Die heilige Gertrud
Aus dem Lateinischen übersetzt von Ingrid Ringel
Diese Lebensbeschreibung wurde von einem Mönch des Klosters Nivelles, der Gertrud noch kannte, nur wenige Jahre nach ihrem Tod (kurz nach 670) geschrieben.
Im Namen unseres Herrn Jesus Christus beginnt die Lebensbeschreibung der hl. Gertrud, Jungfrau. Weil uns heilige und unteilbare Liebe geschenkt wird, glauben wir und halten mit ungebrochenem und unerschütterlichem Glauben daran fest, dass es denen, die wünschen, den Weg in die himmlische Heimat einzuschlagen und irdischen Gewinn gänzlich aufzugeben, um ewigen Lohn zu erlangen, zu helfen vermag, wenn ich zur Erbauung oder zum Nutzen der nachfolgenden Menschen wahrheitsgetreu einiges, wenn auch wenig, vom Leben und vom Wandel der heiligen Männer und Jungfrauen Christi, in Erinnerung zu rufen suche, indem ich es aufschreibe oder verkünde, damit das Vorbild der heiligen Männer und Jungfrauen, die uns vorangegangen sind, das Dunkel unseres Herzens mit dem Feuer der (Nächsten-)Liebe und der Glut heiliger Reue erleuchten kann. Deswegen werde ich euch mit Hilfe des Hl. Geistes, Schöpfers aller Dinge, vom Vorbild und Lebenswandel der heiligsten Jungfrau und Mutter einer Gemeinschaft Christi, Gertrud, welchen sie gemäß Gottes Gebot und der klösterlichen Regel unter dem Himmelsgewölbe geführt hat, entsprechend dem, was wir gesehen oder durch zuverlässige Zeugen gehört haben – unter dem Beistand Christi und auf Verlangen der hl. Jungfrau Dominica, der Äbtissin [Anm. 1], und der Gemeinschaft des Klosters Nivelles, wo die heilige Jungfrau (= Gertrud) Vorsteherin war –, schriftlich zu erzählen versuchen. Aber in welcher Reihenfolge von welchem Ahnherrn auf Erden sie abstammte, ist zu weitläufig, um es in diese Erzählung einzufugen. Wer, der in Europa wohnt, kennt nicht die Erhabenheit dieses Geschlechts, die Namen und den Rang?
1.) Während also die heilige Tochter Gottes, Gertrud, im Hause der Eltern war, wuchs sie zu Füßen ihrer seligen Mutter Itta Tag und Nacht in Wort und Weisheit – Gott lieb und von den Menschen geliebt – über ihre Altersgenossen hinaus. Der Anfang ihrer Erwählung im Dienste Christi zeigte sich, so wie ich es von einem gerechten und wahrsprechenden Menschen, der zugegen war, erfahren habe. Als ihr Vater Pippin den König Dagobert in seinem Hause zu einem vornehmen Essen geladen hatte, erschien dort ein unheilvoller Mensch, der Sohn eines austrasischen Herzogs, der vom König und den Eltern des Mädchens aus irdischem Ehrgeiz und wegen gegenseitiger Freundschaft begehrte, dass ihm das Mädchen gemäß Sitte der Zeit zur Ehe versprochen werde. Das gefiel dem König, und er riet dem Vater des Mädchens, dass in seiner Gegenwart jenes mit seiner Mutter herbeigerufen werde. Jene aber wussten nicht, aus welchem Grunde der König das Kind rufe, und als es vom König während der Mahlzeit gefragt wurde, ob es jenen mit Gold geschmückten und in Seide gekleideten Jüngling zum Bräutigam haben wolle, wies jenes – wie von Zorn erfüllt – ihn unter einem Eidschwur von sich und sagte, dass es weder jenen noch einen anderen Mann außer dem Herrn, Christus, zum Bräutigam haben wolle, so dass der König und die Vornehmen sehr verwundert waren über das, was von dem kleinen Madchen auf Geheiß Gottes gesagt worden war. Jener Jüngling aber ging bestürzt und voller Zorn weg. Das heiligmäßige Mädchen kehrte zu seiner Mutter zurück, und von jenem Tag an wussten seine Eltern, von welchem König es geliebt wurde.
