Ludwig VI. hat viel hinter sich
Bericht der Allgemeinen Zeitung vom 03.03.2012
BINGEN
Von Christine Tscherner
DENKMAL Bronzestandbild am Rhein ist ein Teil der Binger Kulturgeschichte
Das Fernglas in der Hand, den Säbel griffbereit. Mit ernstem Blick schaut er aus gut sechs Metern Höhe gen Mainz: Ludwig IV., Großherzog von Hessen und bei Rhein. Warum das Bronzestandbild am Kulturufer steht? Informationen über ein Denkmal mit erstaunlicher Odyssee.
Der 650 Kilo schwere Bronzeguss musste viel erdulden, bis er nach Jahrzehnten wieder auf seinem Sockel thronte. Der frühere Landesvater, der 1837 geborene Großherzog von Hessen und bei Rhein, landete im Fluss, auf Schrotthalden und als übergroßer Gartenzwerg in einem Sponsheimer Garten.
Franzosen und Belgier werfen Statue in den Rhein
Nach dem Ersten Weltkrieg hievten sowohl Franzosen als auch Belgier die von Binger Bürgern gestiftete Statue in den Rhein. Für ein drittes Mal Tauchgang sind einrückende Amerikaner im Frühjahr 1945 verantwortlich.
Stark beschädigt landete der Großherzog Ende der 1940-er Jahre im städtischen Bauhof. Kopflos - das bärtige Haupt fehlte. Es wurde angeblich durch einen Pilzsucher am Scharlachkopf wieder entdeckt.
Die private Sammlerin Mathilde Mickler hatte Erbarmen. Sie kaufte der Stadt den Herzog 1967 für 3 000 Mark ab. Und so stand er im Micklerschen Privatgarten in Sponsheim. Knapp 35 Jahre schmückte Friedrich Wilhelm Ludwig Karl, wie der Großherzog mit voller Länge hieß, den Vorgarten. Heute entstehen auf dem Mickler-Grundstück mehrere Häuser mitten im Stadtteil.
Als die ehemalige Mitbesitzerin der Sektkellerei Scharlachberg starb, hinterließ sie eine Stiftung. Zu ihr zählt auch das Ludwig-Standbild. Und die Sponsheimer machten sich für „ihren Ludwig“ stark. Nicht wenige liebäugelten gar mit dem Standbild als Dorfschmuck. Doch die Ratsmehrheit beschloss den Umzug - zurück an die Rheinpromenade. Der Deal: Die Kosten der Generalüberholung übernimmt die Stadt. Die Mathilde-Mickler-Stiftung stellt das Standbild als Dauerleihgabe zur Verfügung.
Bekennende Denkmal-Befürworter wie der Binger Ehrenbürger Karl Horbach hatten gar eine Bürgerinitiative zur Wiederaufstellung Ludwigs ins Leben gerufen. Unterschriftenlisten für den Großherzog lagen aus. Zur Wiedereinweihung erinnerte Horbach: „Am Ludwig verabredeten sich die Binger zu Rendezvous.“ Am Sockel drapierten sich Familien für Fotografen.
Skeptiker warnten seinerzeit allerdings vor „falsch verstandenem Lokalpatriotismus“. Ein Teil Binger Geschichte ist das Standbild auf jeden Fall. Denn zwischen Hindenburgpark und Alter Stadthalle wurde der überlebensgroße Bronzeguss 1913 zum ersten Mal mit Salutschüssen enthüllt. Der Ex-Landesvater auf exponierter Sockelstelle steht für ein Wiederentdecken. Er erinnert an die Zeit seit 1815, als die Stadt zum Regierungsbezirk Hessen-Darmstadt gehörte.
Ludwig IV. galt als liberal und wohlwollend
Ludwig IV. war 15 Jahre lang dessen Großherzog. Er galt als liberal, wohlwollend und reiselustig: Zur Eröffnung des Suezkanals brach er zu einer ausgedehnten Orientreise auf.
In Feldherrn-Kluft und mit Schleppsäbel verewigten ihn die Binger an ihrer Promenade. Wer heute eine Kulturufer-Führung bucht, hört von der hessischen Vergangenheit in Rheinland-Pfalz.
