Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) Bischof der Moderne
von Michael Kißener
Der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler gehört mit Sicherheit zu den bekanntesten Bischofsgestalten der Neuzeit. Dies lässt sich im Zeitalter des Internet recht anschaulich belegen. Dort erfährt man neben Biographischem von Ketteler-Seniorenheimen und Ketteler-Schulen, von Berufskollegs, Studentenverbindungen und Ketteler-Sälen, von Ketteler-Krankenhäusern und Ketteler-Wohnungsbaugemeinschaften, ganz zu schweigen von Straßen und Plätzen, die nach ihm benannt sind. Sogar Werbung für Ketteler-Kerzen ist zu finden, von denen der Hersteller behauptet, sie würden heute noch so gefertigt, wie es der Firmengründer dereinst dem Bischof versprochen habe: mit mindestens 10% Bienenwachs nämlich.
Ketteler ist also – neudeutsch formuliert – auch 140 Jahre nach seinem Tod noch "in". Warum ist das so? Die Antwort wird bei vielen der Internet-Anzeigen gleich mitgeliefert: Ketteler – der Demokrat auf dem Bischofsstuhl, Ketteler der Freiheitskämpfer, der "Arbeiterbischof", der Bischof-Politiker, der sich mutig in das Tagesgeschehen einmischte, der Rebell gegen den Papst und dergleichen mehr Bilder und Vorstellungen tauchen da auf.
Ketteler also ein im Alltagsverständnis "moderner" Bischof? Stimmt das eigentlich? War dieser 1811 geborene Bischof wirklich so oder in dem Sinne „modern“, wie es heute gerne gesehen wird, war seine Vorstellungs- und Gedankenwelt so nah an den Problemen unserer Zeit, wenn man ihre Entstehung in der Zeit betrachtet? Diesen Grundgedanken, die auf den Kern des Werkes Kettelers, auf seine eigentliche Bedeutung abzielen, soll hier nachgegangen werden.
Die Frage nach der Gedankenwelt und damit nach der Bedeutung Kettelers findet weitere Berechtigung in dem Umstand, dass die vorzügliche Edition der Briefe und Werke des Bischofs, die lange Jahre durch Erwin Iserloh an der Mainzer Akademie der Wissenschaften durchgeführt worden ist, seit wenigen Jahren abgeschlossen ist und allmählich neue vertiefte Arbeiten zum Denken und Wirken Kettelers hervorruft. Erst kürzlich ist so eine Kieler Dissertation über Kettelers Freiheitsbegriff entstanden, der jüngste Beitrag zur Ketteler-Forschung, von dem später noch die Rede sein wird. Die ohnehin schon reichhaltige wissenschaftliche Literatur zu Ketteler – Christoph Stoll und Bernd Goldmann haben in ihrer Bibliographie 1995 schon über 1.300 Titel gezählt – dürfte damit bald noch um weitere wichtige Arbeiten bereichert werden.
Selbstverständlich muss man sich angesichts einer solchen Literaturlage auch bei dem Versuch, Kettelers Bedeutung, seine Modernität zu ergründen, weiter begrenzen, wenn man den vorgegebenen Rahmen dieses Beitrages nicht sprengen möchte. Es seien daher nur einige der wohl zentralen Aspekte herausgegriffen, die für die Beantwortung der Fragestellung relevant sind. Zunächst soll
von Ketteler und dem Staat die Rede sein, sodann
von Ketteler und der Kirche,
von Ketteler und der Freiheit,
von Ketteler und der sozialen Frage und schließlich
von Ketteler und dem Recht.
I. Ketteler und der Staat
Wilhelm Emmanuel von Ketteler wurde am 25. Dezember 1811 in Münster in Westfalen geboren. Er war das sechste von neun Kindern des Maximilian Friedrich Freiherr von Ketteler (1779–1832) und seiner Ehefrau Franziska Clementine (1778–1844), geborene Freiin von Wenge zu Beck. Diese Herkunft aus einem westfälischen Rittergeschlecht dürfte gewiss keine Nebensächlichkeit für den späteren Mainzer Bischof und sein Verhältnis zur Staatlichkeit gewesen sein. Als Ketteler geboren wurde, war das Alte Reich gerade einmal fünf Jahre erloschen. Seine Eltern waren noch groß geworden in einem jener geistlichen Wahlstaaten, die die nationalstaatlich, liberal orientierte Historiographie des 19. Jahrhunderts als überlebt und "morsch" vorgestellt hat, die, wie man heute aber besser weiß, in sozialer, kultureller und auch wirtschaftlicher Hinsicht durchaus fortschrittlich waren. "Unterm Krummstab ist gut leben", hieß es deshalb damals wohl mit einiger Berechtigung. Das gilt insbesondere auch für das Fürstbistum Münster, wo aufgeklärter Geist unter den Bischöfen des 18. Jahrhunderts eingezogen war, den das den Bischof wählende Domkapitel sogar mit einer Art Verfassung für das Fürstbistum unter Beweis stellen wollte. Für den Nachfolger des 1801 verstorbenen Maximilian Franz von Habsburg (1784–1801) – das sollte Anton Victor von Habsburg sein – ließ man auf der Grundlage der älteren Wahlverträge, der sogenannten „Wahlkapitulationen“, eine regelrechte "Konstitution" durch den Rechtsprofessor Anton Matthias Sprickmann ausarbeiten. Sprickmanns Vorschlag war darauf hinausgelaufen, im modernen Sinne das Wohl aller Bürger zu befördern und Machtmissbrauch der Fürsten zu verhindern. Dazu war es dann wegen der Säkularisation der Fürstbistümer des Alten Reichs nicht gekommen, aber dies zeigt doch sehr anschaulich, wie relativ offen und liberal die führenden Schichten und insbesondere die Ritterschaft im Domkapitel eingestellt gewesen waren. Das hat übrigens auch kein Geringerer als der Freiherr vom Stein dem Münsteraner Adel attestiert. Nun aber hatte der Reichsdeputationshauptschluss das Fürstbistum säkularisiert, und zwar, obwohl einer der Domherren, Freiherr Matthias von Ketteler, nach dem Frieden von Lunéville noch versucht hatte, das Fürstbistum mit einer nach Wien gesandten Denkschrift zu erhalten. Preußen hatte die Herrschaft übernommen. Das war für den westfälischen Adel, dessen Selbständigkeit unter der Herrschaft der Fürstbischöfe nie angetastet worden war, eine echte Katastrophe gewesen, gegen die sich die Münsteraner Ritterschaft, und unter diesen auch der Großvater Kettelers, 1804 zu wehren beschloss. Trotzig wollte man Eigentum und Verfassung auch gegen die neuen Zeitverhältnisse bewahren. Dabei darf man sich übrigens Eigentum nicht als Reichtum vorstellen: der Münsteraner Adel lebte zumeist bescheiden und genügsam, eine Eigenschaft, die auch den späteren Mainzer Bischof auszeichnete.
