Gymnasium am kurfürstlichen Schloss Mainz

"Alles ist anders, als es bei uns daheim erzählt wurde..."

Liebe Mutter,

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Alles ist anders, als es bei uns daheim erzählt wurde. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich niemals hierher gekommen, nicht für alles Geld der Welt. Wir liegen den ganzen Tag im Dreck, haben kaum zu essen und die Läuse leben in unseren Uniformen. Das Leben hier ist die Hölle, ich hätte mir nie erträumen lassen, dass Menschen so grausam sein können. Ich weiß nicht, ob ich morgen noch leben werde, jeder Tag hier scheint endlos zu sein. Ich kann noch nicht mal von Tagen sprechen, da ich jegliches Zeitgefühl verloren habe, für mich zählt nur das Überleben.

Mein bester Kamerad ist gestern gestorben, einfach so , als ob es nichts besonderes gewesen wäre, vorgestern haben wir noch davon geschwärmt, wie schön es sein würde, wieder in die Heimat zurückzukehren, und dann lag er auf einmal da im Blut...

Ich halte es hier nicht mehr länger aus, ich bin völlig verzweifelt. Mutter, bete für mich, dass ich bald heimkehren werde. Ich möchte wieder leben können wie ein normaler Mensch.

Ich verfluche meinen Lehrer dafür, dass er mich dazu überredet hat. Von Ehre und Stolz hat er gefaselt. Schwachsinn! Nur Tod und Elend ist hier zu finden! Und warum soll mein Vaterland stolz auf mich sein, dass ich hier im Schlamm liege und versuche anderen Menschen das Leben zu nehmen? Ich muss jetzt aufhören zu schreiben, es steht ein weiterer Angriff auf das feindliche Corps an und ich bin zu diesem Angriff eingeteilt. Sag allen, dass ich bald heimkehre.

Dein dich liebender Sohn,

Franz

(Sebastian Kolka)