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0.Auswanderung aus den Jülichen Landen nach Nastätten nach dem 30-jährigen Krieg

von Hans-Friedrich Kartenbender

Eine allgemein bekannte, aber bisher für das Herzogtum Jülich wenig thematisierte Tatsache, sind die Wanderungsbewegungen nach dem 30-jährigen Krieg in Deutschland. Durch Zufall ist jetzt eine mögliche Spur davon von Gangelt und dem Jülicher Land nach Nastätten in den Rhein-Lahn-Kreis, die ehem. Niedergrafschaft Katzenellenbogen, entdeckt worden.

Nach Veröffentlichung der Familienchronik Kartenbender in der „Hessischen Familienkunde“  Heft 3/2012 teilt ein aufmerksamer Leser mit, dass diese Familie nicht aus Gangelt sondern aus Nastätten stammt. Er erinnerte sich genau an eine Kirchenbucheintragung aus Bingen-Gaulsheim, in der sein Vorfahre, Johannes Schweizer, eine Maria Catharina Cartenbender aus Nastätten geheiratet hat, weil ihm der seltsame Name der Braut noch in Erinnerung war. Er empfahl, im kath. Kirchenbuch von Nastätten nach diesem Heiratseintrag zu suchen, um weitere Einzelheiten zu dieser Hochzeit zu erfahren. Es stellte sich heraus, dass Maria Catharina Cartenbender tatsächlich aus Nastätten kam und die Tochter der verstorbenen einstigen Hofleute Paul Cartenbender und seiner Frau Agnes aus Nastätten war.

Aus den Protokollen der Kauf- und Erbbücher der Jülich Gerichte, Amt Born und Millen, Schöffengericht Gangelt, geht hervor dass dieser Paul Cartenbender ab 1660 seinen Landbesitz in Gangelt verkaufte, ihn aber erst mit dem Verkauf von Haus und Hof "Die Leuff" zwischen Allgemeiner Gasse und Friedhof am 28.6.1661 abschließen konnte. Er muss dann als etwa 35-jähriger 1660/61 mit seiner 1. oder 2. Frau, seiner 15 Jahre alten Tante Helena und seinen Kindern, dem 5-jährigen Joannes, dem 3-jährigen Jacobus und den 3 Kleinkindern Leonardus, Otilia und Joannes Jacobus von Gangelt nach Nastätten gekommen sein, weil eine weitere Tochter von ihm, Elisabetha, schon am 6.8.1661 in Nastätten getauft wurde.

Warum er ausgerechnet nach Nastätten in den Hintertaunus zog, ist bis heute ungeklärt. Man kann darüber nur Vermutungen anstellen, aber bisher keine Beweise dazu vorlegen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass dieser Umzug keine Ausnahme war, sondern dass man ihn in einem größeren Zusammenhang sehen muss. Möglicherweise tut sich hier ein ganz neues, bisher noch nicht bearbeitetes Kapitel für die Regionen Heinsberg und Nastätten auf, über das bisher noch nie berichtet wurde.

Abhandlungen, die das Thema Auswanderung zum Gegenstand hatten, sind bisher nur aus dem "Mitteilungsblatt zur rheinhessischen Landeskunde" aus dem Jahre 1958 bekannt, dass “zwischen 1653 und 1685 in Bolanden im Donnersbergkreis in Rheinland-Pfalz 25 Niederländer, worunter nach dem damaligen Sprachgebrauch sicher auch Niederrheiner zu verstehen sind, eingewandert sind. Einige kamen aus Jülich, andere aus Brabant. Bemerkenswert ist aber die große Zahl der aus der holländischen Grafschaft Mörs Stammenden. Eine gleichgerichtete Nord-Süd-Bevölkerungsbewegung ist in dieser Zeit auch in Lambsheim, Mutterstadt und in rheinhessischen Orten festzustellen. Was diese offenbar zahlenmäßig nicht unbedeutende Auswanderung ausgelöst hat, ist nicht ganz klar".

Weitere Nachforschungen im erst 1654 beginnenden kath. Kirchenbuch von Nastätten ergaben, dass noch 5 weitere Familien aus Gangelt und „den Jülicher Landen“ zwischen 1662 und 1688 in Nastätten ansässig waren. Das waren die Familien von Wilhelm und Catharina Wilhelms aus Gangelt (1662), Johann Hilgers aus Gangelt (1667), Peter Jansen aus Langbroich, Herzogtum Jülich und Sophia Linnartz aus Gangelt, Herzogtum Jülich (1684) und Maria Greuen aus Breberen, Territorium Jülich (1688). Auch eine Familie aus Köln wohnte schon 1684 in Nastätten und zwar Heinrich Bormann, der dort Sophia Linnartz aus Gangelt geheiratet hat.