Diese Herkunft, diesen familiären Hintergrund, wird man wohl immer berücksichtigen müssen, wenn man Ketteler richtig verstehen will. Die relative Freiheitlichkeit und Unabhängigkeit unter den Bedingungen der alten geistlichen Wahlstaaten, die auf einen festen Glauben und das alte Herkommen gegründete Staatlichkeit und öffentliche Sittlichkeit, die sich ihrer Verantwortung, auch ihrer sozialen Verantwortung bewusst blieb, stellten für Ketteler immer gleichsam einen Idealtypus von Staat dar.
Demgegenüber waren der preußische Staat und der Absolutismus als Staatsform genau das zu vermeidende Negativbild. Nicht nur weil Preußen in Münster als der Liquidator dieses jahrhundertealten, funktionierenden patriarchalischen Systems auftrat. Vor allem hielt Ketteler den preußischen Absolutismus eines Friedrichs II. für den Inbegriff der Unfreiheit und der Despotie, der überhaupt erst die Revolution erzeugt habe: "Damals unter den Monarchen des 17. und 18. Jahrhunderts, wurde die moderne Staatsidee in dem Sinne einer schrankenlosen Machtfülle entwickelt und nirgends vollständiger als in Preußen. In dieser Staatsidee wurzeln alle Revolutionen ...",[Anm. 1] meinte er.
Diese Zurückweisung der absoluten Monarchie bedeutete allerdings keine Hinwendung zur Demokratie, obwohl sich Ketteler zwei Mal als Abgeordneter in ein Parlament wählen ließ: in die Paulskirchenversammlung 1848 und dann 1871 in den Reichstag. Ketteler hat nie die Demokratie als die zu bevorzugende Staatsform angesehen, allenfalls gelegentlich eine gemäßigte konstitutionelle Monarchie als die für die Zeitverhältnisse wohl beste Alternative bezeichnet. Aber im Grunde war ihm die Staatsform unwichtig, solange der Staat auf dem Christentum ruhte und Freiheit garantierte.
So kann es auch nicht verwundern, dass Ketteler, geprägt durch das Staatsverständnis des Alten Reiches, der aufkeimende Nationalismus im 19. Jahrhundert weit weniger bedeutete als vielen seiner Zeitgenossen. 1862 wandte er sich einmal in aller Klarheit gegen jenen "falsche[n] Nationalhochmuth, jene bornierte Deutschtümelei, die mit Verachtung auf die romanischen Völker herabblickt, deren Vorzüge und Leistungen sie verkennt, wie sie auch keine Ahnung davon hat, dass unsere ganze abendländische Kultur und Geschichte wie auf dem Christenthume, so auf der gegenseitigen Berührung und Durchdringung germanischer und romanischer Elemente beruht".[Anm. 2] Als 1870/71 der Krieg gegen Frankreich geführt wurde, da hat er keine Sekunde gezögert, sich auch um die seelsorgliche Betreuung der französischen Soldaten zu kümmern.
Bei aller Skepsis gegenüber dem Staat der Moderne und Preußen insbesondere blieben die Kettelers allerdings immer Realisten und suchten das Beste aus einer gegebenen Situation zu machen: Kettelers Vater wurde preußischer Landrat im Kreis Warendorf, der junge Wilhelm besuchte die Münsteraner Lateinschule und bekam Unterricht von einem Hauslehrer. Als der schnell aufbrausende, nicht leicht zu erziehende Jüngling nicht in den Griff zu bekommen war, schickte man ihn auf ein Jesuiten-Internat im schweizerischen Brig. Mit seiner Glaubensfestigkeit war es in dieser Zeit übrigens wohl nicht sonderlich gut bestellt. Jugendlicher Übermut führte dann auch beim Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen zu einem nicht eben rühmlichen Vorfall: wegen einer Lappalie – ein „unverschämter“ Kerl war ihm auf den Fuß getreten – duellierte er sich und verlor dabei die Nasenspitze.
Nach mehrfachen Universitätswechseln trat Ketteler schließlich in den preußischen Staatsdienst ein und wurde 1833 Gerichtsreferendar. 1835 absolvierte er seinen Dienst in einem preußischen Husarenregiment, um dann wieder am Oberlandesgericht tätig zu werden.
Und hier, im preußischen Justizdienst, geschah 1837 die entscheidende Wendung. Der erste, unter dem Namen "Kölner Ereignis" in die Geschichtsbücher eingegangene große Konflikt zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat, veränderte seine Einstellung grundlegend. Das war vielleicht nicht eigentlich ein "Damaskus-Erlebnis", wie Kettelers liberaler Biograph Fritz Vigener 1924 meinte,[Anm. 3] weil ja vieles schon vorgeprägt war und der ererbte westfälische Adelsstolz sein Übriges tat. Aber eine tiefgreifende Zäsur war es schon, weil Ketteler seinem Leben nun eine religiöse Wendung gab und weil Kategorien wirkmächtig wurden, die fortan sein Leben gestaltend prägen sollten. Das wird doch völlig deutlich durch jenen Brief, in dem er seinem Bruder Wilderich das Ausscheiden aus dem preußischen Dienst zu erklären versuchte:[Anm. 4] Einem Staat, der im Streit um die Mischehenfrage den Kölner Erzbischof Droste-Vischering in Festungshaft zwang, "einem Staat, der die Aufopferung meines schon so oft verrathenen Gewissens fordert", glaubte er fortan nicht mehr dienen zu können. Gewissen – eine Kategorie, von der wir noch häufiger bei Ketteler hören werden. Und wichtig auch zu bemerken: diese Entscheidung war eine kirchlich motivierte Entscheidung, eine Entscheidung für die Kirche, in jeder Hinsicht.