Vor dem Vergessen bewahren
Allgemeine Zeitung 12.11.2011 - BINGEN
Von Klaus Biesdorf
REICHSPOGROMNACHT Gedenken an der ehemaligen Synagoge in der Rochusstraße
In der Rochusstraße in Bingen wurde, wie alljährlich am 9. November, der „Reichspogromnacht 1938“ gedacht. Der Ausschuss für Ökumene Bingen-Stadt und der Arbeitskreis Jüdisches Bingen hatten zum Gedenken an die ehemalige Synagoge eingeladen.
Unter dem Leitmotiv „Es ist nicht zu Ende “ wurde in den vorgetragenen Texten deutlich zu machen versucht, worin der Sinn eines solchen Gedenkens 73 Jahre nach der Schändung und Zerstörung der Synagoge in Bingen bestehen kann.
Mit den Worten des Propheten Joel erklangen in der Begrüßung mahnende und auffordernde Worte. Der Prophet stößt mit der Mahnung, ein damaliges historisches Geschehen, eine Heuschreckenplage, als Erinnerung zu bewahren, etwas dem Menschen zutiefst Wesentliches an. Zugleich will er aber auch, dass es „weiter-erzählt“ wird, um es so vor dem Vergessen zu bewahren. Dieser Linie folgend spricht ein Gedicht von Charlotte Delbo, Überlebende der Haftzeit in Auschwitz, die Zuhörer als „Wissende“ an, anklagend im Ton und eindringlich in den sprachlichen Bildern.
Als Schüler 10. November 1938 miterlebt
Und was man in Bingen 1938 „wissen“ konnte, bestätigten die Erinnerungen von Karl-Heinz Trautmann, der als Schüler den 10. November 1938 als Gang durch die Rochusstraße beschreibt. Im gemeinsamen Psalm-Gebet des Psalms 10 klang dann neben der Klage auch das Vertrauen in die Hilfe und Rechtsetzungskraft Gottes an.
Verstärkt wurde die Intention des Psalms durch ein jiddisches Lied, vorgetragen von Pfarrer Choquet, in welchem die Shoa auf ergreifende Weise thematisiert ist.
Wie sehr im Sinne des Propheten Joel ganz lebendige Erinnerungen in den jüdischen Familien weiterleben, wurde in den Zeugnissen der Nachkommen der Familie Wolff aus Bingerbrück deutlich, gesprochen anlässlich der Stolpersteinverlegung im August dieses Jahres. In Ausschnitten wurden Sätze aus den Dankesreden Amnon Lahavs, des Enkels von Fritz und Else Wolff, sowie Worte seiner Tochter Yasmin vorgetragen.
Es sind sehr bewegende Aussagen der zweiten und der dritten Generation derer, die den Holocaust überlebt haben. Aus dem Gesagten konnte man spüren, wie sehr diese Nachkommen die eigene Lebensgeschichte als lebendige Erinnerung begreifen. In den Worten von Amnon Lahav: „Was wir heute hier in Bingerbrück erlebt haben, ist kein Strich unter eine Lebensgeschichte, die eigentlich kein Ende hat. Die Stolpersteine markieren einen Platz des Gedenkens in unserer Erinnerung. In gewisser Weise sind die Stolpersteine für die Familie Wolff eine Art Ersatz für Grabsteine, die nie errichtet werden konnten. Eine bemerkenswerte Bemühung, um niemals zu vergessen.“
Mit Gebet und Segensworten
Mit Lied, Gebet sowie auch Segensworten ging das Gedenken zu Ende, das für viele Binger Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie auch für Mitglieder des Vereins Tiftuf, die in der Synagoge eine kleine Heimstätte haben, ein wichtiger Bestandteil ihrer eigenen Erinnerungs-Kultur geworden ist.
Fenster in die Römerzeit
Bericht der Allgemeinen Zeitung vom 29.09.2011 - KEMPTEN
Von Christine Tscherner
VILLA RUSTICA In Kempten stand mit drei Meter hohen Wänden einst ein besonders großes Exemplar
Wohnkomfort im Römerstil, das bot nicht nur der Binger Wald und das ferne Italien. Auch in Kempten gibt es eine „Villa Rustica“ - mitten im Neubaugebiet, geschätzte 1 500 Quadratmeter Wohnfläche. Die Stadt hat das Areal gekauft, Archäologen die Fundstätte gesichtet. Klar ist: Unter der Erde schlummert ein ungehobener Schatz.
,,An der Römervilla“ heißt eine Straße im Neubaugebiet. Warum? Das verrät die Nachfrage bei Archäologen. Der Untergrund birgt wertvolle Geschichte. Und zwar richtig alte.