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0.1.Taufeintragungen

Auffallend ist auch, dass die Patin von Joannes Jacobus Wilhelms am 29.1.1662 die ehrenwerte und züchtige Jungfrau Petronilla von Hanxler (Hanßeler) war, die das Kind aus der Taufe hob. Die Herren von Hanxler waren die Besitzer der Burg in Gangelt. Wie können Angehörige der Familie Hanxler mit den Einwohnern in der Niedergrafschaft Katzenellenbogen zusammenhängen?

29 Jan. baptizatus est Joannes Jacobus Wilhelms ex Gangelt filius legitimus Wilhelmi Wilhelms et Catharina coniugum stantibus patrinis Philippo Jacobo Forst ex Nastede et Joanne Winckes. Susceptrix Honesta et pudica Virgo Petronilla ab Hanßeler. [Anm. 1]

Am 29. Januar [1662] ist Johannes Jakob Wilhelms aus Gangelt, der legitime Sohn von Wilhelm und Katarina Wilhelms mit den anwesenden Taufzeugen Philipp Jacob Forst aus Nastätten und Johanna Winckes getauft worden. Die ehrenwerte und züchtige Jungfrau Petronilla von Hanxler* (Hanßeler) [hat das Kind aus der Taufe gehoben]

 

In der Taufeintragung von Elisabetha Kardenbender am 6.8.1661 in Nastätten, die das erste in der neuen Heimat geborene Kind von Paul Cartenbender war, ist vermerkt, dass Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels-Rotenburg das Kind aus der Taufe hob.

6 Augusti in chro [Christo] Jesu renata est Elisabetha Kardenbenderin ex Gangelt filia legitima Pauli Kardenbenders et Agnetis Paulin. Levavit Serenissimus Princeps Ernestus Lantgravig Haßiae [Anm. 2]

Am 6. August [1661] ist in Jesus Christus Elisabeth Kardenbender, die legitime Tochter des Paul Kardenbender und der Agnes Paul aus Gangelt getauft worden. Der hochwürdigste Fürst, Landgraf  Ernst von Hessen, [hat das Kind] aus dem Taufbecken gehoben.

Dieser Vermerk ist ein Hinweis darauf, dass sich Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels-Rotenburg sehr um die neuen Zuwanderer seiner Grafschaft kümmerte und sie nach Kräften förderte. Die Übernahme der Patenschaft in einer Familie ist damals öfters vorgekommen und war gleichzeitig mit einer finanziellen Zuwendung des Landesherrn an seine neuen Untergebenen verbunden. Es muss also eine politische Absicht und eine gewisse Strategie hinter diesen Vergünstigungen vermutet werden.

 

11 8bris Copulatus est Joannes Hilgers ex Gangelt post trinas proclamationes publice in facie Eccl[es]ia factus cum Honesta ac pudica virgine Anna Kulin ex Nastetten [Anm. 3]

Am 11. Oktober [1667] hat nach drei öffentlichen Verkündigungen vor der Kirche Johann Hilgers aus Gangelt die ehrbare und keusche Jungfrau Anna Kulin aus Nastätten geheiratet.

 

8 Febriarii [1684] praemissis permittendis copulatus fuit Petrus Jansen ex Langbruch Ducatus Juliacensis cum honesta ac Pud[ica] v[irgine] Maria Ida Defoi ex Nastadt[en] [Anm. 4]

Am 8. Februar [1684] hat nach vorausgehender Erlaubnis Peter Jansen ex Langbruch [Langbroich], Herzogtum Jülich, die ehrbare und keuche Jungfrau Maria Ida Dedoi aus Nastätten geheiratet.

 

 

8 Febriarii permittendis copulates fiut Henricus Borman coloniensis cum honesta ac Pudica V[irgine] Sophia Linnartz ex Gangelt Ducatus Juliacensis.

Am 8. Februar [1684] hat nach vorausgehender Erlaubnis Heinrich Bormann aus Köln die ehrbare und keuche Jungfrau Sophia Linnartz aus Gangelt, Herzogtum Jülich, geheiratet.

