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0.Älter als gedacht? Die Gründung eines Gesangvereins 1846 in Rheindürkheim

Die Mitglieder des Gesangsvereins 1895.[Bild: MGV Sängerbund Rheindürkheim e.V. ]

Wer über die Gründungsphase des Männergesangvereins 1862 „Sängerbund“ Rheindürkheim forscht, der wird zu allererst eines vermissen: eine Gründungsurkunde aus dem Jahre 1862. Das älteste Schriftstück, das wir im Vereinsarchiv des MGV vorfinden, ist das „Cassabuch des Sängerbundes zu Rhein Dürkheim“. Und tatsächlich beginnt dieses im Januar 1862 mit folgender Eintragung:

Einnahme

Eintrittsgelder von 51 Mitgliedern a 24 Kr.[Anm. 1] 20,24
lt. Vakantur vom 15. Januar 1862 Monatsbeitrag und zwar :
von 38 aktiven Mitgliedern a 9 Kr. 5,42
von 13 inaktiven Mitgliedern a 12 Kr. 2,36

Die Erhebung von Eintrittsgeldern ist ein starkes Indiz für eine Neugründung. Es fehlt uns jedoch eine Gründungsurkunde oder ein Schriftstück über die zweifellos erforderliche behördliche Genehmigung zur Gründung des Vereins. Auch die Anschaffungen im Gründungsjahr sprechen nicht für eine Neugründung. Das Cassabuch verzeichnet im ersten Jahr zwar die Beschaffung einer Lampe sowie zugehörigem Öl und Lötin, aber keine Noten. Auch werden im August 1862 Eintrittskarten und Programme erworben, wohl für ein erstes Konzert, aber wiederum kein Notenmaterial. Für einen neuen Gesangverein würden wir jedoch den Kauf von Noten erwarten.

Was wir in den amtlichen Akten im Bestand des Stadtarchives finden, ist jedoch eine Korrespondenz zwischen dem Rheindürkheimer Bürgermeister und dem Wormser Kreisrat zur Gründung eines Gesangvereins zu Rheindürkheim aus dem Jahr 1846[Anm. 2]. Gab es 1862 also keine Gründung oder ging die Gründungserlaubnis vielleicht verloren? Auch wenn Teile des alten Kreisarchives Worms im Krieg verbrannten, so haben wir aus den 1860er Jahren doch andere Akten des Gemeindearchivs Rheindürkheim erhalten. Folglich können wir nicht belegen, ob es eine zwischenzeitlich verlorene Gründungsakte gab.

Ist der MGV mit einem Vorgängerverein von 1846 vielleicht doch älter als gedacht?

0.2.Die Sängerbewegung in der Zeit des Deutschen Bundes

Das Umfeld des Jahres 1846 zeigt uns Rheindürkheim als Teil des Kreises Worms. Es gehörte zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt, einem der vielen feudalen Kleinstaaten, die sich im Deutschen Bund zusammengeschlossen hatten. Die Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt durch einen Übergang aus den alten absolutistischen Strukturen in einen Nationalstaat mit moderneren Zügen. Es entwickelte sich ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich nicht nur im Deutschen Bund ausdrückte. Die Zivilgesellschaft strebte nach Demokratie, was im Hambacher Fest 1832 einen deutlichen Ausdruck fand. Die Deutschen fanden sich vor allem aber in Turn- und Gesangsvereinen zusammen. Große Turnfeste und die „Allgemeinen deutschen Sängerfeste“ brachten die Menschen über die Grenzen der deutschen Kleinstaaten hinweg zusammen. Neue Verkehrsmittel, die Dampfschifffahrt und die Eisenbahn, machten dies möglich – oftmals durch die Ausgabe von Freibillets. Im übertragenen Sinne rückte die Nation näher zusammen. Der Schwerpunkt der Sängerbewegung befand sich dabei im Südwesten Deutschlands. Und so reiht sich die Vereinsgründung 1846 zu Rheindürkheim in eine ganze Reihe neu aufwachsender Gesangvereine in Rheinhessen, Baden und der Pfalz ein. Im Jahre 1847 zählte die Sängerbewegung in Deutschland bereits 1.100 Vereine mit mehr als 100.000 aktiven Mitgliedern. Die Turnbewegung war mit rund 300 Vereinen und 80-90.000 Turnern vertreten.[Anm. 3]

Besonders die Sängerbewegung trug nicht nur zur Verbreitung des Freiheitsgedankens durch Lieder bei, mit ihrem ausgeprägten Gemeinschaftsbewusstsein vertiefte sie auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Ein heute noch bekannter Ausdruck dieses Zeitgeistes ist das Deutschlandlied von Hoffmann von Fallersleben, das er 1841 veröffentlichte. Und es ist auch nicht verwunderlich, was deutsche Auswanderer in ihrer neuen Heimat Amerika nach ihrer Sesshaftwerdung meist als erstes gründeten: einen Gesangverein.

