Das Findelkind von Sponsheim - Vom Sponsheimer Acker nach New York
Gerhard Remmet, Bad Kreuznach
Bei der Digitalisierung des Personenstandsregisters der rheinhessischen Gemeinde Grolsheim fiel der Geburtseintrag Nr. 6 des Jahres 1810 besonders ins Auge: Christina Hanfacker geb. 23.07.1810 – ein Findelkind. Ein nicht alltägliches Ereignis! Es folgte der Entschluss, zu versuchen, den weiteren Lebensweg dieses Findelkindes zu verfolgen. Hierzu sollten in der Hauptsache die Spuren in den heute der Familienforschung zur Verfügung stehenden Internetplattformen genutzt werden.
Zum Zeitpunkt des Geburtseintrages war das heutige Rheinhessen ein Teil Frankreichs und als Departement Donnersberg (du Mont Tonnerre) etabliert und in Kantone gegliedert. Sponsheim gehörte zum Kanton Bingen und unterstand der Mairie (Bürgermeisterei) Büdesheim. Im Ort saß ein "Bürgeragent" in der Rolle des Ortsvorstehers mit einem Beigeordneten, der den Titel "Adjunkt" führte.
Agent in Sponsheim war der bisherige Bürgermeister Andreas Weinheimer, Adjunkt der Lehrer der Sponsheimer Schule, Johann Mohr. Für beide wurde die Amtsführung schwierig, als im Jahre 1798 Französisch als alleinige Amtssprache eingeführt wurde. Vor allem mussten die Eintragungen in das neu eingeführte Personenstandsregister in französischer Sprache erfolgen. Es gab in Sponsheim keinen Bürger, der imstande und bereit gewesen wäre, diese Vorschrift zu befolgen.[Anm. 1]
Vielleicht wurden deshalb in den Jahren 1808 bis 1817 die Personenstandsregister von Sponsheim vorübergehend in der Mairie Grolsheim geführt. So findet sich die Eintragung des Sponsheimer Findelkindes Christina Hanfacker im Personenstandsregister der Gemeinde Grolsheim. Dort findet sich dann der Akt Nr. 6, der besagt, dass am 23.07.1810 im Acker zu Sponsheim durch den 44-jährigen Sponsheimer Tagelöhner Johann Schober ein etwa 3 Wochen alter weiblicher Säugling gefunden wurde. Der Säugling lag in der Gemarkung Sponsheimer in der Flur „hinter dem Dorf“, mit einem Hemdchen bekleidet und in einen Lumpen aus Sackleinen gewickelt. An diesem befanden sich keine Zahlen oder Buchstaben, welche Rückschlüsse auf die Herkunft zuließen. Dem Kind war auch keine weitere Nachricht beigelegt. Dem Kind wurde in dem Akt der Name Christina Hanfacker zugeschrieben. Der Tag des Auffindens wurde auch als Geburtsdatum eingetragen obwohl der Säugling da bereits 3 Wochen alt war.
Es scheint offensichtlich, dass bei der Namensgebung der Fundort des Kindes eine Rolle gespielt hat. Man kann vermuten, dass der Fundort des Kindes selbst bzw. ein unmittelbar daneben liegender Acker ein Hanffeld – also Hanfacker – war. Somit dürfte der Name Hanfacker aus diesem Grunde gewählt worden sein.
Leider lässt sich keine genauere Lokalisierung mehr vornehmen. Der im Akt genannte Flurname „Hinter dem Dorf“ findet sich so nicht in den Aufzeichnungen. Im Digitalen Flurnamenlexikon für Rheinland-Pfalz sind 1848 die ähnlichen Flurnamen „Hinter dem Unterdorf“ und „hinterm Oberdorf“ nachweisbar, möglich dass es sich um einen der beiden Flure gehandelt hat.
Laut Ortschronik von Sponsheim, von Reinhart Auener [Anm. 2] war Sponsheim mit seinen 134 Einwohnern eine sehr arme Gemeinde.