2.) Als aber nach 14 Jahren (von der Geburt Gertruds an gerechnet) ihr Vater Pippin aus diesem Leben geschieden war, hat sie die Mutter in die Witwenschaft begleitet und diente ihr im Gehorsam und nach den Geboten Gottes besonnen und rein. Während die obengenannte Mutter Itta hinsichtlich ihrer selbst und ihrer verwaisten Tochter täglich nachsann, was zu tun sei, kam in ihr Haus ein Mann Gottes, Bischof Amandus [Anm. 2], der das Wort Gottes verkündete und forderte sie auf Geheiß Gottes auf, dass sie für sich und ihre Tochter, die Dienerin Gottes Gertrud, und die Gemeinschaft Christi ein Kloster baue. Sogleich als sie den Ruf erkannte, der zum Heil der Seelen führt, nahm sie den Nonnenschleier und übergab sich und alles, was sie hatte, Gott. Aber der Feind des Menschengeschlechts, der von Anbeginn guten Werken missgünstig gesonnen ist, hetzte und stärkte die Herzen der Bösen, diesen Widerstand entgegenzusetzen, so dass sie von denen, die ihr helfen sollten, den Willen Gottes zu erfüllen, nicht geringe Herausforderung ertrug. Welches Unrecht und welche Niederträchtigkeiten und Nöte die obengenannte Dienerin Christi mit ihrer Tochter um des Namens Christi willen erduldet hat, wäre zu lang zu schreiben, wenn es im einzelnen erzählt würde; aber nur so viel, welch große Liebe und welche Sehnsucht nach Gott sie in sich hatten. Damit nicht Menschen, welche die Seelen beflecken, ihre Tochter mit Gewalt zu den wollüstigen Lockungen dieser Welt fortrissen, ergriff sie das Schermesser und schnitt die Haare des heiligmäßigen Mädchens in Form einer Krone ab. Die heilige Dienerin Christi Gertrud aber sagte Gott Dank und freute sich, weil sie sich in diesem kurzen Leben würdig gemacht hatte, für Christus die Krone auf dem Haupt anzunehmen, damit sie würdig wäre, dort die ewige Krone des Körpers und die Reinheit der Seele zu erhalten. Darauf rief der barmherzige Gott, Helfer in der Not, ihre Widersacher zur Eintracht des Friedens zurück. Es hörte der Zank auf, die Partei des Teufels war überwunden. Die Mutter Itta übergab ihre von Gott erwählte Tochter Gertrud den Priestern des Herrn, damit sie mit ihren Gefährtinnen den Schleier nehme und bestimmte auf Geheiß Christi, dass sie der heiligen Schar der Nonnen vorstehe; denn in der Selbstbeherrschung, der Besonnenheit des Geistes, dem Maßhalten im Wort übertraf sie das Alter. Sie war ferner begabt mit Nächstenliebe, schön von Angesicht, aber noch schöner in ihrer Gesinnung, rein in Keuschheit, freigiebig bei Almosen und dem Fasten und Beten hingegeben, fürsorglich in der Sorge um die Armen und Pilger, gütig gegen Kranke und Alte, den Jungen aber begegnete sie mit strenger Zucht. Für die Hilfsmittel zu geistlichen Studien [Anm. 3] trug sie in höchstem Eifer fromme Sorge und hatte auf Eingebung Gottes durch ihre Boten, Männer mit gutem Leumund, Reliquien der Heiligen und heilige Schriften aus der Stadt Rom holen lassen und aus Gebieten jenseits des Meeres [Anm. 4] kundige Männer, um die Stellen der HI. Schrift zu lehren, sich und den Ihren zur geistlichen Betrachtung.