 

 

Anno 1688 12 Octobris copulates fuit praemissis tribus exmatio[ni]bus Jo[ann]esJacobus Korb ex Nastaedten cum honesta ac Pudica V[irgine] Maria Greuen ex Breberen territorii Juliacansis, [Anm. 5]

Am 12. Oktober [1684] hat nach dreifachem Ausrufen Johann Jakob Korb aus Nastätten die ehrbare und keuche Jungfrau Maria Greuen aus Breberen, Territorium Jülich, geheiratet.

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Nastätten und die Niedergrafschaft Katzenellenbogen waren zum Ende des 30-jährigen Kriegs, im „Hessenkrieg“, besonders hart umkämpft, stark zerstört und entvölkert worden. Die Truppen der Landgräfin Amalie Elisabeth von Hessen-Kassel stritten darum, die 1627 an Hessen-Darmstadt verlorenen Gebiete aus dem Besitz des Landgrafen Georg I. von Hessen-Darmstadt wieder zurückzuerobern. Dadurch litt die Bevölkerung unter Einquartierungen, Kriegskontributionen, Lebensmittellieferungen,  wurde von eigenen und feindlichen Soldaten ausgeplündert und floh in das durch die Burgen Rheinfels, Katz und Reichenberg befestigte Patersberg an den Rhein. Die Häuser wurden verlassen, geplündert, gebrandschatzt oder völlig zerstört. Nachdem die Rheinburgen Rheinfels, Katz und Reichenberg 1647 von Hessen-Kassel eingenommen wurden, wurde die Niedergrafschaft im Einigkeitsvertrag vom 14.4.1648 wieder an Hessen-Kassel übergeben und die Überlebenden kehrten allmählich nach Nastätten zurück. Im Dezember 1648 einigte sich Hessen-Kassel mit der Nebenlinie Hessen-Rotenburg im Rahmen des Westfälischen Friedens darauf, dass die Niedergrafschaft Katzenellenbogen unter dem Vorbehalt der reichsrechtlichen Landeshoheit von Hessen-Kassel an die Linie Hessen-Rotenburg rechtmäßig übertragen wurde.

1649 wurde diese Grafschaft an Ernst, das 11. Kind aus der 2. Ehe von Landgraf Moritz von Hessen-Kassel übertragen. Er war in Kassel geboren und im calvinistischen Glauben erzogen worden. Am 6.1.1652 ist er in Köln zum kath. Glauben übergetreten und förderte den Wiederaufbau seines Landes durch wirtschaftliche Maßnahmen und die Gründung von kath. Einrichtungen wie Schulen und Kirchen. Aufgrund einer Stiftung konnte die noch verbliebene kath. Gemeinde in Nastätten 1654 mit dem Bau einer eigenen Pfarrkirche beginnen. In diesem Jahr beginnen auch die kath. Kirchenbücher in Nastätten. Nachdem die kath. Gemeinde wieder eine eigene Kirche und einen Geistlichen besaß, wanderten aus anderen Teilen Deutschlands viele Katholiken nach Nastätten ein, darunter auch 1661 Paul Kardenbender mit seiner Familie und noch weitere 5 Familien aus Gangelt und Umgebung aus dem Herzogtum Jülich.

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0.2.Gründe zur Auswanderung

Möglicherweise gab es sogar regelrechte Anwerbungen zur Übersiedlung aus dem Herzogtum Jülich in die Niedergrafschaft Katzenellenbogen, ähnlich denen zwischen dem Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn und der Erzdiözese Lüttich mit den Bergleuten aus Wallonien und Eisenverarbeitern aus dem Maas-Gebiet. Gründe zur Auswanderung gab es viele:

1.) Die Lebensbedingungen in Gangelt und Umgebung waren nach dem 30-jährigen Krieg durch Überfälle kaiserlicher Truppen aus Sittard und Verwüstungen marodierender Soldatenbanden aus der Garnison Roermond unerträglich geworden. Auch nach dem Hes­senkrieg in den Jahren 1642-1644 hörten die Zerstörungen und Brandschatzungen nicht auf. Man fühlte sich äußerst unsicher und war ständig in seiner Existenz ständig bedroht.

2.) In der Niedergrafschaft Katzenellenbogen herrschte dagegen Aufbruchstimmung. Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels-Rotenburg förderte den Wiederaufbau und die Neuansiedlung in seiner zerstörten und entvölkerten Grafschaft mit Landzuteilungen und Steuerbefreiungen sowie Neugründungen von kath. Kirchengemeinden. Das könnte sich herumgesprochen haben.