II. Ketteler und die Kirche
Der 27jährige musste also noch einmal von vorne anfangen. Drei Jahre dauerte es, bis er sich über seine eigene Zukunft im Klaren war und der Entschluss fiel, den geistlichen Stand anzustreben. In dieser Zeit hielt er sich u.a. in München auf, wo ihn der Erzbischof und Kurienkardinal Karl August von Reisach beeindruckte, vor allem aber auch Joseph Görres und sein Kreis sein Denken beeinflusste. Seit 1827 hatte der rheinische Katholik Görres "Allgemeine und Litterärgeschichte" an der Universität München gelehrt und stand gerade zu jener Zeit im Zentrum einer sich sammelnden katholischen Freiheitsbewegung. Er propagierte einen kämpferischen Katholizismus, grenzte sich von der preußischen Kulturpolitik ab und forderte die Eigenständigkeit von Staat und Kirche. Auch Ignaz Döllinger gehörte diesem Kreis an: durch ihn übernahm Ketteler höchstwahrscheinlich das von Johann Adam Möhler gelehrte organische Kirchenverständnis. Denn wenige Jahre später sprach Ketteler davon, die Kirche sei eine "Anstalt zur Erlösung und Beseligung der Menschen".[Anm. 5] "Ich liebe die katholische Kirche", so der Bischof weiter, "weil ich in ihr Christus liebe. Er ist in der Kirche alles in allem".[Anm. 6] Dieses Kirchenverständnis wurde getragen von einer tiefen Frömmigkeit, gehärtet durch die Zeiterfahrung, wie Elmar Fastenrath bereits 1971 in einer großen Studie über Kettelers Ekklesiologie festgestellt hat.
Dass die Kirche im Denken Kettelers fortan eine so zentrale Stellung einnehmen sollte, hatte weitreichende Konsequenzen. Zum einen findet sich in allem, was Ketteler fortan dachte und tat, immer auch direkt oder indirekt jener Vorrang der Kirche wieder, jenes prae, das er ihr einräumte. Sein Kampf um die Freiheit z.B. war, wie Karsten Petersen in seiner Kieler Dissertation gezeigt hat, vor allem und in erster Linie ein Kampf nicht um individuelle Freiheit, sondern ein Kampf immer auch für die Freiheit der Kirche.
Zum zweiten führte Kettelers korporatives in Christus eingebettetes Kirchenverständnis zu einer innerkirchlichen Ordnungsvorstellung, die den Papst mit großer Macht ausgestattet, Vorrang und höchsten Respekt genießend, aber doch auch als primus inter pares ansah. Deshalb waren Konzilien für ihn wichtige Elemente einer lebendigen, organisch gedachten Kirche und damit weit mehr als bloße Bischofsversammlungen oder Akklamationsinstrumente. Er wünschte sich das Konzil als Ausdruck eines lebendigen Miteinanders zwischen Papst und Klerus, durch das erst einmütig der richtige Weg der Kirche und die Wahrheit der Glaubensverkündigung möglich sei. Hier liegt wohl auch der tiefere Grund für seine spätere Ablehnung des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas auf dem I. Vaticanum, wo er sogar als Führer einer Minderheitsfraktion auftrat. Das bedeutete keineswegs eine Verwerfung der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen, nur die Form des Dogmas mit seinen weitreichenden Konsequenzen, dann der Zeitpunkt einer solchen Verkündigung mit seinen absehbar äußerst negativen politischen Konsequenzen und die Form des Zustandekommens dieser Dogmenverkündigung waren in seinen Augen eben falsch. In den im März 1870 eingereichten Animadversiones etwa heißt es: "Ich selbst betrachte die Lehre von der Infallibilität des Papstes, wenn er ex cathedra redet, als die sententia, welche von den meisten Autoren eingenommen wird. Ich betrachte diese Ansicht als die Norm meines Lebens und meines Gewissens. ... Etwas anderes aber ist es, ob ich oder ein anderer Bischof das Recht haben, diese Lehre anderen, ja der ganzen Christenheit, als Dogma unter der Strafe der Ausschließung von der Kirche aufzulegen" (SWB I,3, S. 509). Seinen in dieser Frage ganz anders eingestellten Generalvikar wie auch das strikt ultramontane Domkapitel ließ er wissen, die das Dogma bejahenden Argumente gehen "in meinen Kopf nicht rein. Ich bedauere, keinen andern zu haben. Aber gegen das, was ich für wahr halte, kann ich nicht handeln." Als er sich nicht durchsetzen konnte, verließ er das Konzil, um nicht mitstimmen zu müssen, wurde aber nicht zum Gegner des Papstes, wie es manche in Deutschland erwartet hatten, sondern unterwarf sich demütig jenem Papst, den er im übrigen tief verehrte. Sein Generalvikar traf wohl das Richtige, wenn er formulierte, Kettelers innigster Wunsch sei es immer gewesen, "ein katholischer Bischof nach den Vorschriften und dem Geist der Kirche zu sein. Sich ganz der Kirche zu konformieren, das war die Richtschnur all seiner Handlungen." Dieses Urteil ist übrigens auch deshalb bemerkenswert, weil Ketteler nicht nur in der Sache häufig anderer Auffassung war als sein Domkapitel, sondern auch wegen seines nicht selten heftigen, leicht erregbaren Charakters und gelegentlich sogar autoritären und andere verletzenden Führungsstils.
Und schließlich wäre noch ein Drittes zu nennen, das sich aus Kettelers in München gebildetem Kirchenverständnis ableitete: ein durchaus politisch geprägtes Verständnis vom Kirchenamt. Ketteler war ein Kirchenmann, der nicht darauf verzichten wollte, seine politischen Ansichten zu äußern, jedenfalls soweit es kirchliche Angelegenheiten betraf. Und das konnte im Zweifelsfall sehr weit sein. Anlässlich des 25jährigen Amtsjubiläums des Freiburger Erzbischofs Vicari äußerte er 1868 z.B. einmal: "Im tiefsten Grunde aller Zeitfragen ist die Religion; jede Frage, welche der Menschengeist stellen kann, wird zuletzt, wenn man sie bis zu ihrem Ende verfolgt, eine religiöse Frage".[Anm. 7] Das bedeutete nichts weniger als ein mutiges "Zeugnis-Geben" in der Welt, ein Bekenntnis christlicher Glaubensüberzeugungen auch in aktuellen, politischen Fragen, selbst wenn das den Regierenden oder anderen Mitchristen unbequem war. Eben deshalb erfuhr Ketteler insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus im katholischen Milieu und ganz besonders in der Katholischen Arbeiterbewegung eine regelrechte Renaissance. Indem man z.B. anlässlich des reichlich irregulären 57. Todestages im Jahre 1934 eine große Ketteler-Fahrt mit Sonderzügen nach Mainz organisierte und feierlich im Dom einen Ketteler-Leuchter mit der Aufschrift "Selig, wen hungert und dürstet nach Gerechtigkeit" aufstellte, just während Hitler im Radio die Morde an Röhm u.a. rechtfertigte, demonstrierten tausende von katholischen Arbeitern damit ihre Zurückweisung des menschenverachtenden Regimes.