In der Folge der deutschen Revolution 1848 erfuhr das Vereinswesen einen Dämpfer. Politische Vereine wurden in den meisten deutschen Ländern nach 1849 verboten. Im Juli 1854 folgte auch auf Bundesebene die Verabschiedung von „Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe im Deutschen Bund“. So gingen auch viele Gesangvereine in dieser Zeit wieder unter.

Neuen Schwung in die Sängerbewegung brachte das Ende der Reaktion. Mit dem Wechsel von Friedrich Wilhelm IV. zu Wilhelm I. als preußischem König setzte eine allgemeine Öffnung der politischen und gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten ein. Im Juli 1861 fand ein Allgemeines deutsches Sängerfest in Nürnberg statt. Um diese Zeit gründeten sich in den Staaten des Südwestens regionale „Sängerbünde“. Am 21. September 1862 wurde in Coburg der Deutsche Sängerbund als Dachverband dieser Bewegung gegründet.

Die Gründung des „Sängerbundes zu Rhein Dürkheim“ im Januar 1862 ist zweifellos ein Echo dieser größeren Bewegung. Da aber bereits seit 1846 nachweislich in Rheindürkheim gemeinsam gesungen wurde, haben wir es also vielleicht mit einer Art „Neustart“ des Vereins zu tun.

0.3.1846 – eine Vereinsgründung mit Hindernissen

Mit einem recht überschwänglichen Schreiben vom 18. Februar 1846 meldete der damalige Rheindürkheimer Bürgermeister Schneyder beim großherzoglichen Kreisrat zu Worms die Gründung eines Gesangvereins an. Schneyder schrieb:

„Mehrere hiesige Einwohner, durchdrungen von der Idee, daß Gesang den Menschen veredle, ihn in mancher Stunde das Herz zum Frohsinn erhebe, haben schon öfter den Wunsch ausgesprochen, es möge sich hierort, wie jetzt fast überall, ein Gesangverein bilden. Dieses Project fand ungetheilten Beifall, und sind bis jetzt 51 Mitglieder zu diesem Zwecke zusammengetreten, die auf dem Grund der hier beifolgenden Statuten, den Verein zu bilden gedenken.
Ich beehre mich daher, als Vereinsmitglied hierzu aufgefordert, dieselben zur gefälligen Genehmigung vor zu legen.“
[Anm. 4]

Die Genehmigung des Kreisrates erfolgte umgehend. Die folgende erhaltene Korrespondenz erzählt uns dann aber eine interessante Geschichte von recht turbulenten Anfangsjahren.

Bürgermeister Schneyder wurde offenkundig der erste Präsident des Gesangvereins. Doch viel Freude hatte er damit nicht, denn bereits zum Ende des Jahres 1846 erwuchs ihm Konkurrenz durch Sebastian Thomas[Anm. 5]. Diesem gelang es bei einer Generalversammlung im Dezember 1846 einen anderen Dirigenten wählen zu lassen. Äußerer Auslöser des aufkommenden Konfliktes war die Mitwirkung des vorwiegend evangelischen Chores bei deutsch-katholischen Gottesdiensten. Thomas war auch Vorstandsmitglied des um die gleiche Zeit gegründeten Deutsch-Katholischen Dissidentenvereins[Anm. 6], weshalb Schneyder sich bemühte, ihn beim Kreisrat als politisch suspekt zu denunzieren. Thomas wiederum versuchte mit einer Bittschrift Schneyder in seiner Funktion als Bürgermeister politisch anzugehen.

Der Konflikt, den auch der Kreisrat sehr schnell als persönlich motivierte Auseinandersetzung zwischen Schneyder und Thomas erkannte, eskalierte im Verein weiter. Die meisten aktiven Sänger um Thomas wichen für die Übungsstunden von dem satzungsgemäßen Vereinslokal im evangelischen Schulhaus in das Hermann Beutel‘sche Anwesen aus. Schneyder versuchte diesen Satzungsverstoß zum Anlass zu nehmen, dem Verein die Tätigkeit untersagen zu lassen.