3.) Nachdem also für dies alles gemäß göttlicher Anordnung gesorgt worden war, ging Itta seligen Angedenkens, nachdem sie ihr Leben vollendet hatte – den Nachkommen das Beispiel guter Werke hinterlassend, Kinder und aus ihnen Enkel sehend – ungefähr im 60. Jahr ihres Lebens, im 12. Jahr nach dem Tode des hervorragenden Pippin, ihres Gatten, zum Herrn, indem sie Gott und den Engeln ihre Seele anvertraute; im Kloster Nivelles wurde sie in der Kirche des hl. Apostels Petrus ehrenvoll begraben. Als daher die heilige Dienerin Gottes Gertrud, nachdem ihre Mutter gestorben war, alle Last der Leitung auf sich allein genommen hatte, dachte sie bei sich über die Versenkung in Gott nach, die sie sich ohne den Lärm der Welt gewünscht hatte. Guten und getreuen Verwaltern vertraute sie außerhalb die Sorge über die Brüder (Mönche) an, innerhalb der Mauern des Klosters aber geistlichen Schwestern die Sorge für das Haus, damit sie Tag und Nacht im heiligen Kampf durch Nachtwachen, Beten, heilige Lesungen und Fasten gegen die geistliche Nachlässigkeit kämpfen könne. Es kam so, dass sie fast die ganze Bibliothek der Hl. Schrift auswendig konnte und dunkle Geheimnisse von sinnbildlicher Bedeutung durch Offenbarung des Hl. Geistes den Zuhörern deutlich erklärte. Auch hat sie Kirchen der Heiligen und andere hervorragende Bauwerke von Grund auf gebaut und Waisen, Witwen, Elenden und Pilgern mit aller Freigebigkeit tägliche Nahrung gegeben.
4.) Und es soll nicht übergangen werden – wie ich meine –, was die Dienerin Gottes selbst, gewissermaßen in große Angst versetzt, uns erzählt hat: Als sie am Altar des hl. Martyrers Sixtus gestanden hatte um zu beten, sah sie über sich eine sehr helle Feuerkugel niederschweben, so dass die ganze Kirche durch deren Helligkeit fast eine halbe Stunde erleuchtet war, und allmählich war sie zurückgeschwebt, woher sie gekommen war, und später erschien sie anderen Schwestern wiederum in gleicher Weise über ihnen. Was zeigte die Erscheinung jenes Lichtes, wenn nicht in Wahrheit das Kommen des Lichtes, das jeden heiligen Beter für sich und alle erleuchtet?
5.) An einem Tage aber, als wir auf dem Meer in Todesgefahr waren, hat das Andenken an die heilige Gertrud [Anm. 5] uns zum Überleben verholfen. Während wir zum Nutzen des Klosters bei ruhiger See auf dem Meer fuhren, zeigte sich lange gewissermaßen ein Schiff von auffallender Größe, das von der Seite kam. Als es sich aber genähert hatte, erhob sich ein großer Sturm, und das Meer wogte in ungeheueren Wellen. Und siehe da, ein großes und furchterregendes Ungeheuer [Anm. 6] erschien uns, wie von einer Schleuder aus der Tiefe geworfen; nicht ganz sahen wir es, sondern nur teilweise den Rücken. Und die zitternden Schiffer, die nichts mehr hinsichtlich ihres Lebens erhofften, gelobten ihren Göttern Opfer [Anm. 7]; wir aber riefen den Namen des Herrn und erwarteten die letzte Stunde. Und einer der unsrigen, der noch jetzt lebt, rief aus und sagte dreimal: ,,Gertrud, hilf uns, wie du es versprochen hast!" Was ich untrüglich gehört und gesehen habe, tue ich euch kund: Als jener zum dritten Mal das Wort wiederholte, tauchte das Ungeheuer in den Abgrund zurück, und wir erreichten mit Freude in dieser Nacht bei ruhiger See den Hafen. So hat Christus durch das Gebet seiner Magd seine Armen gewürdigt, sie vom Tode zu erretten.
6.) Als aber nach einigen Jahren ihr zarter Körper wegen übermäßigen Fastens und der Nachtwachen in schwerer Krankheit sehr geschwächt wurde, hat sie durch göttliche Eingebung erkannt, dass ihr Fortgang aus diesem Leben bevorstehe. Mit Rat der Diener und Dienerinnen Gottes gab sie ihr ganzes Amt und den Titel und die Sorge, die sie für den Konvent auf sich trug - ausgenommen die geistliche – aus Liebe zu Christus völlig auf und bestimmte, dass ihre Nichte Wulftrud [Anm. 8], die sie von Kindesbeinen an zu ihren Füßen nach Vorschrift der ehrwürdigen Ordensregel mit heiligen Schriften getränkt und genährt hatte, an ihrer Stelle berufen, die Schar Gottes leiten und den Armen dienen solle ...
[Hier folgt ein kurzer Abschnitt über Wulftruds Wirken bis zu deren Tod.]
