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Mainz im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts: Eine einzige Baustelle

von Wolfgang Stumme

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die gewaltigen Kriegsschäden, die 1793 während der Belagerung der Stadt durch die Koalitionstruppen entstanden waren, noch nicht behoben. Die französische Zeit, in der die Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung nicht erfüllt wurden, endete mit den Auswirkungen der Niederlage der napoleonischen Armee in der Völkerschlacht von Leipzig (16. – 19. Oktober 1813) und der nach Mainz eingeschleppten Fleckfieberepidemie. Geblieben waren die "rheinischen Institutionen“ – liberale Errungenschaften auf den Gebieten der Pressefreiheit, Gewerbefreiheit, Religionsfreiheit, Gleichheit des Einzelnen vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der Gerichte. Die Neuerungen betrafen darüber hinaus, die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverhandlungen, die Vereinheitlichung der Verwaltung, die Einführung eines Bürgerlichen Gesetzbuches (Code civil), einer Zivilprozessordnung, eines Strafgesetzbuches mit einer Strafprozessordnung sowie des Handelsgesetzbuches.

Mainz, das über Jahrhunderte mit dem Kanzler des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die Geschicke des Reiches mitbestimmt hatte, fand sich in der Provinz wieder. Es kam zusammen mit Rheinhessen zum Großherzogtum Hessen. Für gut hundert Jahre hatte Mainz nun einen protestantischen Monarchen.
Den abziehenden französischen Soldaten waren deutsche gefolgt. Die beiden Großmächte des Deutschen Bundes, Österreich und Preußen, stellten die Besatzung der Bundesfestung Mainz. Nach dem Krieg zwischen Preußen und dem Deutschen Bund (1866) übernahm Preußen für sieben Jahre die Festung, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) Festung des neu gegründeten Deutschen Reiches wurde.
Der Einfluss des Militärs hemmte noch bis in die 1870er Jahre die bauliche Entwicklung der Stadt. So bestand das Militär z. B. darauf, jederzeit freies Schussfeld vor den Toren der Stadt zu haben. Innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern lebten in Mainz so viele Menschen auf einem preußischen Morgen wie in keiner anderen Stadt in Deutschland – und die Einwohnerzahlen stiegen weiter an. Auch wenn das Speditionsgewerbe von der aufkommenden Dampfschifffahrt und der Eisenbahn profitierte, trug das Fehlen von Gewerbe- und Industrieflächen dazu bei, dass Mainz „hinter der Entwicklung mancher vergleichbaren Stadt zurückblieb.“ [Anm. 1]
Eine allmähliche Lockerung zeichnete sich erst nach dem Deutsch-Französischen Krieg ab. Mainz verlor seine strategische Bedeutung, denn Metz war jetzt die westlichste Festung Deutschlands.

Das Gartenfeld zu Lebzeiten von Franz von Kesselstatt. Franz von Kesselstatt - Aquarell im Besitz des Landesmuseum Mainz (Blick auf Mainz von Nord-Westen)[Bild: Martin Bahmann [gemeinfrei]]

Die Verhandlungen der Stadt Mainz mit dem Deutschen Reich über die Bebauung des Gartenfeldes, der heutigen Neustadt, endeten 1872 mit einem Vertrag. Die Festung verzichtete auf die „Gartenfronte“ [Anm. 2] und die Stadt Mainz verpflichtete sich, für 4 Millionen Gulden eine Umwallung der geplanten Neustadt [Anm. 3] zu schaffen. Endlich konnte sich Mainz von der Bevormundung durch das Militär ein Stück lösen.