Kettelers Ansichten über Kirche und Glauben wurden während des Studiums der Theologie in Eichstätt und München weiter gefestigt. 1843 trat er in das Münsteraner Priesterseminar ein, 1844 empfing er die Priesterweihe, um anschließend in Beckum, dann im westfälischen Hopsten als Pfarrer tätig zu werden. Was er hier an Armut und Not auf dem Land zu sehen bekam, schärfte sein soziales Bewusstsein. Unermüdlich warb er um Hilfe, auch bei seiner adeligen Verwandtschaft.
III. Ketteler und die Freiheit
In dieser Situation erlebte Ketteler die Revolution von 1848, und er reagierte darauf in einer Weise, die nach dem Gesagten nicht mehr überraschen dürfte. Auf Anraten seines Beichtvaters entschloss er sich, für einen Sitz in der Frankfurter Paulskirchenversammlung zu kandidieren. "Den Sturz und Tod des jammervollen Polizeistaates" der Restaurationsepoche begrüßte er in einem offenen Schreiben an seine Wähler natürlich "mit der rückhaltlosesten Freude" (SWB II, 1, S. 332). Er gewann die Abstimmung im Wahlkreis gegen einen Burschenschaftler und Demokraten und reiste begeistert nach Frankfurt, liebäugelte die ersten drei Tage sogar mit der radikalen Linken, bevor er seinen Platz im katholischen Lager fand. Dieser Wechsel war motiviert durch eine rasche Erkenntnis der Freiheitsauffassungen der verschiedenen politischen Gruppierungen in der Paulskirche. Ketteler bekannte nämlich, er habe es bei der Linken "nicht länger aushalten können als drei Tage; denn diese Linke will die möglich größte Freiheit für sich und für die anderen die möglichst größte Sklaverei, wo ich jene für alle wünsche".[Anm. 8] Unter Freiheit verstand Ketteler einen Zustand, in dem der Mensch "so weit er für sich selbst sorgen kann und nicht in die Rechte Anderer verletzend eingreift, die freieste Selbstbestimmung nach eigener Wahl genieße, dass er also seine eigenen Angelegenheiten auch selbst zu verwalten befugt sei. Diese Freiheit wird daher auch ganz passend mit dem Worte Selbstverwaltung bezeichnet".[Anm. 9] Dieser Freiheitsbegriff grenzte sich deutlich zu den Staatsvorstellungen konservativ-absolutistischer Prägung ab, aber auch gegenüber dem in der Paulskirche so stark vertretenen Liberalismus. Denn für Ketteler blieb Freiheit immer beschränkt durch das göttliche Gesetz und das Recht anderer. Nach Petersen, dessen Arbeit zu neuem Nachdenken über den Freiheitsbegriff Kettelers anregen wird, ist Kettelers Freiheitsverständnis zudem korporativ gebunden, gleichsam nur in altständischen Kategorien zu verstehen. 1854 nämlich hielt Ketteler in einer Notiz ganz in diesem Sinne fest: "Die ständische Vertretung ist ... der wahren Freiheit dienlicher als die repräsentative. Dort wahrt jeder Stand seine Freiheit, hier entscheiden Alle über Alles" (SWB II,6, S. 975). Auf jeden Fall hielt er "eine gesetzliche Garantie schrankenloser Freiheit für den einzelnen" für eine "Rechtloserklärung aller".[Anm. 10]
Eben deshalb geriet er schon in Frankfurt in Konflikt mit den Vertretern des Liberalismus. Zunächst fiel Ketteler noch kaum auf: Er saß auf Platz 530, ziemlich hinten, beteiligte sich an Abstimmungen und Sitzungen eifrig, setzte sich für föderale Strukturen ein und versuchte erfolglos den "katholischen Club" zur Gründung einer regelrechten politischen Partei zu überreden. Dann jedoch kamen Unruhen im Gefolge des Preußisch-Dänischen Waffenstillstandes von Malmö (26. August 1848) um Schleswig-Holstein auf, den die Volksvertreter der Paulskirche in ihrer Ohnmacht nur akzeptieren konnten. Dabei wurden zwei Abgeordnete, General Hans von Auerswald und Felix von Lichnowsky, ermordet. Ketteler hielt die Leichenrede für Lichnowsky und wurde dadurch schlagartig bekannt. Ketteler klagte an: jene, die die Vergangenheit pauschal verdammten, jene die dem Volk die Religion nehmen wollten und die Revolution zum Prinzip machten. Er klagte den schrankenlosen Freiheitsbegriff des Liberalismus an, den er letztlich für diese Vorfälle verantwortlich machte: "Ich höre den Ruf nach Freiheit, und ich sehe da Menschen gemordet, die es gewagt haben, ein freies Wort zu sprechen".[Anm. 11] Während der Radikale Robert Blum vor Wut gezittert haben soll, war August Reichensperger, der spätere Mitbegründer der Zentrumspartei, begeistert. Kettelers Rede sei "markerschütternd, gewaltig" gewesen, meinte er.
Ketteler wurde nun bekannt, auch in Mainz. Vom 3. bis 6. Oktober 1848 tagte hier die Erste Versammlung der katholischen Vereine Deutschlands, zu der sich am 4. Oktober eine Delegation der Paulskirchenabgeordneten im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses einfand. Unter den Abgeordneten war auch Ketteler. "Eine würdevolle, imponierende Erscheinung, der Pfarrer von Hopsten ..., Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, mit scharf geschnittenem Gesichte", so beschrieb ein Parlamentskollege seinen Auftritt in Mainz.[Anm. 12] Ketteler wurde gebeten, eine Stehgreifrede zu halten und sprach über die Freiheit der Kirche und die soziale Frage. "Aber wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion"[Anm. 13] – in dieser Erkenntnis gipfelten seine Ausführungen und dafür bekam er stürmischen Beifall. Nun sollte er auch die Adventspredigten in Mainz halten und ging bereitwillig auf das Angebot ein.
