Das am Nordwestrand des Rheingaus gelegene Städtchen Lorch hat in deutschen Landen einige Namensvettern, teils gleichklingende, teils ähnlich lautende, wie Lorsch, Lörick, Lörich, Lü-rick u. a. m. Die norddeutschen Lohra und Lohre können hier beiseite bleiben. Für die meisten ist auch schon gleicher oder ähnlicher Ursprung vermutet worden; eine Übereinstimmung über eine gemeinsame Herkunft besteht jedoch nicht. Wenn man aber die verschiedenen Deutungen gegeneinander abwägt, so ergeben sich doch gewisse weiterführende Perspektiven. Ältere Versuche, den Ursprung dieser Namen ausschließlich im Bereich germanischer Sprachstämme zu eruieren, haben sich als wenig überzeugend herausgestellt und daher auch keine allgemeine Anerkennung gefunden. So ist eine Verbindung mit dem Stamm „loh" = „Wald" aus Gründen sprachgeschichtlicher Entwicklungsgesetze abzulehnen. Sie wurde unter Hinweis auf Namen wie Gütersloh, Kleinhesseloh oder Hohenlohe in den dreißiger Jahren wohl mehr aus einem zeitbedingten Modetrend heraus vorgetragen (H. Ammon: Kleines Deutsches Namensbuch. Paderborn 1937 S. 81). In die gleiche Richtung zielte eine Hypothese, mit der der Name des linksrheinischen, heute zu Düsseldorf eingemeindeten Dorfes Lörick gedeutet werden sollte aus „Loh + Rike", was etwa „schmaler, bewaldeter Bergrücken" bedeuten sollte (C. Vossen; Aus der Vergangenheit von Lörick. In: 25 Jahre Bürgerverein Düsseldorf-Lörick e.V. 1979 S. 58). Wieweit diese Deutung wahrscheinlich ist, kann hier offen bleiben; für eine Erklärung des Namens Lorch ist sie gewiß nicht hilfreich.
Eine solche wird vielmehr von Fachleuten eher im kelto-romanischen Sprachbereich gesucht, so auch zuletzt von R. Struppmann in seiner verdienstvollen Neubearbeitung der „Chronik der Stadt Lorch am Rhein" (Eltville 1981, S. 12). Die keltischen Bewohner der Gebiete beiderseits des Rheines hatten während der rund vier Jahrhunderte, in denen die Römer am Rhein herrschten, weitgehend die lateinische Sprache übernommen, diese allerdings auch mit Resten ihres genuinen keltischen Sprachgutes durchgesetzt. So darf grundsätzlich mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Ortsnamen dieses Bereiches auf lateinische oder keltische Sprachwurzeln zurückgehen. Um eine solche Ableitung aber zu erhärten, reicht allerdings rein sprachwissenschaftliche Argumentation nicht aus. Will man für einen Ortsnamen unseres Gebietes die Entstehung aus einer lateinischen Bezeichnung wahrscheinlich machen, so bedarf es zur Stützung dieser Hypothese weiterer Indizien. Da können einmal inschriftliche Belege oder urkundliche Quellen von Bedeutung sein, andrerseits aber auch geschichtliche Fakten und bodenkundliche Erkenntnisse mitsprechen.
Ehemalige Mühle an der Wisper
Tatsächlich liegen so gut wie alle Orte, deren Namen Loren lauten oder so ähnlich klingen, in Gebieten, die einmal zum römischen Reich gehörten: am Nieder- und Mittel-Rhein, in Württemberg und an der Donau. Für die Erklärung dieser Namen kommen zwei grundverschiedene lateinische Wörter in Betracht: „laurus" oder „lorica". Von „laurus" = „Lorbeer" gab es mehrere adjektivische Weiterbildungen, die für Orts- oder auch Personen-Namen verwendet werden konnten, unter ihnen z. B. Laurentius, aus dem sich im Deutschen Lorenz entwickelt hat. Das Wort „lorica" stammt aus der lateinischen Militärsprache; es bedeutete ursprünglich „Panzer, Brustschutz", wurde dann auch als „Brustwehr, Schanze" verstanden und wird bei Caesar und Tacitus für „Umzäunung, Einfriedigung, Zaun" gebraucht. Von „lorica" hat der belgische Sprachforscher J. Vannerus in: Föderation archeol. et histor. de Belgique, 22ieme Session, Liege 1932 den Namen Lorch abgeleitet. Ihm hat sich auch A. Bach in: Deutsche Namenskunde, Bd. II, 2 Heidelberg 1954, S. 78) angeschlossen (vgl. H. Kaufmann: Rheinische Städtenamen. München 1973 S. 199 f.)- Die Ableitung von „lorica" ist nach Kaufmann (a.a.O. S. 200) auch für die Ortsnamen Lorich (nördlich von Trier), Lürken (Kr. Jülich), Lörick (bei Düsseldorf) und Loerik (Prov. Utrecht) gültig. Nun darf man es als sehr wahrscheinlich ansehen, daß die Römer gerade an der Wispermündung einen militärischen Stützpunkt errichtet und unterhalten haben. Er deckte als rechts rechtsrheinischer Brückenkopf den durch die Lorcher Insel erleichterten Rheinübergang, der die Verbindung zwischen den einzelnen römischen Limesposten und ihrer Garnison in Singen sicherte. Diese Theorie wird durch verschiedene archäologische Kleinfunde römischen Ursprungs gestützt, die im entsprechenden Bereich des Lorcher Rheinufers gemacht wurden. Ferner sprechen Baureste im Fundament des Lorcher Kirchturms dafür, daß hier auch nach der Aufgabe des Limes zwischen 360 und 370 n. Chr. Geb. noch unter Kaiser Valentinian ein befestigter Turm eines römischen Wachpostens stand.
