Wallertheimer Ziegelei
um 1905: Gründung des Ziegelwerks
1974: Ende der Produktion
Ziegel made in Wallertheim
Die Wallertheimer Ziegelei spielte eine zentrale Rolle in der neueren Geschichte des Ortes und im Ortsbild: Einerseits war der Industriebetrieb während seines Bestehens ortsbildprägend – wie auch die Trockentürme der Wallertheimer Malzfabrik, die heute weithin sichtbar den Ort markieren – andererseits durch die vielen Häuser, die mit ihren gelblichen Backsteinfassaden die Straßenzüge schmücken.
Feldbrenner und Lahmebagger
Am südlichen Ortsrand Wallertheims erstreckt sich das Areal des ehemaligen Ziegelwerkes. Die einst eindrucksvollen Gebäude sind größtenteils verschwunden und durch die Anlagen einer Mälzerei ersetzt worden, die Grube selbst ist begrünt, ein Fischweiher befindet sich auf ihrer Sohle. Die archäologischen Funde aus der Ziegeleigrube machten Wallertheim in Fachkreisen weltbekannt. Für den Ort und seine Bewohner jedoch waren die Ziegelsteine, die hier produziert wurden, von größerer Bedeutung: Als Baustoff und Erwerbsmöglichkeit. Das hier abgebaute Material ist Löss, genauer gesagt Lösslehm. Löss ist ein Windsediment, ein aus den vegetationsarmen eiszeitlichen Landschaften (Moränen, Trockenwüsten, Tundren) ausgewehtes, vom Wind oft über Tausende von Kilometern verfrachtetes und andernorts abgelagertes hellgelbliches Sediment. Er besteht aus mehlfeinen Quarz- und Kalk-Körnchen von ca. 0,005-0,01mm Durchmesser und ist keineswegs selten, bedeckt es doch ca. 10% der Landflächen. Die Mächtigkeit der Lössbedeckung beträgt meist unter 10m, kann aber auch bis zu 40m ausmachen. Durch den Einfluss von Wasser und Luft verwittert Löss zum bräunlich gefärbten Lösslehm. Lössböden können Regenwasser schnell und in großer Menge speichern, sind locker, mineralreich und deshalb fruchtbare, relativ leicht bearbeitbare Böden.
Der Wallertheimer Lösslehm (rheinhess. „Lahme“) ist ca. 15-20m mächtig, im unteren Bereich befinden sich mehrere Kiesschichten – alte Schotterterrassen des Wiesbachs - und darunter grünlichgrauer, wasserundurchlässiger Mergelton („Lette“). Lehm diente bereits in vorgeschichtlicher Zeit zum Hüttenbau: Vermischt mit Strohhäcksel wurde er in ein faschinenartiges Flechtwerk gedrückt, das dann nach der Trocknung zusammen mit dem stützenden Holzfachwerk die Wände der Hütte bildete. Um jedoch ein wirklich dauerhaftes Baumaterial zu erhalten, wird der Lösslehm im richtigen Verhältnis mit Ton vermengt und gebrannt. Diese Technik dürfte um die 5000 Jahre alt sein und aus dem Zweistromland stammen. Der Wallertheimer Lösslehm wurde schon vor Bestehen der Ziegelei im Bereich der heutigen Bahnhofstraße abgebaut und vor Ort verarbeitet. Zunächst wurde das Lehm-Ton-Gemisch mit Wasser und gehäckseltem Stroh vermengt, bis es die nötige Konsistenz hatte. Dann wurde diese Masse von Hand in Holzformen gefüllt, abgestrichen und wieder heraus-„geschlagen“, um eine gleichmäßige Ziegelform zu erhalten. Im nächsten Arbeitsschritt mussten diese „Rohlinge“ mehrere Wochen an der Luft trocknen. Dann wurden sie – ähnlich wie bei einem Holzkohlemeiler – um eine Brennstelle herum aufgeschichtet, mit Erde abgedeckt und gebrannt. Die erhaltenen Feldbrandziegel haben eine herstellungsbedingt unregelmäßige Oberfläche, man findet sie noch an wenigen Gebäuden.
Die Hersteller, die dieses simple Zieglerhandwerk meist im Nebenerwerb ausübten, wie auch die Ziegelsteine, nannte man im Rheinhessischen „Feldbrenner“. Das Ziegelwerk, um 1905 vom Wallertheimer Maurermeister Johann Hofmann gegründet, wuchs in den folgenden Jahrzehnten auf etwa 70.000qm. Nach dem frühen Tod Hofmanns (1918) ging die Ziegelei in den Besitz der Familie Schick über, damals Eigentümer der Katzensteiger Mühle. Nach dem Konkurs von „Hofmann & Schick“ 1934 ersteigerten zwei der drei Töchter Hofmanns den Betrieb zurück. Und mit Ernst Stabroth aus Eberswalde, der die jüngere der beiden heiratete, kam ein erfahrener Ziegeleiingenieur ins Geschäft, der Erfahrung mit modernen Abbau- und Brennverfahren im In- und Ausland gesammelt hatte. In den frühen 1940er Jahren musste der Betrieb ruhen, da Personal und Kohle kriegsbedingt knapp geworden waren. Unter der französischen Besatzung wurde auf deren Betreiben hin die Ziegelei als Arbeiterproduktionsgenossenschaft wieder in Betrieb genommen. Erst 1956 konnte die Familie Stabroth die Genossen ausbezahlen und die Ziegelei zurückerwerben. Nach erfolgreicher Beendigung seines Ingenieurstudiums 1961 trat Helmut Stabroth, der Sohn von Ernst Stabroth, in die Firma ein, deren letzter Alleinbesitzer er in den 1970er Jahren wurde. Schließlich, im Gefolge der Ölkrise, konnte der Betrieb nicht mehr wirtschaftlich arbeiten und musste 1974 geschlossen werden.