7.) Aber wovon wir abgeschweift sind, dazu mochten wir zurückkehren. Die heilige Dienerin Gottes Gertrud horte nun, nachdem sich die Fessel des Amtes von ihrem Gewissen gelöst hat, nicht auf zu sprechen, indem sie fast drei Monate unaufhörlich betete, sich und die Ihren ermahnte und das Wort Gottes verkündete; froh in der Hoffnung, geduldig im Leid, fromm im Geist, heiter von Angesicht wünschte sie den letzten Tag ihres Lebens herbei. Aus dem Kerker eilte sie zur Herrlichkeit (zum Königreich), aus der Finsternis zum Licht, vom Tode zum Leben, und während sie allein mit ihrem Körper hier war, ging sie täglich mit der Seele in die Ewigkeit hinüber durch die Kraft ständigen Gebetes, durch den Schmerz beispiellosen Fastens. Sie fügte der Kleidung auch ein rauhes härenes [Anm. 9] Gewand hinzu, bekleidete damit heimlich ihren zarten Körper, damit sie nicht irgendeine angenehme Erquickung in diesem Leben habe, sondern nur dort, wo die Heiligen strahlen werden wie die Sonne im Reich ihres Vaters. Und als ihr letzter Tag kam, bestimmte sie es so, dass sie ihr am Begräbnistag selbst weder ein wollenes noch ein leinenes Gewand anlegten, sondern nur einen sehr wertlosen Schleier, den eine fremde Nonne ihr vor mehreren Tagen zur Segnung gebracht hatte, um den Kopf damit zu bedecken, und das härene Gewand, und im Grab, wo sie in Frieden ruht, sie mit keiner anderen Hülle zu bedecken außer diesen beiden, dem härenen Gewand, mit welchem sie bekleidet war, und einem alten Tuch, mit welchem das härene Gewand verhüllt wurde. Sie sagte nämlich, dass überflüssige Dinge weder Sterbenden noch Lebenden etwas nutzen konnten, was Weise als wahr bezeugen. Als sich darauf der Tag der Himmelfahrt ihrer Seele näherte, rief sie einen von den Mönchen und unterwies ihn, indem sie sagte: ,Geh eilends zu jenem Wandermönch [Anm. 10], der etwas entfernt in einem Kloster ist, das Fosses [Anm. 11] genannt wird, und sag zu jenem: ,,Die Jungfrau Christi Gertrud hat mich zu dir geschickt, um dich zu fragen, an welchem Tag sie aus diesem Leben scheiden werde, denn sie sagt, dass sie sich sehr fürchtet, und zugleich freut sie sich". Und jener wird dir sagen, was du mir berichten sollst. Geh, und zweifle nicht! Sogleich aber, nachdem er den Befehl erfüllt hatte, vorzutragen, was ihm aufgetragen worden war, gab jener Diener Gottes dem Boten ohne Verzug die Antwort und sagte: Heute sind die 17. Kalenden des April [Anm. 12]. Morgen aber während der feierlichen Messe wird jene Dienerin Gottes und Jungfrau Christi Gertrud von ihrem Körper scheiden. Und sag ihr, sie soll sich nicht fürchten noch zittern wegen ihres Todes, sondern sich fröhlich aufmachen, weil der heilige Bischof Patrick [Anm. 13] mit den erwählten Engeln Gottes mit ungeheurem Jubel bereit ist, sie zu empfangen. Du aber geh schnell. Jener Bruder, der hingeschickt worden war, fragte ihn, ob er das durch gottliche Offenbarung gesehen habe, dass er ihm das genau sage. Zur Antwort sagte der: „Geh du, Bruder, und eile. Du weißt das: am morgigen Tag; was fragst du mich mehr?