„Ich stelle um ganz der Weisheit Ew. Hochwohlgeboren die Entscheidung anheim, ob der Verein unter diesen Verhältnissen fortbestehen kann, nicht weil eine Person mich herabzuwürdigen gesucht, sondern weil ein Geist darin wohnt, der meines Erachtens durchaus nicht geeignet ist, Frieden in der Gemeinde zu erhalten.“

Für den Wormser Kreisrat war dies jedoch kein ausreichender Anlass um den Verein zu untersagen. Nachdem 30 Vereinsmitglieder in Worms vorgesprochen hatten, wurde die Verlegung der Übungsstunden unter folgenden Auflagen genehmigt[Anm. 7]:

1.)    Den Bewohnern des Hauses hinsichtlich ihres Rufs nichts Nachteiliges im Wege steht.

2.)    Der Verein auch in diesem Locale sich genau an die Statuten hält und der steten polizeilichen Aufsicht unterworfen bleibt.

3.)    Auch so lange der Verein in diesem Local seine Übungen hält keine Wirtschaft darin getrieben und überhaupt keine Speisen und Getränke in den Vereinsversammlungen, sei es durch was es wolle, verabreicht werden.

Der Kreisrat ließ Schneyder mit seinen Vorwürfen abblitzen. Doch die Situation verschärfte sich weiter. Es standen nicht belegbare Beschuldigungen im Raume, die Vereinsmitglieder hätten in der Schule möglicherweise Tinte und Licht entwendet. Der Bürgermeister wollte den Vereinsmitgliedern die Statuten nicht zur Einsichtnahme geben und weigerte sich auch das Beutel’sche Haus zu betreten. Schließlich wies ihn der Kreisrat an, die Statuten zur Einsichtnahme auszulegen. Und wenn er schon nicht als Vereinsmitglied an den Übungsstunden teilnehme, so sei es doch seine Pflicht als Ortspolizei, die Übungsstunden des Vereins zu überwachen. Der Kreisrat ging sogar so weit, Schneyder mit dem Entzug der Leitung der Ortspolizei zu drohen. Doch der Bürgermeister weigerte sich weiterhin unter gewundenen Ausflüchten die Singstunde aufzusuchen:

„Ich will den Verein recht gern überwachen, dann aber, da der angegebene Grund zufolge dessen Ihre Verfügung vom 11. Jan. erfolgt ist, durchaus auf Unwahrheit beruht, mich nicht in das Hermann Beutel’sche Haus zu diesem Zwecke begeben und wenn Sie mich, so leid auch mir dies thun müßte, von der Leitung der Ortspolizei entbinden würden. Meine Ehre gilt mir mehr als der rubr.[Anm. 8] Verein, und diese zu erhalten, werde ich mir stets angelegen sein lassen.“[Anm. 9]

Leider endet die Überlieferung des Briefwechsels hier. Offensichtlich gab es letztendlich keine Gewinner dieser Auseinandersetzung. Jedenfalls heißt der Bürgermeister Ende des Jahres 1847 nicht mehr Schneyder, sondern Scharlach.[Anm. 10] Und auch der Verein hatte eine kurze Lebensdauer. Im Oktober 1848 meldet der Bürgermeister auf eine Anfrage der hessischen Regierung, dass in der Gemeinde Rheindürkheim keinerlei politische oder sonstige Vereine bestünden.[Anm. 11]

Ein solches Schicksal teilt die Sängerbewegung Rheindürkheims mit vielen anderen Gemeinden. Beispielsweise wurde in Bechtheim 1844 ein Gesangverein gegründet, der sich unter unbekannten Umständen wieder auflöste. Erst 1877 finden sich die Sangesfreudigen durch die Gründung des MGV Cäcilia wieder zusammen.[Anm. 12]

Die genauen Gründe für das Ende des Gesangvereins Rheindürkheim von 1846 kennen wir also nicht. Vielleicht waren die persönlichen Auseinandersetzungen ausschlaggebend. Aber auch die allgemeinen Verhältnisse der Zeit waren nicht förderlich. Nach starken Mißernten gab es in Deutschland 1846/47 Hungersnöte. In der Folge setzte eine Auswanderungswelle ein, von der auch Rheindürkheim erfasst wurde[Anm. 13]. Die Verschärfung der Vereinsüberwachung in Folge der deutschen Revolution 1848 tat ein Übriges. Die Umstände waren für ein Fortbestehen des Vereins also recht ungünstig.