 

Eduard Kreyssig, Stadtbaumeister von Mainz (1830–1897)[Bild: Stadtarchiv Mainz]

Unter Stadtbaumeister Eduard Kreyssig [Anm. 4] begann nun ein gewaltiger Bauboom, der Mainz für einige Jahrzehnte zur Großbaustelle machen und das Bild der Stadt einschneidend verändern sollte.Ab 1868 wurde im Rahmen der Rheinuferbegradigung in einem ersten Abschnitt das Gebiet östlich der Rheinstraße aufgeschüttet. Das neu entstandene Areal lag zwei Meter höher als die Mainzer Altstadt; wodurch der Hochwasserschutz nachhaltig verbessert wurde. Auf dem neu gewonnenen Gebiet entstanden der Sicherheitshafen [Anm. 5] und das Lauteren-Viertel. Am Rheinufer wurde auf eine geschlossene Stadtmauer verzichtet und ein Palisadengitter errichtet, das von einigen massiven Tordurchlässen unterbrochen wurde. In einem zweiten Abschnitt wurde ab 1879 der Rhein zwischen dem linken Rheinufer und der Ingelheimer Aue weitgehend zugeschüttet, wodurch Mainz erstmalig geschützte Häfen erhielt, den Zoll- und Binnenhafen mit dem Lagerhaus des Hauptsteueramtes sowie den Floßhafen.Nachdem 1876 die nördliche Umwallung vollendet war, übernahm im folgenden Jahr die Stadt das Gartenfeld. Der größte Teil des Gartenfeldes wurde zunächst angehoben; durch die Aufschüttung konnten die häufigen Überflutungen reduziert werden. [Anm. 6] Auch wenn Kreyssigs strenge und symmetrische Idealplanung für die Neustadt nicht in vollem Umfang umgesetzt werden konnte, ist seine Handschrift bei der endgültigen Bebauung unübersehbar. Am nordwestlichen Stadtrand, noch innerhalb des Rheingauwalles, wurde nach Kreyssigs Plänen einer der modernsten Schlacht- und Viehhöfe in Deutschland errichtet, der sogar über eine eigene Wasserversorgung verfügte.Nach der Errichtung des Tunnels unter der Zitadelle konnte die Eisenbahntrasse an den westlichen Stadtrand verlegt werden. So entstanden 1884 der Südbahnhof (heute: ‚Mainz – Römisches Theater‘) und der Centralbahnhof (heute „Hauptbahnhof“) mit Güterbahnhof. Ein Jahr später konnte erstmals nach fast 1500 Jahren wieder eine feste Brücke über den Rhein eingeweiht werden – die heutige Theodor-Heuss-Brücke. Neben der notwendigen Sanierung des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses und dem Umbau des Zuschauerraumes im Theater wurde 1884 die Stadthalle eingeweiht, die im großen Saal 3.000 und bei Wegnahme eines Podiums weitere 2.000 Besucher aufnehmen konnte.Mit der Zunahme der Bevölkerung – 1875 wohnten 56.400 und 1900 schon 84.251 Einwohner in Mainz – waren außerdem neue Schulen, Polizeidienststellen und Volksbäder erforderlich. Kreyssig entwarf darüber hinaus nicht nur Pläne für die Erweiterung der Synagoge in der Margaretengasse (1879) und für den Bau der israelitischen Friedhofshalle auf dem neuen jüdischen Friedhof an der Unteren Zahlbacher Straße – beide im maurischen Stil – sondern auch die Christuskirche [Anm. 7] für die evangelische Stadtgemeinde.Nachdem in Mainz 1866 eine Cholera-Epidemie [Anm. 8] ausgebrochen war, wurde die Sanierung der völlig unzulänglichen Abwasserentsorgung immer dringlicher. In der Altstadt gab es einige Kanäle, die erst wenige Jahre zuvor unsystematisch und ohne technische Vorkenntnisse angelegt waren; sie hatten einen zu geringen Querschnitt und waren an den Stößen undicht. Hinzu kam, dass sie z. T. keinerlei Gefälle hatten. Eine von Kreyssig erstellte Generalplanung sah ein getrenntes Entwässerungssystem für die Altstadt und für die Neustadt vor. Von den Baustellen der Kanalisation waren in dieser Zeit alle Mainzer Bürger betroffen. Parallel dazu wurde die Wasserversorgung saniert und erweitert. Die Brunnen in der Altstadt hatten nun ausgedient. Der Hochwasserschutz durch die Uferaufschüttungen und die Kanalisation waren die Voraussetzung dafür, dass erstmals seit der Römerzeit die immer wiederkehrenden Seuchen eingedämmt werden konnten.

