Wolfsheimer Effe
Nun ist sie auch dem rheinhessischen Ulmensterben zum Opfer gefallen, unsere liebe, jahrhundertealte Effe, von uns allen nur Eff genannt. Sie zierte die Mitte unseres Dorfes und war Wolfsheims Wahrzeichen. Einst war sie 33 Meter hoch, und sieben Kinder mussten sich die Hände reichen, um sie zu umfassen. Im Sommer verkündeten in ihrem schützenden Laubdach die Vögel den neuen Tag. Am 5. April 1984 um 10 Uhr fielen durch die Motorsägen die ersten Äste krachend zu Boden. Vom ganzen Dorf sahen Kleinste und Große wehmütig diesem Schauspiel zu, wie ein Stück nach dem anderen ihres stolzen Baumriesen donnernd herabstürzte. Vielen, besonders den Alten, standen Tränen in den Augen, und zum Andenken nahmen sie sich ein Stück mit nach Hause.
Was hätte sie uns mit ihrem Säuseln und Rauschen nicht alles aus der Dorfgeschichte erzahlen konnen? - von schönen und auch schweren Tagen. So bleibt uns nur die Erinnerung, was wir unter ihr alles erleben durften: Sie war der Treffpunkt für jung und alt. Selbst bei Regenwetter mussten wir als Kinder nicht in der Stube hocken, denn unsere gute Eff breitete mit ihren mehreren Stockwerken breit ausladenden, wuchtigen Asten ein so dichtes Laubdach über uns, dass es Stunden dauerte, bis uns die ersten Regentropfen nässten. Da gab es eine Fülle von selbstausgedachten Spielen: Tanzbär, die Kleinen tanzten, und die Großen freuten sich riesig, wenn sie mit dem Lumpenball einen guten Treffer anbringen konnten. Klickern, Knöpfches, Knüppel aus dem Sack, Schinkenklopfen bis die Hinterleile gar zu sehr brannten.
Unter der Eff, das war der Treffpunkt für Junge und Alte. Hier heckten die Jugendlichen ihre Streiche aus und verschenkten im Schatten des Baumes ihre ersten Küßchen. Bei Regenwetter und am Sonntag nach der Kirche waren auch die Älteren dort versammelt und erzählten die Neuigkeiten von nah und fern; es waren nicht immer nur wahre. Bauern und Winzer tauschten ihre Erfahrungen aus, aber manche strunzten auch über die größten Getreidehaufen, die vollsten Herbstbütten und die dickste Krumbeere. Unter der Eff wurden die Kerb und die anderen Feste abgehalten. Da konnte man dem Gesang des jetzt 100-jährigen Gesangvereins Liederkranz lauschen und sich an den Übungen der Turner erfreuen. Noch vor dem 1. Weltkrieg hielt der Kaufmann aus dem Nachbardorf mit der Pferdekutsche unter der Eff an, um im Ort seine Kundschaft zu besuchen. Dabei band er sein Pferd an und verschwand mit seinen Stoffen in den Gassen.
Da geschah hier und da folgendes: Als die Luft sauber war, banden wir das Pferd los, in die Kutsche setzten sich soviel Kinder als sie fassen konnte, und los ging die Fahrt unter Jauchzen und Lachen der frohen Kinderschar vielmals um die Eff.
Noch voriges Jahr saßen die Wolfsheimer Rentner auf den Banken unter der Eff und schwärmten wie alle Zeit von vergangenen Zeiten und erzählten sich ernste und lustige Neuigkeiten.
Über 400 Jahre sah unsere Eff Generationen kommen und gehen. Ach könnte sie doch für uns Wolfsheimer ein Buch darüber schreiben!
Nun hoffen wir, dass an ihrer Stelle bald ein neuer Baum für unsere Jugend so gut gedeihen kann wie unsere alte Eff es getan hat!