“ Als dieser zurückgekehrt war, berichtete er der Dienerin Christi, was ihm an sie aufgetragen worden war. Jene aber, gleichsam aus dem Schlaf erwachend, machte vor Freude ein fröhliches Gesicht und sagte Gott Dank, weil er seine Magd gewürdigt hat, durch seinen Diener getröstet zu werden. So blieb sie aufgrund seines Versprechens froh, so dass sie während der ganzen Nacht mit den Schwestern in Psalmen und Hymnen und Gebeten Nachtwache hielt. Am nächsten Tag aber, einem Sonntag, ungefähr um die 6. Stunde [Anm. 14], nahm sie entsprechend dem Wort des Mannes Gottes die heilige Wegzehrung des Leibes und Blutes Christi. Und als jener Priester das sonntägliche Stillgebet beendet hatte – in ihrem 33. Lebensjahr, an den 16. Kalenden des April [Anm. 15] –, sagte sie ihrem Schöpfer Dank, der sie für würdig gehalten hat, sie ohne Verirrung in seine Herrlichkeit zu rufen; als sie das gesagt hatte, gab sie Gott ihre Seele auf, Während ich und ein anderer Bruder namens Rinchinus dorthin gerufen wurden, um die Schwestern zu trösten, rief mich jener Diener Gottes Rinchinus beim Namen und sagte: „Merkst du etwas?“ Ich aber antwortete: „Nein, außer dass ich die Schwestern in großer Trauer sehe.“ Als ich das gesagt hatte, kam ein sehr lieblicher Duft, gleichwie eine Duftmischung von Salbölen, und erfüllte jene Zeile, wo der heilige Leichnam lag. Und als wir von dort gingen, spürten wir in unserer Nase immer noch die Lieblichkeit jenes wunderbaren Duftes. Als alles, was sie wegen des heiligen Leichnams taten, und die Gottesdienste beendet waren, wurde der Leichnam der heiligen Jungfrau Christi Gertrud in ihrem Grab, das sie sich einst selbst bereitet hatte, von den Priestern und Dienerinnen Gottes unter dem Lob Gottes ehrenvoll bestattet, wo täglich aufgrund ihrer Fürbitte Gnaden erwiesen werden.
Hier endet die Lebensbeschreibung.“
Die angefertigte Übersetzung folgt dem lateinischen Text der ältesten Fassung (A) der Vita, der in den Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum Band 2 abgedruckt ist, ziemlich genau, um dem Leser einen entsprechenden Eindruck von dieser sehr alten Lebensbeschreibung zu geben.
Im Anschluss an die Lebensbeschreibung folgt in manchen Handschriften die Erzählung einiger Wunder (Virtutes), welche die hl. Gertrud nach ihrem Tod durch ihre Fürbitte bei Gott bewirkte; diese wurden um 700 aufgezeichnet, eine Fortsetzung um 783. Darin wird u. a. berichtet, wie die Heilige das Kloster Nivelles vor einer Feuersbrunst bewahrte, Blinde und eine Lahme heilte, einen Jungen aus der Gefangenschaft befreite, ein Kind zum Leben erweckte, das in den Brunnen gefallen und dort ertrunken war. Viele Wunder geschahen beim Bett der Heiligen, das die Nonnen in der Kirche aufgestellt hatten, und durch Benetzung mit einer klaren öligen Flüssigkeit, die aus der Grabplatte floss.
Anfangs wurde Gertrud nur in der Umgebung des Klosters als Heilige verehrt; dann verbreiteten neben den irischen Mönchen vor allem die Karolinger (auch aus politischen Gründen) den Kult ihrer Ahnherrin, der sich im 10. Jahrhundert durchzusetzen begann und im 11. und 12. Jahrhundert einen raschen Aufschwung nahm (Das Andenken an Karl den Großen forderte auch den Gertrudiskult, besonders weil Gertrud vielfach als Schwester Karls galt.).
Seit dieser Zeit wird Gertrud - wie andere Heilige auch - nicht mehr nur allgemein als helfende Heilige angerufen, sondern im Volk aufgrund ihrer Vita als Patronin der Reisenden [Anm. 16] (auch der Seefahrer, Kaufleute und später der wandernden Handwerksburschen) und als Helferin im Sterben und Geleiterin der Seelen ins Jenseits [Anm. 17] verehrt; sie wurde Patronin von Spitälern und bei Seuchen und anderen fiebrigen Krankheiten angerufen.