Hierfür gibt es weitere Hinweise: Nachdem die Franzosen das linke Rheinufer, so auch das heutige Rheinhessen, besetzt hatten, ging zwar die Einrichtung der Verwaltung recht zügig vonstatten, es galt aber auch die Annexion dieses Territoriums ins französische Reich völkerrechtlich abzusichern. Wenn auch Preußen 1795 und Österreich 1797 den Franzosen die Gebiete zugestanden hatten, wollte man auch die offizielle Zustimmung des Deutschen Reiches in einem Friedenskongress erreichen. Man wollte es unter anderem so erscheinen lassen, dass es der Wunsch der Bevölkerung wäre dem französischen Reich anzugehören. Um eine vermeintlich demokratische Legitimation zu erhalten wurde, durch den von Paris in die besetzten Gebiete entsandten Elsässer Franz Joseph Rudler im Frühjahr 1798 angeordnet, dass Listen ausgelegt würden, sog. „Reunionsadressen“, auf denen die Bürger der Annexion durch ihre Unterschrift „freiwillig“ zustimmten, sich also Frankreich freiwillig anschlossen um der Herrschaft der bisherigen Landesherren zu entgehen. Unter der Sponsheimer Reunionsadresse wird nochmal die Armut der Bewohner deutlich in der Erklärung unter der Liste aus dem Jahre 1798 zum Ausdruck gebracht:
„Die kleine und auch, mit Wahrheit zu sagen, die allerärmste Gemeinde Sponsheim hat sich zwar hiernächst jeder Bürger eigenhändig unterzeichnet, jedoch aber in der Hoffnung, dieselbe in die Zukunft nicht nur allein zu erleichtern, sondern auch nachdem schon mehr versprochenen Freyheiten auch wie fränkischen Bürgern, aber nicht wie bisher geschehen, zu behandeln. Sponsheim, 12. Juni 1798 Andreas Weinheimer, Agent Johann Mohr, Adjunkt" [Anm. 3]
Weiterhin zeigt uns die Schuldnerliste von Sponsheim die hohe Verschuldung der Einwohner Sponsheims im Jahre 1798, vornehmlich gegenüber der Geistlichkeit, was nun an die französische Administration überging [Anm. 4]:
1. Die Gemeinde schuldet in die Präsenz des St. Albanstiftes in Mainz | 1200 Gulden |
2. Huy an das St. Albanstift | 300 Gulden |
3. Peter Riethe an das St. Albanstift | 150 Gulden |
4. Franz LeiB Wittib an das St. Albanstift | 400 Gulden |
5. Andreas Weinheimer an die St. Quintinfabrik in Mainz | 1400 Gulden |
6. Balthasar Lind an das St. Albanstift | 800 Gulden |
7. Peter Klöckner an das St. Albanstift | 800 Gulden |
8. Werner Klöckner an das St. Albanstift | 500 Gulden |
9. Georg Brüssel Wittib an das St. Quintinstift | 600 Gulden |
10. Johann Weinheimer an das St. Quintinstift | 350 Gulden |
11. Bernhard Schuhmacher an das St. Quintinstift | 400 Gulden |
12. Leonhard Schiffmann an das St. Quintinstift | 800 Gulden |
13. Dominikus Huy an das St. Quintinstift | 200 Gulden |
14. Johann Mohr an das St. Quintinstift | 600 Gulden |
15. Leonhard Neumann an das St. Viktorstift in Mainz | 800 Gulden |
16. Joh. Peter Klöckner an das St. Viktorstift | 800 Gulden |
17. Johann Schober an das Kollegstift St. Peter in Mainz | 100 Gulden |
Dies ist mit Sicherheit auch ein Indiz dafür, warum weder der Finder des Kindes, Johann Schober (selbst mit 100 Gulden verschuldet), noch ein anderes Gemeindemitglied das Findelkind bei sich aufnahm.
Laut Eintrag ins Personenstandsregister wurde das Kind im Jahre 1810 einer „Commission des hospices civils a Bingen“ übergeben, was auf das Heilig-Geist-Hospital Bingen schließen lässt. Ein dem Binger Heilig-Geist-Hospital angeschlossenes Waisenhaus wurde allerdings erst 1861 durch eine Stiftung des Pfarrers Garth über 2.000 Gulden eingerichtet. [Anm. 5] Davor gibt es keine Kenntnisse über ein spezielles Waisenhaus in Bingen.