IV. Ketteler und die soziale Frage
Am 19. November predigte er in St. Peter, ab dem 3. Dezember noch fünf Mal im Dom und behandelte dabei ein Thema, das so bislang kaum von der Kanzel einer katholischen Kirche angesprochen worden war: die großen sozialen Fragen der Gegenwart. "Wollen wir die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, erkennt die Gegenwart, wer sie nicht begreift, dem ist die Gegenwart und Zukunft ein Rätsel" (Stoll, S. 8). Wie die im Zuge der Industrialisierung sich verschärfende soziale Frage zu lösen wäre, darauf hat Ketteler im Laufe der Zeit unterschiedliche Antworten gegeben. Anfänglich predigte er eine Gesinnungsänderung der Menschen auf der Grundlage des christlichen Glaubens. Der Besitzende verfüge über Eigentum nur aus der Gnade Gottes und sei mithin verpflichtet, seinem leidenden Nächsten zu helfen. Deutlich wird auch hier seine Orientierung an der alten ständischen Ordnung, wenn er formulierte: "Solange das Christentum die Menschen trug, ihren Willen zum Guten stärkte ... [war] eine solche Trennung zwischen Arm und Reich undenkbar".[Anm. 14] Später jedoch hat Ketteler angesichts der Dimensionen dieses Problems Lösungen auf gesellschaftlich-politischer Ebene gesucht und sich z.T. Konzeptionen genähert, die auch der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle vertrat. Wie Lassalle forderte er schließlich staatliche Hilfe und die Vereinigung der Arbeiter in Produktivgenossenschaften. Das 1864 erschienene Buch "Die Arbeiterfrage und das Christentum", in dem Ketteler die Arbeiterfrage als "Arbeiterernährungsfrage" bezeichnete und die Schaffung humaner und gesunder Arbeitsbedingungen forderte, legt von solchen Ideen Zeugnis ab. 1865 lässt sich dann ein weiterer Schritt erkennen. Nun war er der Auffassung: "Auch Religion und Sittlichkeit reichen nicht aus, um die Arbeiterfrage zu lösen. Gewiß, der Staat muß mithelfen, die Kirche muß helfen – alles muß die Hand reichen, den Stand vor dem Verderben zu schützen."[Anm. 15]
Dennoch war Ketteler kein Sozialist, vielmehr sah er den Sozialismus letztlich als konsequente Fortsetzung des Liberalismus: "Mache ich Ernst mit den Principien des Liberalismus, so komme ich consequenter Weise zum Socialismus", war seine Meinung.[Anm. 16] Wie der Liberalismus lehne auch der Sozialismus jede göttliche Dimension ab, wie der Liberalismus fordere auch der Sozialismus die Freiheit und die Selbstbestimmung des Volkes. Da aber, wo der Liberalismus Freiheit und Gleichheit im Hinblick auf den Besitz versage, gehe der Sozialismus konsequent weiter und fordere auch das: "Schon steht wieder jener ungerathene Sohn [d.i. der Sozialismus] hinter ihm [d.i. der Liberalismus] und treibt ihn weiter auf der betretenen abschüssigen Bahn. Freilich, ruft er ihm zu, Alles durch das Volk! – vortrefflich, aber nicht ihr, sondern wir sind die Vertreter des Volkes. Ihr vertretet die 10 Procent der Besitzenden, wir vertreten die 90 Procent der Arbeiter".[Anm. 17]
Umgekehrt betrachtete man übrigens Kettelers Ansichten als äußerst unangenehme "Konkurrenz". Im Marx-Engels-Briefwechsel findet sich für das Jahr 1869 z.B. ein Schreiben von Karl Marx, in dem es hieß, dass "energisch, speziell in den katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muß. Ich werde in diesem Sinne durch die Internationale wirken, die Hunde kokettieren (z.B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongreß [gemeint ist der Katholikentag 1869] usw.), wo es passend erscheint, mit der Arbeiterfrage".[Anm. 18]
Kettelers Mainzer Adventspredigten sollten so etwas wie eine Eintrittskarte in das Mainzer Bischofsamt werden. Enttäuscht von den Beratungen des Paulskirchenparlaments, kehrte er 1849 auf seine Pfarrstelle nach Hopsten zurück. Befreundete Paulskirchenparlamentarier betrieben aber sehr bald seine Berufung zum Probst von Berlin und Fürstbischöflichen Legaten für die Mark Brandenburg und Pommern. Das war so ziemlich das wichtigste katholische Amt in der preußisch-protestantischen Diaspora. Ketteler nahm es Ende August 1849 an. Hier nun bewies er in kürzester Zeit seine Tatkraft: Er bereiste sofort den ausgedehnten Delegaturbezirk und machte sich ein persönliches Bild von den Sorgen und Nöten der Menschen, er leitete die Erweiterung des St. Hedwigs-Krankenhauses in Berlin ein, initiierte im Juni 1850 wieder eine katholische Fronleichnamsprozession in Berlin, die es dort seit Menschengedenken nicht mehr gegeben hatte, und kümmerte sich auch um die Konversionsabsichten renommierter Persönlichkeiten. Auch das empfahl ihn in kürzester Zeit für ein noch höheres kirchliches Amt.
Dass er dieses in Mainz erlangte, war das Ergebnis eines Streites im Mainzer Domkapitel, auf den hier nicht näher einzugehen ist, der ihn jedenfalls am Ende als eine Art Kompromisskandidat ins Amt brachte. Am 15. März 1850 wurde er vom Papst ernannt, am 25. Juli 1850 zum Bischof geweiht, ohne viel Aufwand und Kosten für die Diözese, wie er es gewünscht hatte.
Als Bischof in Mainz hat er dann jedenfalls auch das ihm Mögliche unternommen, um den Schwachen in der Gesellschaft beizustehen. Davon zeugt ein weitreichendes karitatives Werk, das ich hier nur andeuten kann: 1851 schon wurde die Kongregation der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung in Finthen gegründet, die als Lehrerinnen und Krankenschwestern fungierten, Waisenhäuser wurden eingerichtet, die 1852 gerufenen Marienbrüder widmeten sich dem Schulunterricht im heute noch bestehenden Willigis-Gymnasium in Mainz und die Frauen vom Guten Hirten eröffneten 1853 ein Haus für gefährdete Mädchen. Den Gesellenverein Adolf Kolpings, zu dem er enge Beziehungen unterhielt, unterstützte er durch Hilfen für den Bau eines eigenen Hauses in Mainz. Zahlreiche weitere Beispiele dieser Art ließen sich anführen.