Erst ungefähr seit dem 14./15. Jahrhundert wurde Gertrud als Schutzheilige bei Ratten- und Mäuseplagen angesehen, wofür ihre Lebensbeschreibung keinen direkten Anhaltspunkt bietet. Das Mäusepatronat entwickelte sich besonders stark und wirkt bis ins 20. Jahrhundert hinein. Im volkstümlichen Bereich begegnet Gertrud noch an anderer Stelle: Ihr Festtag, der 17. März, wird als Frühlingsbeginn angesehen. So kennen wir aus dem (bäuerlichen) Kalender viele Sprüche, die zum Gertrudstag das Einstellen der Winterarbeit, den Beginn der Gartenarbeit und Feldbestellung und Wetterregeln ausdrücken. Die Kenntnis dieser Redensarten war nicht direkt abhängig von der kirchlichen Verehrung der Heiligen, sondern hängt mit der Verbreitung von alten Kalendern und Schulbüchern zusammen. Im kirchlichen Bereich aber ist Gertrud dadurch zur Schutzheiligen der Gärtner geworden.
Auf bildlichen und plastischen Darstellungen älterer und neuerer Zeit begegnet uns Gertrud oft mit gewissen Beigaben: mit dem Äbtissinnenstab, dem Modell eines Spitals oder einer Kirche, mit einem Becher, mit einer oder mehreren Mäusen, die an ihrem Gewand oder dem Faden zur Spindel hinauflaufen.
Nachweise
Verfasser: Ursula Schnell
Quelle: Villa Sprendelingsa. Mitgeteilt von Ursula Schnell. Sprendlingen, o.J.
Redaktionelle Bearbeitung: Stefan Grathoff
Anmerkungen:
- Nach dem Tod Wulftruds (wohl 669) wurde sie 3. Äbtissin von Nivelles. Zurück
- Er zog als Missionsbischof vor allem durch das Gebiet des heutigen Nordostfrankreich und Belgien, predigte den Franken und gründete Kloster. Zurück
- Die Stelle, in ziemlich verderbtem Latein, könnte auch übersetzt werden: Für liturgisches Gerät... Zurück
- d. h. aus Irland. Zurück
- Die Formulierung des Textes lässt eigentlich annehmen, dass Gertrud zum Zeitpunkt des Wunders schon verstorben war. Zurück
- Es handelt sich dabei – wie deutlich zu erkennen ist – um einen halb untergetauchten Wal, der aus dem Nordmeer weit nach Süden (Kanalgegend?) abgetrieben war, wie es häufig geschah. Zurück
- Es waren zu jener Zeit noch nicht alle Franken getauft, und viele, die getauft waren, waren nicht wirklich bekehrt. Zurück
- Tochter ihres Bruders Grimoald. Wulftruds Amtsantritt setzt man – nach dem folgenden Text der Vita – zu Dezember 658 an. Zurück
- Aus Ziegenhaar. Zurück
- Spätere Handschriften fügen als Namen „Ultan“ hinzu. Zurück
- Ehemalige Benediktinerabtei, mit Hilfe der hl. Gertrud von zwei Iren, dem hl. Foillan und dem hl. Ultan, um 650 gegründet. Zurück
- 16. März. Diese Art der Datierung, von den Römern übernommen, war bis ins Hochmittelalter üblich. Zurück
- Irischer Nationalheiliger, geb. um 385 im römischen Britannien, gest. 461. Im Alter von 16 Jahren wurde er von Piraten nach Irland verschleppt und dort als Sklave verkauft. Obwohl er schon vorher Christ war, fand erst in dieser Zeit seine religiöse Umkehr statt. Als es ihm nach 6 Jahren gelang zu fliehen, rief ihn im Traum die „Stimme der Iren“ zurück und er erkannte, dass er das im wesentlichen noch heidnische Irland missionieren solle. was er nach langen Studien auch tat. Sein Fest ist am 17. März. Die inzwischen christlich gewordenen Iren trugen seit der Wende des 6. zum 7. Jahrhundert entscheidend zur endgültigen Christianisierung des Frankenreiches bei. Zurück
- Ungefähr zwischen 11 und 12 Uhr. Zurück
- 17. März. An diesem Tag wird noch heute in der Kirche das Fest der hl. Gertrud gefeiert. Zurück
- Seit dem 11. Jahrhundert ist der Brauch der Gertrudenminne belegt, der Sitte, beim Abschied und vor Antritt der Reise zu Ehren der hl. Gertrud einen Becher Wein oder ähnliches zu trinken. Zurück
- Dieses Seelenpatronat hängt eng mit dem Reisepatronat zusammen: Man bat Gertrud um gute Reise und Herberge in dieser und der anderen Welt. Erst in zweiter Linie haben wohl die Umstände ihres Todes Gertrud zur beliebten Seelenführerin gemacht. Zurück