3.) Auch könnte die Ähnlichkeit der Wirtschaftsstruktur zwischen Gangelt und Nastätten mit ihrer Flachs- und Wollverarbeitung ein Grund gewesen sein, in diese Gegend zu ziehen. Es wurden Fachkräfte mit Spezialkenntnissen zum Wiederaufbau gesucht. Für Paul Kardenbender könnten hierfür seine Kenntnisse des Distelanbaus und der Distelverarbeitung für die sich wieder entwickelnde Wollgarn- und Tuchherstellung infrage gekommen sein.

4.) 1603 wurden alle Lutheraner aus dem Rheingau, die nicht katholisch werden wollten, vom Erzbischof von Mainz vertrieben und ließen sich als Wollweber und Tuchmacher im lutherischen Nastätten nieder. Das spricht für eine große Nachfrage nach Kardendisteln, dem Berufszweig von Paul Kardenbender. 

5.) Möglicherweise zählten auch die landwirtschaftliche Kenntnisse des Distelanbaus und der Weiterverarbeitung der Kardendisteln für die dort vorhandene Wollverarbeitung zu den privilegierten und gesuchten Berufsgruppen wie Zimmerleute, Maurer, Schmiede, Schreiner usw., auf die der Landesherr besonderen Wert zum Wiederaufbau seiner Grafschaft legte.

6.) Es bestanden evtl. auch noch familiäre oder politische Beziehungen zwischen dem Herzogtum Jülich, den Herren von Heinsberg und den Landgrafen von Nassau, die diesen Ortswechsel begünstigten, förderten oder empfohlen haben. Paul Kardenbender wurde nach seiner Übersiedlung in Nastätten als Neubürger sofort „Hofmann“ (Bauer mit einem Gutshof), was man nur mit einer Verbindung zur Obrigkeit erklären kann. Gangelt, Millen und Waldfeucht waren von 1440 bis 1499 im Besitz des Landgrafen Johann IV. und seines Sohns Engelbert II. von Nassau-Dillenburg, der die drei Städte gegen Diest, Sichem, Zeelheim und die Burggrafschaft von Antwerpen an Herzog Wilhelm von Jülich eingetauscht hatte.

7.) Heute noch vorhandene Dispense der Kirchengemeinden oder gar Edikte der Landesfürsten könnten noch in einigen Archiven lagern oder es schlummern irgendwo noch Bestätigungsschreiben der Landesherrn zur Entlassung seiner Untertanen aus der Leibeigenschaft zur Auswanderung.

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Es kann also eine Vielzahl von Möglichkeiten geben, die auf eine Verbindung zwischen diesen beiden Regionen hinweisen, so dass es bei näherer Betrachtung gar nicht mehr so abwegig erscheint, dass die Auswanderer aus Gangelt gerade nach Nastätten kamen. Leider ist die Quellenlage in Nastätten durch vielerlei Umstände außerordentlich dünn, so dass es dort keine konkreten Unterlagen über evtl. bestehende Verbindungen an den Niederrhein gibt. Man ist daher auf Quellen und indirekte Hinweise aus anderen Orten oder Regionen angewiesen oder auf irgendwelche Zufallsfunde zu dieser offensichtlichen Wanderungsbewegung zwischen einer katholischen und einer lutherischen Gegend, die von einem sehr toleranten, katholischen Landesherrn wieder aufgebaut werden musste.

Vielleicht trägt dieser Artikel dazu bei, die damalige Entwicklung zwischen den beiden miteinander verbundenen Gebieten um 1650-1700 wieder ans Tageslicht zu bringen und noch mehr Hinweise und Parallelen aufzuzeigen. Sehr wertvoll wären auch die Kenntnisse konkreter Urkunden, die die eine oder andere These belegen würde. Die geschichtlichen und heimatkundlichen Vereine in Heinsberg und Nastätten sowie in deren Umgebung und auch der Autor würden dies jedenfalls sehr begrüßen.

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Anmerkungen:

  1. Diözesanarchiv Limburg KB Nast. 1, Jahr 1662, Taufen.  Zurück
  2. Diözesanarchiv Limburg KB Nast. 1, Jahr 1661, Taufen.  Zurück
  3. Diözesanarchiv Limburg KB Nast. 5, Bl. 6 r, Jahr 1667, Trauung.  Zurück
  4. Diözesanarchiv Limburg KB Nast. 5, Bl. 8 r, Jahr 1684, Trauung.  Zurück
  5. Diözesanarchiv Limburg KB Nast. 5, Bl. 8 v, Jahr 1688, Trauung.  Zurück