Den Höhepunkt seines Engagements in der sozialen Frage mag man in seiner Ansprache vor 10.000 Arbeitern auf der Liebfrauenheide bei Offenbach am 25. Juli 1869 sehen, die gerne als "Magna Charta der christlichen Arbeiterbewegung" bezeichnet wird. Hier forderte er die Erhöhung des Arbeitslohns, Verkürzung der Arbeitszeiten, die Gewährleistung der Sonntagsruhe und vor allem auch das Verbot der Kinderarbeit in den Fabriken. Junge Mädchen und schwangere Frauen sollten Schutz genießen und ebenfalls nicht arbeiten. Ein Dreiklang der Maßnahmen – staatliche Sozialpolitik, Selbsthilfe der Arbeiter durch Gewerkschaften und kirchliche Caritas – sollten die Arbeiterfrage nun lösen. Er war es schließlich, der durch ein Referat über die „Fürsorge der Kirche für die Fabrikarbeiter“ erreichte, dass sich die Fuldaer Bischofskonferenz 1869 erstmals mit diesem Thema befasste. Papst Leo XIII., der Papst der Sozialenzyklika "Rerum novarum", hat Ketteler später sogar als seinen "großen Vorgänger" bezeichnet.
V. Ketteler und das Recht
Vielleicht wäre Ketteler in seiner Entschiedenheit für die Arbeiterschaft noch weiter gegangen, hätte ihn schließlich nicht der Kampf um das Recht, insbesondere das Recht der Kirche ganz gebunden.
Das Amt, das er in Mainz antrat, war alles andere als leicht: Der Streit im Vorfeld seiner Wahl hatte ja schon angedeutet, dass der Klerus keineswegs geeint war, dass vielmehr die Mainzer Diözese, wie der Kölner Erzbischof Geissel meinte, "tief herunter" gekommen war. So musste Ketteler für eine neue Geschlossenheit sorgen, um den Herausforderungen der neuen Zeit überhaupt gewachsen zu sein. Hier hinderten ihn aber die staatskirchlichen Gesetze, die im mehrheitlich evangelischen Großherzogtum Hessen-Darmstadt – mit dessen Grenzen stimmte die Diözese seit der Neuumschreibung des Bistums 1821 so ziemlich überein – 1830 erlassen worden waren. Nicht einmal die Klerikerausbildung hatte er wirklich in seiner Hand, sie fand in Gießen, der Landesuniversität, statt. Hier setzte Ketteler sofort an und zog die wissenschaftliche Ausbildung des Klerus wieder an das Mainzer Priesterseminar, das er zur theologischen Hochschule und Ausbildungsstätte ausbaute. Das war formal gegen das geltende Gesetz, aber Ketteler hatte schon bei seinem Amtseid, den er vor dem Großherzog von Hessen-Darmstadt, Ludwig III., zu leisten gehabt hatte, Vorbehalte angemeldet: seine Treue gegenüber der weltlichen Macht könne nur so weit reichen, wie das Recht und die Freiheit der Kirche das zuließen. Ketteler schuf mutig Tatsachen, behauptete die Rechte der Kirche gegen eine in seinen Augen ungerechte staatskirchenrechtliche Gesetzgebung. Und das nicht nur in Hessen, sondern auch in der gesamten oberrheinischen Kirchenprovinz, wo er an der Seite des Freiburger Erzbischofs Vicari sich als Führungspersönlichkeit im Kampf um mehr Freiheiten für die Kirche allmählich profilierte.
In Hessen jedenfalls hatte er mit seinem Kurs Erfolg, denn der konservative "Ministerpräsident" (1851 Außen- und Innenminister, 1852 Leiter des Gesamtministeriums) Reinhard Freiherr v. Dalwigk zu Lichtenfels (1802-1880) kam ihm entgegen, weil er in der Reaktionszeit nach der Revolution das Bündnis mit der Kirche suchte, die ihm bei der Befriedung der Bevölkerung helfen sollte. Am Ende aller Bemühungen stand die „Vorläufige Übereinkunft zwischen der Großherzoglichen Regierung und dem Bischof von Mainz in betreff der Regelung der Verhältnisse des Staates zur katholischen Kirche“, die am 23. August 1854 geschlossen und 1856 nach Einwendungen der Kurie überarbeitet wurde. Sie stellte keineswegs jenen Idealzustand dar, den Ketteler immer in den Kirchenartikeln der preußischen Verfassung von 1850 erblickte, und deshalb ist er auch von seinen Kollegen im Bischofsamt heftig kritisiert worden. Vergleicht man aber Kettelers Vorgehen, das dem Bistum immerhin rund 20 Jahre ein erträgliches Auskommen mit der Regierung ermöglichte, mit dem starren Festhalten an Maximalforderungen etwa in Baden, wo es schon 1852/54 zu einem ersten scharfen Kirchenkampf kam, so zeigt sich die Überlegenheit des flexiblen, aber nicht minder prinzipientreuen Vorgehens Kettelers.
Die Lösung aus den staatskirchenrechtlichen Bindungen war allerdings für das Bistum Mainz nur vorübergehend. Denn als der konservative Ministerpräsident Dalwigk im April 1872 aus dem Amt gedrängt und durch den überzeugten Liberalen Karl von Hofmann ersetzt worden war, setzte im Gefolge des seit 1871 begonnenen Reichskulturkampfes auch in Hessen ein restriktives Zurückschrauben kirchlicher Ansprüche ein. Ketteler, der gehofft hatte, die aus seiner Sicht günstigen Kirchenartikel der preußischen Verfassung in die neue Reichsverfassung überführen zu können, und sich deshalb in den ersten Reichstag 1871 wählen ließ, sah sich getäuscht. Mehr noch: was er stets befürchtet, aber wohl kaum für möglich gehalten hatte, setzte nun ein: Die preußischen Maigesetze von 1873, die die Kirche gleichsam unter staatliche Zwangsaufsicht stellten, wurden auch in Hessen eingeführt und umgesetzt. Die Freiheit der Klerikerausbildung wurde damit ebenso unterbunden wie die Verfügung über das Vermögen der Kirche, der Einfluss der Kirche auf die Schule wurde radikal verkürzt und die Ordensgeistlichen vertrieben. Am Ende saßen die meisten deutschen Bischöfe und Hunderte von Geistlichen im Gefängnis, waren Diözesen und Pfarreien verwaist und die Seelsorge vielerorten unmöglich gemacht. Ketteler wehrte sich mit offenem Wort und musste dafür Geldstrafen hinnehmen. Erst Ende der 1870er Jahre sah Bismarck die Unzweckmäßigkeit dieses Kampfes mit der Kirche ein und schraubte allmählich die Kirchenkampfgesetzgebung zurück.
Das jedoch erlebte Ketteler, der 1877 zum Goldenen Bischofsjubiläum des Papstes nach Rom gereist war, nicht mehr. Auf der strapaziösen Rückreise zog er sich vermutlich eine Art Lungenentzündung zu und verstarb völlig unerwartet am 13. Juli 1877 im Kapuzinerkloster zu Burghausen in Oberbayern. Die Begräbnisfeierlichkeiten in Mainz wurden zu einer großen Sympathie- und Treuekundgebung für den hochgeschätzten, schon damals von vielen Menschen verehrten großen Mainzer Bischof.
