zweite Ueberlegung: In den 57 Häusern des Jahres 1659 sind 63 Hausbalte nachzuweisen, tatsächlich aber können es mehr gewesen sein; im Armenhaus z. B. wohnten, wie aus Stiftungen zu schließen ist, gewiß mehrere Familien, die als Steuer­zahler nicht in Frage kamen und daher auch nicht er­wähnt werden. Legt man nun die übliche Schätzung von vier Personen pro Haushält zugrunde, so sind dies ebenfalls etwa 250 Menschen. Man wird also kaum sehr fehlgehen, wenn man die Einwohnerzahl Miltelheims gegen Ende des Krieges mit 230 bis 250 beziffert. Erhöht man nun für die 68 Häuser des Friedens Jahres 1613 den Faktor 4 wegen der geordneten Verhältnisse ein wenig auf 4,5 Personen pro Haus, so kommt man auf eine Volkszahl von rund 300. Der Bevölkerungsverlust durch den Dreißigjährigen Krieg könnte also bei 20% gelegen haben.

Nicht übersehen werden darf jedoch die Abnahme der Alteingesessenen gegenüber den „Neubürgern". Schon vor dem Krieg kann eine starke Fluktuation der Bevölkerung festgestellt werden: In 5 Jahren (von 1608 bis 1613) wechseln 9 Häuser ihre Besitzer. Bei Ueberprüfung der Taufmatrikel von 1644 bis 1648 ergibt sich, daß fast zwei Drittel der Geborenen Neubürgerfamilien und nur ein Drittel den Familien entstammt, die schon 1618 in Mittelheim wohnten.

Ein Vergleich der beiden Güterbeschreibungen zeigt, daß 1659 nur noch 13 Familien aus dem Jahre 1613 im männlichen Stamme Hausbesitzer geblieben sind und daß nur in fünf Fällen nachzuweisen ist, daß der Besitz an die Töchter bzw. Schwiegersöhne übergegangen ist. 23 Namen verschwinden in dieser Zeit vollständig und fast ebensoviele kommen im Laufe der Jahre neu hinzu. Die Familien, die sich hielten, waren ausschließlich Winzerfamilien. Diese 13 Familien konnten auch ihren Besitz zum größten Teil erhalten, ja einige vermehrten ihn sogar. Sonst ist eine gewaltige Verschiebung des Grund­besitzes festzustellen: Während 1613 Thomas Dörstroff mit 15½  Morgen und die Familie Schönborn mit 10 Mor­gen die größten Grundbesitzer waren, sind es 45 Jahre später zwei „Neubürger": Dem Valentin Schmidt ge­hören nun 21 Morgen Weinberge und Ackerland und der Witwe Johann Hammers fast 20 Morgen.

Die kleinen Leute, die außer ihrem Häuschen nichts besaßen, also die Handwerker vor allem sind fast aus­nahmslos verschwunden. Der einzige Schreiner Hertzig überdauerte in seinem Häuschen in der Küntzgasse den Krieg. Dies aber dürfte - wenigstens teilweise - den Schwund der „Altbürger“ erklären: Die ärmeren Schich­ten ohne Grund und Boden ließen sich am leichtesten von den Versprechungen der Werber blenden, verkauf­ten ihr Häuschen und erhofften ihr Glück in einem beute­reichen Feldzug. Der neue Hausherr aber blieb gewöhn­lich auch nicht lange. So ist es zu erklären, daß gerade diese Häuschen am öftesten ihre Besitzer wechseln: Der Ratsschreiber muß 5, 6, 7 und 8 neue Namen ein­tragen und zumeist sind es fremde, von denen einzelne auch bald wieder verschwinden.

Es fällt auf, daß zum Unterschied von der Vorkriegszeit kaum Witwen genannt werden. Die Vermutung liegt nahe, daß manch ein Söldner - etwa infolge einer Verwun­dung - seiner Truppe den Rücken kehrte, in Mittelheim Arbeit und ein Unterkommen suchte und hier einheiratete.

Woher diese Leute kamen, ist nur in einem Falle fest­zustellen: Nach 1640 taucht Martin Schom im Haus Nr. 30 in der Kirchgasse auf und wird dann als „Märten, der Böhm" bezeichnet. Der vor 1630 zugewanderte Henrich Bronnenträger (in Nr. 29) aber wird als der „krumm Ruckicht“ beschimpft, von dem man doch nichts wisse. wo „der verlaufene Dieb und Schelm herkomme“. 

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