Das Kelterhaus des Weinguts Schuch in Nierstein
von Barbara Reif
„Angesteckt“ von den ästhetisch schön anmutenden Infrastrukturbauten im Jugendstil (Wasser- und Elektrizitätswerke) beauftragten auch wohlhabende Rheinhessen Jugendstilarchitekten mit Privatbauten und Wirtschaftsbauten. Ein Beispiel für einen solchen ästhetisch gelungenen, funktionalen Wirtschaftsbau ist die einheitliche Neuplanung des gesamten Weinbaubetriebes des Weingutes Geschwister Schuch in Nierstein, Oberdorfstraße 22 im Jahr 1907 für die damaligen Besitzer „Wilhelm Schuch Wwe Erben, W. Schuch“.
W. Schuch beauftragte Reinhold Weisse, einen Schüler des Darmstädter Denkmalpflegers und Landeskirchenbaumeisters Friedrich Pützer, mit der Planung. Reinhold Weisse ist unter anderem bekannt geworden durch seine Kirchenbauten in Mainz - Gonsenheim (Evangelische Kirche) und in Mainz - Mombach (Evangelische Friedenskirche) anfangs noch im historisierenden Stil, dann aber ganz seinem Lehrer entsprechend im Darmstädter Jugendstil.
Beim Bau des Kelterhauses ließ Weisse sich sicherlich von seinen Kirchenbauten inspirieren, sodass wir heute durchaus zumindest von außen den Eindruck einer „Kapelle“ haben. Nicht umsonst sprach der Vater des heutigen Besitzers immer von seiner „Weinkapelle“.
Bemerkenswert ist aber neben der Planung des Kelterhauses die Gesamtplanung des Ensembles mit Kellermeisterwohnung, Nebengebäuden, Lagerräumen sowie Weinprobierstube mit Gartenanlage, womit sämtliche Funktionsbereiche eines Weingutes abgedeckt wurden.
Das große Kelterhaus zeigt von außen die im Jugendstil übliche „bewegte Dachform“ mit Krüppelwalmdach, Fledermausgauben und gestaffelter Dachform der Weinprobierstube.
Das malerische Fachwerk im nördlichen Giebel und die profilierten Traufgesimse unterstreichen den Rückgriff auf historisierende Formen des Barock.
Ganz im Darmstädter Jugendstil sind das Bossenmauerquaderwerk des Kelterhauses aus Sandstein sowie die unterschiedlichen Fensterformen, wobei die großen Fenster und Tore der Halle rundbogig sind mit Rundstabprofilen.
Im Inneren beeindruckt das Kelterhaus durch seine ästhetische Gestaltung. Es war neben einer reinen Arbeitshalle von Beginn an gedacht als Versammlungsraum für größere Weinversteigerungen.
Die schweren Deckenbalken sind mit konstruktiven Jugendstilmotiven in schwarz-weiß bemalt und lagern auf Konsolen mit „Röllchenoptik“. Seitlich ist die hölzerne Kastendecke mit Weintrauben und Weinblättermotiven bemalt. Die Wände sind im unteren Teil gefliest, wobei in den Fliesen die gleichen Motive auftauchen wie an der Decke, allerdings in grün-weiß.
Zur Weinprobierstube führt ein Portal mit Stuckmotiven, die linksseitig die Arbeit eines Fassküfers und rechtsseitig die Arbeit eines Winzers darstellen. Auf seitlichen Konsolen erkennt man ein Liebespaar, im oberen Portalbereich einen Satyr oder Faun aus der antiken Mythologie, der einem Knaben zu trinken gibt.
Die Weinprobierstube selbst ist durch große Glastüren und ovale Oberlichtfenster direkt verbunden mit der Gartenanlage, die in der damals üblichen Art einen „Landschaftsgarten“ darstellen sollte. Erhalten sind noch die eiserne Pergola, ein künstlich angelegter Hügel über einem ehemaligen Eiskeller mit beeindruckenden - naturalistisch als Baumstämme gestalteten - Moniereisengeländern (aus Beton!) und eine kleine Grotte. Aus den erhaltenen Bauunterlagen ist zu sehen, dass die Wegeführung ursprünglich in „Brezelform“ gewesen ist.
Im Winkel zwischen zwei bestehende ältere Tonnengewölbe-Keller wurde zum Jugendstilkelterhaus eine neue Kelleranlage gebaut. Der Keller beeindruckt durch eine Betonkonstruktion auf 16 abgefasten Naturpfeilern, die ein Kreuz- und Tonnengewölbe tragen.
Eine Zusammenfassung kann niemand besser beschreiben als Dieter Krienke: „Mit dem Kelterhaus des Weinguts Schuch hat sich somit ein interessantes, in seiner Art zumindest im nördlichen Rheinhessen wohl einzigartiges Beispiel für diese spezifische Bauaufgabe der Weinwirtschaft erhalten, in der sich Selbstbewusstsein und Repräsentationsbedürfnis der um 1900 zu Wohlstand gelangten Niersteiner Winzer widerspiegelt. Zeitgemäße Betriebsabläufe wurden in hier in eine ansprechende, stimmungsvolle Architektur gekleidet.“[Anm. 1]
Nachweise
Verfasserin: Barbara Reif, Kultur- und Weinbotschafterin Rheinhessen
Redaktionelle Bearbeituung: Dominik Kasper
Verwendete Literatur:
- Bouillon, Jean-Paul: Der Jugendstil in Wort und Bild. Stuttgart 1985.
- Buchholz, Kai / Bahnschulte-Friebe, Ina: Centenarium - Einhundert Jahre Künstlerkolonie Mathildenhöhe Darmstadt 1999 - 2001, Darmstadt 2003.
- Franzke, Irmela: Jugendstil. Battenberg Antiquitäten-Kataloge. München 1987.
- Göbel, Paul-Gerhard: Baudenkmal Gustav-Adolf-Kirche Frei-Weinheim. Eine Dokumentation anläßlich der Innenrenovierung der Orgel anno domini 1993. Ingelheim 1993.
- Herbig, Bärbel / Schröder, Doris: Die Darmstädter Mathildenhöhe. Architektur im Aufbruch zur Moderne. Zwei Spaziergänge zu den Bauten der Jahrhundertwende. Darmstadt, 2. Aufl. 2003.
- Krienke, Dieter: Landesamt für Denkmalpflege. Mainz 2007.
- Linnenkamp, Rolf: Jugendstil. München 1973.
- Sembach, Klaus-Jürgen: Jugendstil. Die Utopie der Versöhnung. Köln 1990.
- Shaper, Michael: Deutschland um 1900. Von Bismarck bis Wilhelm II.: Aufstieg und Fall des Kaiserreichs. In: GEO Epoche 12 (2004), passim.
- Sterner, Gabriele / Bangert, Albrecht: Jugendstil – Art Deco. Battenberg Antiquitäten-Kataloge. München 1979.
- Wikipediartikel: Jugendstil, Wiesbadener Programm, Gustav-Adolf-Werk, Friedrich Pützer, Otto Linnemann, Rudolf Linnemann
Erstellt: 19.04.2011
Anmerkungen:
- Dieter Krienke, Landesamt für Denkmalpflege, 2007 Zurück