Resümée
Nehmen wir am Ende der notwendig gerafften Darstellung der Biographie und Gedankenwelt Kettelers die Anfangsfrage wieder auf, so lässt sich wohl festhalten, dass er unter Berücksichtigung seines Staats- und Kirchenverständnisses wohl kaum als Demokrat oder Rebell in Anspruch genommen werden kann. Kettelers Haltung erschließt sich am besten durch seine Abgrenzung sowohl gegen Absolutismus und jede Form von Despotie als auch gegen schrankenlose Freiheitspostulate, wie sie Liberale oder Demokraten oder Sozialisten seiner Meinung nach vertraten. Eine besondere Bevorzugung bestimmter Staatsformen lässt sich nicht feststellen, allenfalls gibt es gute Gründe, ihn in der altständischen Vorstellungswelt, in den Denkkategorien, wie sie in einem Fürstbistum etwa Münsterscher Prägung gängig waren, noch verhaftet zu sehen. Und auch innerkirchlich wird man ihn nicht einfach als Kämpfer gegen die päpstliche Allmacht ansehen können, selbst wenn er das Unfehlbarkeitsdogma von 1871 aus verschiedenen Gründen für falsch hielt. An seiner Unterordnung unter den Papst wie übrigens auch einer großen Sympathie, wenn nicht Verehrung für Pius IX. bestehen keine Zweifel. In all diesen Hinsichten war Ketteler also reichlich "unmodern".
Etwas anders sieht es aus, wenn man Kettelers Auseinandersetzung mit den großen Fragen der Zeit, den großen Fragen des 19. Jahrhunderts überhaupt analysiert. Hier gilt es sehr differenziert zu urteilen. Intensiv stritt er mit dem Liberalismus um den rechten, angemessenen Freiheitsbegriff und kam dabei zu weit mehr als einem einfachen individualistischen Freiheitspostulat. Freiheit dachte Ketteler vorrangig korporativ, als Freiheit der Kirche vor dem staatlichen Zugriff. Ketteler als liberalen Freiheitskämpfer seiner Zeit zu sehen, wäre also ein verkürztes und mithin nur halb richtiges Verständnis. Sehr genau sah Ketteler vielleicht gerade deshalb die Not der Arbeiter als Stand. Er stellte sich zu einer Zeit auf deren Seite, als das noch keineswegs gängige Praxis der Kirchenführer war, wenngleich man auch nicht behaupten kann, Ketteler sei der erste katholische Bischof gewesen, der sich mit den sozialen Fragen der Moderne beschäftigt habe. Hier war sein Blick ganz modern, während seine Lösungsvorschläge zur Behebung des Problems – wie könnte es wohl auch anders sein – sich erst langsam entwickelten. Vielleicht kommt man Ketteler und seinem Denken deshalb am nächsten, wenn man ihn als einen Bischof sieht, der mit beiden Beinen "in der Moderne" stand, als einen wahrhaften Bischof in der Moderne, der sich wie zu dieser Zeit kaum ein anderer in Deutschland intensiv mit den brennenden Fragen und Problemen seiner Zeit auseinandersetzte und zu profunden Antworten der Kirche ganz Wesentliches beigetragen hat.
Schließlich scheint mir in mindestens einer Hinsicht Ketteler allerdings auch ein ganz außerordentlich "moderner" Bischof gewesen zu sein: in der glasklaren Erkenntnis nämlich der weitreichenden, zerstörerischen Gefahren, die die Moderne für die sich neu formierende Gesellschaft bereithielt. Das zeigt die Geschichte des Kulturkampfes sehr deutlich, mit dessen frühester, badischer Variante sich Ketteler als Vertreter des greisen Metropolitanbischofs Vicari in Freiburg schon vor dem Reichskulturkampf beschäftigen musste. In Baden hatte man bereits in den 1850er und 60er Jahren begonnen, den Einfluss der Kirche aus den Schulen herauszudrängen, indem man schließlich die Geistlichen per Gesetz zum Eintritt in einen staatlichen Oberschulrat zwang, damit so dem Staate die unumschränkte Aufsicht und Einwirkung auf das Schulwesen ermöglicht werde. Als es dabei zu Konflikten kam und Strafmaßnahmen gegen Geistliche ventiliert wurden, antwortete der liberale Staatsminister August Lamey in der II. Badischen Kammer am 9. Dezember 1865 seinen Kritikern, dass sich nun niemand in dieser Sache mehr auf sein Gewissen berufen könne. Ein durch die in Freiheit gewählte Volksvertretung rechtmäßig zustande gebrachtes Gesetz sei "das wahre Gewissen des Landes, das öffentliche Gewissen". Wer darüber hinaus glaube, noch ein Privatgewissen sich leisten zu sollen, der müsse eben Strafe bezahlen. Ketteler begriff sofort, welche Folgen ein solches Verständnis von Freiheit und Gesetz haben musste, und antwortete mit einer Schrift unter dem Titel "Ist das Gesetz das öffentliche Gewissen?" Die Äußerung Lameys, so erklärte er darin, sei "ein Herzensgeständniß moderner ungläubiger Denkweise und ganz geeignet, uns einen klaren Einblick zu gewähren in den tiefen Abgrund, dem uns diese moderne ungläubige Aufklärerei entgegenführt." Sowohl der souveräne moderne Staat habe seine Berechtigung als auch der souveräne Menschengeist. "Beide haben ihren Grund in Gott und damit ihr gegenseitiges rechtmäßiges Verhältnis, ihre Harmonie und Ordnung. Sie sollen sich nicht widersprechen und leugnen, sondern sich gegenseitig achten und sich in jener Ordnung einträchtig bewegen, die ihnen Gott angewiesen hat. Wenn sie aber in der That unvereinbar wären, so würden wir lieber dem Staate entsagen als der Menschenwürde; lieber gewissenhafte Menschen ohne Staat als einen Staat mit gewissenlosen Menschen. Zu dieser letzten Consequenz, zu einem Staat mit gewissenlosen Menschen, führt aber nothwendig die obige Phrase von dem allgemeinen Gewissen, dem das einzelne Gewissen nicht widersprechen darf; zu ihr führt überhaupt der moderne, der von Gott und einer göttlichen Ordnung getrennte Staat" (SWB I,1, S. 737–739). Am schlimmsten seien am Ende Menschen ohne Gewissen in führenden Stellungen: "Diese legalen Männer ohne Gewissen sind als Staatsmänner wie als Geldmänner die größten Feinde der Menschheit" (SWB I,1, S. 742).