Trotz allem wurden Findelkinder auch zu diesem Zeitpunkt dem Heilig-Geist-Hospital in Bingen übergeben und deren Unterhalt aus dem Fond der öffentlichen Lustbarkeiten bestritten, worauf entsprechende Akten im Landesarchiv Speyer, Bestand U 289 Nr. 9077 hinweisen. Es kann also angenommen werden, dass Christina Hanfacker zunächst in die Obhut des Hospitals zu Bingen kam. Ob sie in eine Pflegefamilie gegeben wurde konnte nicht festgestellt werden.
Die nächste Spur von ihr belegt, dass sie im Alter von 20 Jahren Dienstmagd zu Mainz war. In einem Geburtsakt der Stadt Mainz aus dem Jahre 1830 findet sich Christina Hanfacker wieder, hier wurde die Geburt ihres Sohnes Franz Hanfacker am 06.11.1830 beurkundet. Aus dieser Urkunde geht hervor, dass sie in Mainz als Dienstmagd eine Anstellung hatte und im Mainzer Entbindungshaus ihren Sohn entbunden hat. Der Akt gibt keine Anhaltspunkte auf die Person des Vaters.
In späteren Aufzeichnungen ist der Name Franz Hanfacker nicht mehr vorzufinden. Es bleibt also offen ob das Kind verstarb oder zur Adoption freigegeben wurde.
Eine Geburtsurkunde im Geburts- und Taufbuch der Stadt Frankfurt/Main belegt, dass die ledige Christina Hanfacker am 17. November 1840 als 30-Jährige eine Tochter mit Namen Sibylla Hanfacker zur Welt gebracht hatte. Sie hatte sich mit ihrem Dienstbuch und dem Heimatschein von Bingen ausgewiesen, so dass sie vermutlich als Dienstmagd beschäftig war, eventuell in Frankfurt am Main. Das Kind wurde im Kaiserdom St. Bartholomäus in Frankfurt am Main am 19. November 1840 getauft. Es finden sich keine Hinweise auf den Vater.
In späteren Aufzeichnungen ist auch die Tochter Sibylla Hanfacker nicht mehr vorzufinden. Es bleibt also offen ob auch dieses Kind verstarb oder zur Adoption freigegeben wurde.
Die Kinder verblieben auf alle Fälle nicht bei der Mutter, denn diese reiste 1849 ausweislich einer Passagierliste ohne ihre Kinder mit dem Schiff Yorktown von London nach New York, wo sie am 12.09.1849 eintraf. Ihr Sohn wäre zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre, die Tochter 8 Jahre alt gewesen.
Hier verliert sich dann die Spur der Christina Hanfacker, dem inzwischen 39-jährigen Findelkind von Sponsheim, welches es vom Sponsheimer Acker bis nach New York geschafft hatte. Bisher ist es nicht gelungen sie in irgendwelchen Aufzeichnungen nach ihrer Ankunft in den USA zu identifizieren.
Nachweise
Verfasser: Gerhard Remmet
Verwendete Literatur:
- Auener, Reinhart: Ortschronik von Sponsheim. In: Binger Geschichtsblätter Band 5, Sponsheim 1980.
- Schuchert, August B.: Die Stiftung eines kath. Waisenhauses in Bingen im 19. Jahrhundert. In: KKB 1937.
Erstellt am: 13.11.2019
Anmerkungen:
- Ortschronik von Sponsheim, von Reinhart Auener In: Binger Geschichtsblätter Band 5, Sponsheim. Zurück
- Auener, Reinhart: Ortschronik von Sponsheim. In: Binger Geschichtsblätter Band 5, Sponsheim. Zurück
- Ortschronik von Sponsheim, von Reinhart Auener In: Binger Geschichtsblätter Band 5, Sponsheim. Zurück
- Quelle der Liste: Ortschronik von Sponsheim, von Reinhart Auener In: Binger Geschichtsblätter Band 5, Sponsheim. Zurück
- Schuchert, August B.: Die Stiftung eines kath. Waisenhauses in Bingen im 19. Jahrhundert. In: KKB 1937, 5 f. 159. Zurück