Türschwellen und Wandputz, hohe Mauern und Reste der obligatorischen Fußboden-Heizung aus der Römerzeit. So freigelegt präsentierte sich die Kempter Villa vor vier Jahren. Archäologen des Landes Rheinland-Pfalz hatten Teile des Haupthauses freigelegt.
Das fast 2000 Jahre alte Landgut im Kempter Neubaugebiet punktete mit perfekter Lage. Im Windschatten des Rochusberges, hochwassersicher über den Sümpfen des Rheintals gelegen und mit schicker Aussicht über damals noch unverbaute Flussauen, so ließ es sich gut leben.
Bei Gartenarbeit auf antike Scherben gestoßen
Für den erfahrenen Landesarchäologen Dr. Gerd Rupprecht war der Kempter Hang kein Geheimtipp. Dass unter einer dicken Erdschicht eine fast 2000-jährige Geschichte verborgen lag, das wussten die ehemaligen Grundstücksbesitzer seit Jahrzehnten. Beim Pflanzen ihrer Obstbäume und beim Umpflügen der Beete stießen die Gemüsebauern immer wieder auf verzierte Scherben. Das Archäologen-Paradies verbarg sich unter Apfelbäumen und Aprikosen, Kartoffeln und Karotten. Die kostbarsten Kempter Bodenschätzen gingen in den 1980-er Jahren nach Mainz zum Landesamt für Denkmalpflege. Punktgrabungen folgten, um die Ausdehnung der Anlage abzuschätzen.
Dr. Gerd Rupprecht als Leiter der Direktion Archäologie erinnert sich an die Überraschung: Reich verzierter Wandverputz, ein römisches Landgut mit stolzen Ausmaßen. 50 Meter lang und 30 Meter breit schätzen seine Experten allein das Haupthaus.
Und mindestens 400 Jahre durchgängige Nutzung: Zwei Ur-Kämme zur Haarpflege der Germanen wurden auf dem Villa-Areal gefunden. Franken-Gräber ermittelte das Grabungsteam außerdem. Römer, Franken und schließlich Germanen - alle Bewohner haben im Kempter Landgut ihre Spuren hinterlassen.
Bis zu drei Meter hoch erhaltenes Mauerwerk ist jedoch die Besonderheit. ,,Diese Höhe macht die Villa in Rheinhessen einmalig“, ordnet der Landesarchäologe ein. Ohne den Löß als Deckschicht wären die uralten Mauern längst zerfallen.
Der Segen für die Forscher heute war zur bewohnten Villa-Zeit vermutlich ein Fluch. „Sintflutartiger Regen könnte die Erdmassen vom Rochusberg hinunter gespült haben“, mutmaßen die Fachleute. Vielleicht führten aber auch Ablagerungen des Windes über die Jahrhunderte hinweg zur mächtigen Schutzschicht.
Gemäuer ist im Erdreich besser konserviert
Sie soll weiter ihren Dienst tun. Denn ausgegraben wurden die Frontmauern des Haupthauses nur für ein paar Wochen. Das Gelände ist mittlerweile im städtischen Besitz. ,,Wir haben uns im Neubaugebiet ein ausreichend großes Areal gesichert.“ Claudia Budinger vom städtischen Umweltamt unterstreicht den Schutzwert des Geländes.
Drumherum entstehen Ein- und Zweifamilienhäuser. „Die Freifläche am Hang bleibt unberührt.“ Nur ein kleines Fenster in die römische Vergangenheit konnten die Forscher beim Anlegen des Neubaugebiets aufgestoßen.
Das Weitergraben im Grabungsschutzgebiet für den kompletten Grundriss hätte zu viel Geld verschlungen. Rupprecht wagt eine Prognose: „Sicher sechsstellig“, wäre eine Freilegung - ohne Schutzbau zur Sicherung und die Konservierung. „Ohne Handlungsbedarf ist die Villa im Erdreich besser für die Zukunft konserviert als unter freiem Himmel.“
Bingen hatte wegen seiner verkehrsgünstigen Lage am Kreuzungspunkt wichtiger Römerstraßen (Mainz, Trier, Köln) strategische Bedeutung.
„Villa Rustica“ war ein Landhaus zur Römerzeit; ausgeklügelte Fußbodenheizung mit Warmluft und meist üppig bemessene Bäder beeindrucken noch heute.
Neben der Grabung im Binger Wald sind die nächstgelegenen Landhäuser in Münster-Sarmsheim, Bad Kreuznach und Kempten bekannt.