Wir alle wissen, was die Zeitgenossen gar nicht ahnen konnten, nämlich wie recht Ketteler damit hatte. Der Nationalsozialismus hat gleichsam im Exzess Unrecht in Gesetzesform produziert, hat das individuelle Gewissen bekämpft zugunsten eines vermeintlichen niemals fehlenden Führer- und Volkswillens und damit das ungeheuerlichste Unrecht produziert. Die wenigen, die sich dagegen gewehrt haben, haben oft verzweifelt nach Anknüpfungspunkten für ihren Widerstand in jener christlichen Überlieferung gesucht, die Ketteler hell- und weitsichtig in seiner Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist schon in Stellung gebracht hatte.
"Jeder einzelne Mensch hat einen Anspruch auf einen brauchbaren und gerechten Staat, der die Freiheit des Einzelnen als auch das Wohl der Gesamtheit sichert. Denn der Mensch soll nach Gottes Willen frei und unabhängig im Zusammenleben und Zusammenwirken der staatlichen Gemeinschaft sein natürliches Ziel, sein irdisches Glück in Selbständigkeit und Selbsttätigkeit zu erreichen suchen". Dieser Satz stammt nicht von Ketteler, er stammt aus einem Flugblatt der studentischen Widerstandsgruppe "Weiße Rose", die die Menschen aufrief, endlich ihrem Gewissen zu folgen und das NS-Unrechtsregime abzuschütteln. Sie bezahlten dies mit ihrem Leben.[Anm. 19] Bei Ketteler wurde der Gedanke so formuliert: "Der Staat ist für den Menschen da, zum Schutze seiner Freiheit, und seines Rechts, und nicht umgekehrt der Mensch für den Staat. Der Staat und die Staatsgewalt sind nie Selbstzweck, sondern nur Mittel für den Menschen zur Erhaltung und Entwicklung aller Kräfte, die Gott ihm verliehen hat".[Anm. 20] Wo das nicht der Fall sei, wo bloße Legalität Recht werde, da entstehe ein Zustand, welcher "ganz geeignet ist, das Recht, unter dem Scheine des Rechtes, zu vernichten" und "die bodenloseste Willkür den Augen des Volkes zu verdecken und unter dem Scheine des Rechtes das himmelschreiendste Unrecht zu verbergen".[Anm. 21]
Zitierte Quellen und Literatur:
- Fastenrath, Elmar: Bischof Ketteler und die Kirche. Eine Studie zum Kirchenverständnis des politisch-sozialen Katholizismus (Beiträge zur neueren Geschichte der katholischen Theologie 13), Essen 1971.
- Ganzer, Klaus: Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler. Zum Abschluss der Werk- und Briefedition (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse Jahrgang 2002, Nr. 1), Stuttgart 2002.
- Iserloh, Erwin (Hrsg.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Sämtliche Werke und Briefe, 11 Bde., Mainz 1977–2001 (zitiert als SWB).
- Lill, Rudolf (Hrsg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur "Weißen Rose" (Portraits des Widerstands, Konstanz 1999.
- Petersen, Karsten: "Ich höre den Ruf nach Freiheit": Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die Freiheitsforderungen seiner Zeit; eine Studie zum Verhältnis von konservativem Katholizismus und Moderne, Paderborn u.a. 2005.
- Raich, Johann Michael (Hrsg.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Hirtenbriefe, Mainz 1904.
- Stoll, Christoph: Mächtig in Wort und Werk. Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Mit einer Sammlung ausgewählter Texte Bischof Kettelers (Mainzer Perspektiven aus der Geschichte des Bistums 1), Mainz 1997.
- Vigener, Fritz: Ein deutsches Bischofsleben des 19. Jahrhunderts, München, Berlin 1924.
Anmerkungen:
- Die wahre Bedeutung des Culturkampfes, ca. 1875. In: Erwin Iserloh (Hg.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Sämtliche Werke und Briefe, 11 Bde., Mainz 1977–2001 (abgekürzt: SWB), I,1, S. 445. Zurück
- Freiheit, Autorität und Kirche, SWB I,1, S. 222–364, hier S. 291f. Zurück
- Fritz Vigener: Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des 19. Jahrhunderts, München, Berlin 1924, S. 13. Zurück
- Brief an Wilderich vom 23. September 1840, SWB II,1, S. 98-104. Zurück
- Schreiben an seine Wähler, 17. September 1848, SWB II,1, S. 331. Zurück
- Johann Michael Raich (Hg.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Hirtenbriefe, Mainz 1904, S. 370. Zurück
- Stellung und Pflicht der Katholiken im Kampfe der Gegenwart, SWB I,2, S. 241. Zurück
- Karsten Petersen: "Ich höre den Ruf nach Freiheit": Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die Freiheitsforderungen seiner Zeit; eine Studie zum Verhältnis von konservativem Katholizismus und Moderne, Paderborn u.a. 2005, S. 150. Zurück
- Freiheit, Autorität und Kirche, SWB I,1, S. 246. Zurück
- Hirtenbrief, 1865, Raich, S. 417. Zurück
- Leichenrede, 1848, SWB I,1, S. 15. Zurück
- Zit. nach Christoph Stoll: Mächtig in Wort und Werk. Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Mit einer Sammlung ausgewählter Texte Bischof Kettelers (Mainzer Perspektiven aus der Geschichte des Bistums 1), Mainz 1997, S. 8. Zurück
- Rede vor der ersten Versammlung der Katholiken Deutschlands, 1848, SWB I,1, S. 18. Zurück
- Die großen sozialen Fragen der Gegenwart, 1849, SWB I,1, S. 234. Zurück
- Klaus Ganzer: Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler. Zum Abschluss der Werk- und Briefedition (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse Jahrgang 2002, Nr. 1), Stuttgart 2002, S. 10. Zurück
- Liberalismus, Sozialismus und Christentum, 1871, SWB I,4, S. 28. Zurück
- Liberalismus, Sozialismus und Christentum, 1871, SWB I,4, S. 32. Zurück
- Briefwechsel Marx-Engels, Bd. 4, Berlin 1950, S. 272. Zurück
- Rudolf Lill (Hg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur "Weißen Rose" (Portraits des Widerstands), Konstanz 1999, hier: III. Flugblatt, S. 199–201. Zurück
- Die Katholiken im deutschen Reiche, 1871, SWB I,4, S. 205. Zurück
- Rede vor der XXIII. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, 1875, SWB I,4, S. 531. Zurück