Eduard Kreyssig war ein städtebaulicher Segen für die Stadt Mainz. Von 1865 – 1896 hat er als Stadtbaumeister weitsichtig die Weichen für die Entwicklung im nächsten Jahrhundert gestellt.

Stadtplan Mainz, 1893: Kastel, Rheinbrücke und Taunusbahn.[Bild: Meyers Konversationslexikon (5. Auflage) [gemeinfrei]]

Verfasser: Wolfgang Stumme

Redaktionelle Bearbeitung: Sarah Traub

Verwendete Literatur:

  • Custodis, Paul-Georg: Der Stadtbaumeister Eduard Kreyssig und die Bauentwicklung der Stadt Mainz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mainz, 1979. 
  • Schütz, Friedrich: Provinzialhauptstadt und Festung des Deutschen Bundes (1814/16 – 1866). In: Dumont, Franz, Scherf, Ferdinand, Schütz, Friedrich (Hg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt. Mainz 1999, S. 375 – 426.
  • Stumme, Wolfgang: Der Mainzer Hauptfriedhof. Menschen und ihre letzten Ruhestätten. Ingelheim 2010.

Aktualisiert am: 04.08.2016

 

Anmerkungen:

  1. Schütz, Friedrich: Provinzialhauptstadt und Festung des Deutschen Bundes (1814/16 – 1866). In: Dumont, Franz, Scherf, Ferdinand, Schütz, Friedrich (Hg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt. Mainz 1999, S. 375 – 426 (387). Zurück
  2. 1874 gingen die barocken Bastionen entlang der nördlichen Stadtgrenze an die Stadt über. Nach der Schleifung entstand die Kaiserstraße. Zurück
  3. Von der Nordwestfront, auch Rheingauwall genannt, sind heutzutage noch das Kavalier ‚Prinz Holstein und das Gonsenheimer Tor erhalten. – Zweifel an der militärischen Notwendigkeit dieser neuen Festungsanlage sind immer wieder geäußert worden, weil sie bei Artilleriebeschuss keinen Schutz für die Stadt boten. In Köln, Magdeburg und Straßburg wurde dagegen konsequenterweise auf einen Ersatz überflüssig gewordener Militäranlagen verzichtet.  Zurück
  4. Kreyssig (1830 – 1897) war zuständig für 1. Planung und Bauleitung der städtischen Neubauten und Durchführung der Bauunterhaltung, 2. Anlage neuer Straßen und Herstellung der Wasserversorgung, 3. Aufsicht über Rheinufer und Häfen, 4. Betreuung der Friedhöfe und Gärten, 5. Aufsicht über Feuerwehr und Beleuchtungsanlagen, 6. Bauaufsichtliche Kontrolle der privaten Neubauten. Daneben war ihm die private Entwurfstätigkeit gestattet. – Vgl. Custodis, Paul-Georg: Der Stadtbaumeister Eduard Kreyssig und die Bauentwicklung der Stadt Mainz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mainz, 1979. Sowie Stumme, Wolfgang: Der Mainzer Hauptfriedhof. Menschen und ihre letzten Ruhestätten. Ingelheim 2010, S. 44 – 47.  Zurück
  5. Den Sicherheitshafen kennen wir heutzutage als Winterhafen. Im Sicherheitshafen wurden bei Hochwasser und Eisgang die Schiffsbrücke und die Schiffsmühlen untergebracht. Bis dahin erfüllte die 1777 erbaute ‚Schiffswinterung‘ – etwa dort, wo die Kaiserstraße auf die Rheinallee trifft – diese Schutzfunktion. Dieser Hafen war nun entbehrlich und wurde 1885/86 zugeschüttet. Zurück
  6. In einigen Teilen der Neustadt, so z. B. in der Wallaustraße, wurde das Gelände nicht angehoben, so dass die Neubauten nur  über vorgebaute Treppen erreicht werden konnten.  Zurück
  7. Mit dem Bau der Christuskirche wurde 1896 begonnen; sie wurde 1903 eingeweiht. Zurück
  8. Bereits 1849 gab es in Mainz eine Cholera-Epidemie. Zurück