Bingen hat als Fundort des umfangreichsten römischen Ärztebestecks einen Namen in der Fachwelt. Schutzwall-Funde unter dem Puricelli-Platz und Römerbrücke über die Nahe weisen auf den Stellenwert von „Bingium“ in der römischen Landkarte.
Flusslauf mit spektakulärer Kulisse
Flusslauf mit spektakulärer Kulisse
Allgemeine Zeitung vom 07.06.2011 - BINGEN
Von Christine Tscherner
ZEITREISE Hartmut Wettmann sammelt historische Fotografien des Rheintals
Eine echte Schatzkammer sind die uralten Fotografien des Sammlers Hartmut Wettmann. Historischen Fotos der ganz besonderen Art restauriert der Berliner: Stereo-Aufnahmen, die einen dreidimensionalen Eindruck des Rheintals vermitteln - und meist über 100 Jahre alt sind.
Der Wunsch nach virtuellem Erlebnis ist keine Erfindung von Google-Earth und 3-D-Fernsehen. Bereits vor 160 Jahren entstande Aufnahmen vom Rhein-Nahe-Eck in Stereooptik. Der Clou: Eine Doppelaufnahme mit leicht versetztem Aufnahmewinkel ermöglicht mit speziellen Brillen Tiefenwirkung.
Damals war die so genannte Stereographie große Mode. Allerdings brauchte man zum Anschauen spezielle Apparaturen. Durch einen Guckkasten mit zwei Okularen und Streuglasscheibe schaute der Betrachter in fremde Landschaften. Statt auf Papier entstanden die frühesten Bilder auf beschichteten Glasplatten.
„Von der Bahn ist noch nichts zu sehen“, kommentiert Hartmut Wettmann die historische Szenerie. Etwa auf das Jahr 1850 datiert er das Bild. Die Privatsammlung des ehemaligen Idar-Obersteiners umfasst rund 3 500 Stereokarten vom Rheintal. Dass darunter fast 80 Binger Motive sind, hat seinen Grund. „Das Rheintal war damals ein extrem beliebtes Reiseziel“, weiß Museumsleiter Matthias Schmandt. Die Masse an Landschaftsaufnahmen jener Anfangsjahre des Tourismus sind Zeitzeugen.
Den Rheinverlauf im praktischen Klappformat oder ein Rheinspiel als Mitbringsel? „Die Lieben daheim sollten einen Eindruck vom Flusstal mit seinen spektakulären Burgen-Kulisse erhalten.“
Stereofotos schafften beeindruckende Tiefenwirkung. „Eintauchen in nie selbst erlebte Landschaften ist also keine moderne Erfindung“, sagt Schmandt. Damals wie heute hatten und haben die Menschen den Wunsch nach virtuellen Reisen - ganz gefahrlos vom Kanapee aus.
Apropos: Vermutlich hat ein Franzose das Foto geschossen. „Bingen Pris du Niederwald“, hat der Berliner Sammler auf der Rückseite in Handschrift entdeckt. Der Fotograf ist unbekannt. Die Vermutung: Adolphe Braun (1812 bis 1877) könnte der prominente Urheber der Binger Bilder im Wettmann'schen Archiv sein.
Der Franzose bereiste mit seinem Sohn im Jahr 1864 die Niederlande, Luxemburg und den Rhein. Bei dieser Foto-Tour sollen insgesamt 1 200 Aufnahmen entstanden sein. Adolphe Braun verdiente sein Geld zunächst als Zeichner und Designer von Stoffmustern. In späteren Jahren war der Unternehmer wirtschaftlich mit der größten Vervielfältigungsanstalt Europas hoch erfolgreich.
Dort publizierte er auch seine eigenen Bilder und machte sie einem breiten Publikum zugänglich. Parallel dazu entwickelte sich die Rheinreise vom Vorrecht für Feine und Reiche zum Publikumshit für weite Bevölkerungsschichten. Die historischen Besucherbücher der Burg Klopp belegen den Wandel eindrücklich.
Fotografien wie der des Franzosen verdankt der Tourismus im Rheintal frühe Popularität. „Die Lust aufs Reisen wurde geweckt“, ordnet Dr. Matthias Schmandt die Aufnahmen ein. Das Foto, Hälte einer Stereofotografie, zeigt das Binger Rhein-Nahe-Eck um 1850. Schön zu sehen: Die auf der Bleiche ausgelegte Wäsche.