Schlussendlich ist unser Männergesangverein 1862 „Sängerbund“ Rheindürkheim also doch nicht älter als die, auch schon sehr beachtlichen 150 Jahre, die wir dieses Jahr feiern können. Dennoch dürfen wir uns in der sängerischen Tradition des Gesangvereins von 1846 wie auch des Sängerbundes von 1862 fühlen.

Nachweise

Verfasser: Klaus Harthausen

Quellen und Literatur:

  • HHStA, Best. R 21 B.
  • Stadtarchiv Worms, Bestand 051 (Gemeindearchiv Rheindürkheim).
  • Bender, Sch. Matth.: Bechtheim, Kleinod des Wonnegaus, seine Geschichte. Bechtheim 1976.
  • Fehrenbach, Elisabeth: Verfassungsstaat und Nationsbildung, 1815-1871. Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 22. München 2007.

Erstellt am: 27.04.2020

Anmerkungen:

  1. Kr. = Kreuzer, 60 Kreuzer waren ein Gulden. Gulden und Kreuzer galten als Währung in Großhessen-Darmstadt bis 1871. Zurück
  2. Stadtarchiv Worms, Bestand 051 (Gemeindearchiv Rheindürkheim), Nr. 647 Zurück
  3. Elisabeth Fehrenbach: Verfassungsstaat und Nationsbildung, 1815-1871, Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Band 22, München 2007, S. 29 Zurück
  4. Stadtarchiv Worms, Bestand 051, Nr. 647. Die seinerzeit beigefügten Statuten sind leider nicht erhalten. Zurück
  5. Sebastian Thomas war Holzhändler, was wir aus einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Gemeinde aus dem Jahr 1863 folgern können. Stadtarchiv Worms, Best. 051 Nr. 575. Auch im Gemeinderat war 1843-47 ein Thomas. Zurück
  6. Der Deutschkatholizismus war eine seit Mitte der 1840er Jahre aktive religiös-politische Reformbewegung, die sich gegen den als starr und reaktionär empfundenen Dogmatismus der katholischen Kirche richtete. Ihr äußerer Auslöser war der Protest gegen die Ausstellung des sog. Heiligen Rocks 1844 in Trier. Unter anderem verwarfen sie den Gebrauch des Lateins im Gottesdienst. Die Deutschkatholiken waren eine oppositionelle Erscheinung der späten Vormärz-Zeit und geprägt von Idealen eines sozialen Liberalismus, der gleichzeitig nach einen deutschen Nationalstaates strebte. In der bayerischen Pfalz waren die Deutschkatholiken verboten. Bereits 1859 ging sie durch Vereinigung mit protestantischen Bewegungen in dem Bund freireligiöser Gemeinden auf.

    In Rheindürkheim wurden sie am 12.02.1846 gegründet. Sie trafen sich im evang. Schulsaal und hatten nach Angabe des Vorstandes 151 Mitglieder (Gemeinderatsprotokoll vom 15.11.1846). Im Jahre 1847 waren es noch 22 Familien (Stadtarchiv Best. 051 Nr. 104). Zurück

  7. Schreiben des Kreisrathes vom 17. Januar 1847, Bestand 051, Nr. 647. Zurück
  8. Rubr. = rubruiert (von rubrum - latein. rot). In Akten zu verstehen als „des im Kopf des Anschreibens bezeichneten…“.
    Es war wohl zeitweise üblich, den Betreff mit roter Tinte oben auf ein Aktenstückes zu schreiben. Zurück
  9. Schreiben des Bürgermeisters vom 26. Januar 1847, a.a.O. Zurück
  10. Gemeinderatsprotokolle, Stadtarchiv Worms, Best. 051, Nr. 160; Schneyder wer seit 1843 Bürgermeister gewesen. Zurück
  11. Stadtarchiv Worms, Schreiben vom 18.11.1848, Best. 051, Nr. 647 Zurück
  12. Sch. Matth. Bender: Bechtheim, Kleinod des Wonnegaus, seine Geschichte. 1976, Seite 1012 Zurück
  13. Im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt sind alleine Akten von 27 Rheindürkheimer Auswanderern, nebst Kindern aus dieser Zeit bis 1858 verzeichnet (HHStA, Best. R 21 B). Zurück