Bei der Gründung der Ziegelei und wenige Jahre später beantragte Johann Hofmann den Bau zweier Ringöfen. Der Ringofen hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert die Ziegelproduktion revolutioniert und war damals Stand der Technik. Er bestand aus mehreren im Oval angeordneten Brennkammern, die unabhängig voneinander beschickt und befeuert werden konnten. So war eine praktisch kontinuierliche Produktion von Ziegelsteinen gleichbleibender Qualität möglich. Die Rohlinge wurden um die Kammern herum angeordnet und bei ca. 1100°C gebrannt, was etwa zwei Tage in Anspruch nahm. Bis 1970 war dieser Ringofen in Betrieb. Dann wurde die Produktion auf einen modernen Tunnelofen mit Ölbefeuerung umgestellt. Öl war preisgünstiger als Kohle und konnte gepumpt werden. Aufgrund der stark gestiegenen Ölpreise musste die Ziegelei 1974 den Betrieb einstellen.
Die Ziegelei war ein wichtiger Arbeitgeber: Manchmal standen bis zu 50 Männer in Lohn und Brot. Sie kamen im Wesentlichen aus Wallertheim und arbeiteten hier während der frostfreien Zeit, also etwa April bis Oktober. Im Laufe des Bestehens der Ziegelei wurde die Ziegelherstellung zwar immer mehr automatisiert: Den Lehm- bzw. Tonabbau erledigten bald Eimerkettenbagger und mit Hilfe einer Strangpresse, die ähnlich wie ein Fleischwolf arbeitet, wurde der Lehm mit den Zuschlagstoffen vermengt und zu einem Strang gepresst, der am Mundstück der Presse dann in gleichgroße Stücke zerschnitten wurde.
Jedoch war weiterhin viel Handarbeit und vor allem Know-how erforderlich! So mussten die Rohlinge z.B. auf spezielle Weise aufgeschichtet und 2-3 Wochen luftgetrocknet werden. Diese Arbeit und das regelmäßige Wenden war Aufgabe des „Rüttlers“, wohingegen die Rohlinge von „Einfahrern“ in den Ringofen eingebracht und von „Setzern“ dort korrekt aufgeschichtet werden mussten. Die verantwortungsvollste Aufgabe hatten die „Brenner“, welche eine wohldefinierte Mischung aus Kohlegruß und -stücken, in das „obere Stockwerk“ des Ofens fuhren, von wo sie sie den Brennkammern wohldosiert zuführten. Die „Ausfahrer“ schließlich entleerten den Ofen und verluden die fertigen Ziegelsteine.
Die unmittelbare Nähe des Wallertheimer Bahnhofs war von Anfang an vorteilhaft, konnte doch die benötigte Kohle, fast ein ganzer Waggon pro Woche, hier angeliefert und das fertige Produkt von dort auf die Reise geschickt werden. Im Umkreis von 50km fanden sich die Abnehmer der Wallertheimer Ziegel! Daneben bediente sich das Unternehmen schon in den 1930er Jahren noch selbstständiger Subunternehmer mit LKWs. Schließlich betrug der Jahresausstoß in den 1970er Jahren an die 15 Millionen „Normformatsteine“! Trotz großer Konkurrenz (in Rheinhessen gab es u.a. Ziegeleien in Bechtolsheim, Bodenheim, Bad Kreuznach, Mainz, Saulheim, Sprendlingen und die heute noch existierende in Wöllstein) waren die Wallertheimer Ziegel weithin für ihre helle Farbe – die sie einem Mangel des Lehms an Eisenverbindungen verdanken – und für ihre hohe Qualität bekannt. Maurer schätzten die gegenüber anderen, eher spröden Produkten, sehr gute Spaltbarkeit.
Die Lehmgrube hatte nicht nur Bedeutung als Rohstoffquelle. Sie ist weit über Deutschland hinaus bekannt geworden durch die dort gefundenen Hinterlassenschaften eiszeitlicher Jäger sowie bronze- und eisenzeitlicher Grabanlagen. Eine Vielzahl von Fundstücken wurde beim Abbaubetrieb in der Grube und bei gezielten Ausgrabungen nach der Stilllegung geborgen. In mehreren Schichten wurden steinzeitliche Jagdlagerplätze identifiziert, wo sich neben Steinwerkzeugen verschiedenste Tierknochen (Rinder, Pferde, Wisent, Hirsche) fanden, die auf eine artenreiche Tierwelt hindeuten. Viele der Fundstücke sind im Museum Alzey und im Landesmuseum Mainz zu besichtigen.
Auf dem Gelände der Ziegeleigrube wurde auch das Wallertheimer Glashündchen gefunden, Meisterstück eines keltischen Künstlers, das auf etwa 100 v. Chr. datiert wird. Es ist weltweit einmalig in seiner Art und ebenfalls im Landesmuseum Mainz ausgestellt, ja dient sogar als dessen „Logo“. Auch ein Bronzeschwert mit „Herstellermarke“ fand große Beachtung. Für die Bediener des Lette- bzw. Lahmebaggers, die meist als Erste sahen, wenn sich in der frisch abgegrabenen Wand etwas Ungewöhnliches zeigte, bedeutete der Fundreichtum der Wallertheimer Ziegeleigrube ein kleines Zubrot: Für einen gemeldeten Fund gab‘s ein paar Mark extra!
Hans-Dieter Bauer, 2008