Einen epigrafischen Beweis für eine römische (Be)Siedlung in Lorch gibt es freilich nicht, geschweige denn einen Beleg für den lateinischen Namen dieses hypothetischen römischen Stützpunktes. Etwas Entsprechendes fehlt auch für die andere Deutung des Namens Lorch, die sich auf den keltoromanischen Stamm „laur-" stützt.
Aber sie führt uns zu einer Urkunde des Städtchens Lorch bei Schwäbisch Gemünd, aus dem Jahr 1139, in der es heißt: „ . . . locus, qui dicitur Laureacus" = „ . . der Ort, welcher Laureacus heißt"; und es wird angenommen, daß hier ehemals ein römisches Kastei lag. Ganz entsprechend wird auch die bei der Stadt Enns an der Donau in Oberösterreich gelegene Siedlung Lorch gedeutet: sie soll ihren Namen von einer römischen Militärkolonie erhalten haben, die „Laureacum" (oder keltisch: „Lauriakom") hieß, wohinter sich vielleicht ein Familienname „Laurios" verbarg. Diese Erklärung hat früher auch A. Bach (Die Siedlungsnamen des Taunusgebietes in ihrer Bedeutung für die Besiedlungsgeschichte. Bonn 1927) vertreten, und M. Herchenröder ist ihr noch 1965 gefolgt (Der Rheingau, in: Die Kunstdenkmäler des Landes Hessen. DKV S. 237), - ohne freilich durch ein Sternchen deutlich zu machen, daß die Namensform eines keltischen „Lauraceum" nirgends belegt, sondern rein hypothetisch ist.
Für die Entscheidung zwischen den beiden vorgelegten Deutungen – von Jorica" oder von „laur(aceum)" - dürfte jedoch bedeutsam sein, was über das ehemalige Kloster Lorsch im hessischen Ried .ermittelt wurde. Im Klostergebiet haben sich dort Spuren eines alten Landhauses, einer „villa rustica" aus der römischen Kaiserzeit gefunden; zudem sind aber schon aus dem Jahre 764 die Namensformen „Laurisham" und „Laurisca" belegt (K. Böhner, in Führer zu den vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern, Bd. 3: Mannheim. Odenwald. Lorsch. Ladenburg. - Mainz 1973 S. 114). Obwohl aber in diesem Fall die Spuren römischer Besiedlung und die mittel-altrige Beurkundung des Namens nur vier Jahrhunderte auseinander liegen, hat F. Debus (Der Name Lorsch, in: Die Reichsabtei Lorsch. Festschrift zum Gedenken an ihre Stiftung 764 (1964) S. 35 ff.) betont, daß die Annahme einer kontinuierlichen Besiedelung des Ortes keineswegs gerechtfertigt sei, und daß der Ortsname eher auf die Zusammensetzung eines germanischen Personennamens mit der Endung: „-heim" (Lauris-ham) zurückzuführen sei.
Überträgt man alle diese Überlegungen nun auf unser Rheingauer Lorch, so muß eingeräumt werden: die archäologischen Funde dürften kaum ausreichen, um darauf die Annahme einer festen Siedlung in römischer Zeit zu gründen. Aber nur auf eine solche könnte der von Jorica" abgeleitete Name bezogen gewesen sein, der sich dann auch nach dem Abzug der Römer vom Rhein kontinuierlich erhalten und bis ins Mittelalter hinein bewahrt hätte. Der überlieferungslose Abstand zwischen dem ausgehenden vierten Jahrhundert, der Endzeit römischer Präsenz am Rhein, und der ersten urkundlichen Bezeugung der Siedlung Lorch (Lorecha und Loriche) gegen Ende des elften Jahrhunderts ist einfach zu groß, als daß er die Annahme gestattete, der Name eines römischen Stützpunktes oder gar einer antiken Siedlung könne ihn überdauert haben.
So bleibt wohl die Ableitung des Ortsnamens Lorch aus einem Personen- oder Geschlechternamen mit dem Stamm Laur- oder Lor- die wahrscheinlichste Erklärung. Welcher Sprache dieser Stamm zugehörte, wird sich kaum entscheiden lassen. Der Personennamen Laurius ist sowohl im römischen als auch im keltischen Sprachraum etabliert. +„Lauriacum" wäre danach als „dem Laurius gehörig" aufzufassen (vgl. Kaufmann a. a. O. S. 200) oder als „Besitzung des Laurius". So wird auch das Dorf Lörick bei Düsseldorf als Besitz eines römischen Veterans Laurus aus dem Kastei Novaesum ( = Neuß) erklärt (vgl. F. Gramer: Rheinische Ortsnamen aus vorrömischer und römischer Zeit. Düsseldorf 1901 S. 43; dazu Marjahn: Keltische, lateinische, slawische Ortsnamen in der Rheinprovinz. Teil l - IV Aachen 1880 bis 1884: Programme der Realschule [.Ordnung, II S. 14).
Diese umständliche, mit manchen Unsicherheiten belastete und Zweifeln raumgebende Beweisführung kann nicht voll befriedigen. Das darf man aber im Bereich der historischen Namensforschung nur selten erhoffen. Die Vorstellung, Lorch sei zur Römerzeit eine kleine Festung gewesen und habe die Erinnerung daran bis zum heutigen Tag in seinem Namen bewahrt, wird man wohl ohne Bedauern aufgeben. Ob hinter diesem Namen aber noch ein Stückchen eines altrömischen oder keltischen Lorbeers - „mein achtel Lorbeerblatt, wie Reinhard Mey es umschreibt - hervorlugt, mag man mit geringerer Reserve oder etwas größerer Genugtuung akzeptieren.
(Dr. G. Hagenow)