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Münchhausens Leichentuch

von Alexander Ritter

Im St. Goarer Stiftsarchiv, das heute im Archiv der Evangelischen Kirche des Rheinlandes zu Boppard aufbewahrt wird, befindet sich ein interessanter Aktenfaszikel [1] über einen Streit, der vor 250 Jahren mehrere Monate lang die Gemüter in St. Goar erhitzte. Für den am 21. April 1749 zu St. Goarverstorbenen Oberst Ludolf Clamor Freiherr von Münchhausen [2], der mit seinem berühmten Namensvetter Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen jedoch nur Namen, Titel und Ahnherrn gemein hat, hatte die Garnison der Festung Rheinfels ein neues schwarzes Leichentuch beschafft, das unmittelbar nach Münchhausens Beisetzung Gegenstand einer bizarren Auseinandersetzung wurde, die wir heute nicht mehr so recht nachvollziehen können.

In St. Goar waren seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges drei Konfessionsparteien zugelassen - die lutherische, die reformierte und die katholische - , deren Rechte und Pflichten durch eine Anzahl Verträge zwischen den verschiedenen hessischen Haupt- und Nebenlinien geregelt worden waren. Für die Katholiken war bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf Initiative des damaligen Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels eine separate Kirche errichtet worden; die Stiftskirche wurde jedoch von den Angehörigen beider protestantischen Konfessionen simultan genutzt. Zwar fand der Gottesdienst zu unterschiedlichen Zeiten statt, aber sämtliche, die Belange von Kirche und Stift berührenden Angelegenheiten wie die Instandhaltung, Nutzung und Reinigung der Kirche, Einkünfte und Ausgaben, wurden von Lutheranern und Reformierten gemeinschaftlich erörtert bzw. beansprucht und getragen. Dieser status quo sollte bis zur Union von Lutheranern und Reformierten im Jahre 1817 unverändert bleiben.

Unmittelbar nachdem also besagtes Leichentuch beschafft war, wurden die Ältesten der lutherischen Gemeinde bei Münchhausens Nachfolger, dem Obristen Klambeck, mit der Bitte vorstellig, er möge sich dafür einsetzen, dass das Tuch nach Münchhausens Beisetzung der lutherischen Gemeinde geschenkt werden würde. Sie verfüge über kein eigenes Leichentuch und müsste solches immer von den Reformierten entleihen. Davon überzeugt, dass dies der Wahrheit entspreche, sagte Klambeck zu.

Als die Reformierten von Klambecks Zusage erfuhren, das Leichentuch den Lutheranern zu schenken, entsandten sie ihrerseits Presbyter mit der Bitte, das Tuch doch dem gemeinschaftlichen Gebrauch zuzuführen, „damit keine Separation gestiftet werde". Schließlich gehöre auch die Kirche, in der Münchhausen bestattet sei, Lutheranern und Reformierten gemeinsam, und dass jede Gemeinde über ein separates Leichentuch verfüge, sei bis dato nicht üblich gewesen. Somit sei auch unzutreffend, dass die Reformierte Gemeinde ein eigenes Tuch besäße. Es gebe lediglich ein altes Tuch in der Kirche, dass zum gemeinschaftlichen Gebrauch bestimmt sei und in einer Truhe liege, zu der beide Küster den Schlüssel hätten. Dies könne jede der beiden Gemeinden nutzen ohne zuvor die andere um Erlaubnis zu bitten.

Klambeck, über die Begehrlichkeiten der beiden Kirchengemeinden inzwischen einigermaßen verwundert und ärgerlich, sagte den reformierten Gemeindevertretern für den Fall, dass ihre Ausführungen der Wahrheit entsprächen, die anteilige Nutzung des Münchhausen'schen Leichentuchs zu. Jedoch sollten sie ihm „nicht wieder vor das gesichte kommen [...], wan sie die Unwahrheit redeten."

Die ganze Affäre entpuppte sich bald als ein Missverständnis, denn in der Stadt gab es eine reformierte Familie, die ein privates Leichentuch besaß und dieses reformierten und lutherischen Mitbürgern gerne borge, wenn man sie deswegen anspreche. Das Tuch gehöre jedoch nicht der reformierten Kirchengemeinde und werde von dieser nicht einmal gerne geborgt, weil es "mit weißen frangen u. dergleichen ornements beseht seyn soll, daher dan auch der Reform. Inspektor [3] auch contestiren kan, daß er dießes familientuch noch niehmaln gesehen habe." Es blieb also bei Klambecks Zusage, das Leichentuch um der Einigkeit willen beiden evangelischen Kirchengemeinden zur gemeinschaftlichen Nutzung zu übertragen.

Inzwischen geriet die Angelegenheit beinahe in Vergessenheit, denn Klambeck hatte das Tuch einem anderen Offizier namens Helwig zur Aufbewahrung anvertraut. Weil sich aber aus Gründen, die uns nichtüberliefert sind, das Verhältnis zwischen den beiden Offizieren im Laufe des Jahres erheblich verschlechterte, wurde auch über das Tuch nicht mehr gesprochen. "Biß endtlich gantz unvermutheter weiße H[err]Capit[än] Helwig den 18. Novembris [1749] Zum Reformirten Inspektor kam" und diesem mitteilte, dass er beabsichtige, das Leichentuch an den Obristen Klambeck zurückzugeben. Man solle, so Helwig, "Reform[ierter]seits vigilant seyn" denn er glaube zu wissen, dass besagtes Tuch nicht zum gemeinschaftlichen Gebrauch bestimmt sei, sondern der lutherischen Gemeinde allein übergeben werden solle. Der reformierte Inspektor ließ sich jedoch von Helwigs Äußerung nicht provozieren und wartete, um den Streit nicht wieder eskalieren zulassen, einfach ab.

Er brauchte nicht lange zu warten, denn schon am nächsten Tag bestellte Klambeck die Presbyterien beider Gemeinden zu sich und eröffnete ihnen, dass er das Leichentuch der St. Goarer Kirche zum gemeinschaftlichen Gebrauch übertragen wolle und ermahnte sie, "daß sie einig seyn u. bleiben, in specie mit dießem Tuch keine Separation unter sich anfangen, sondern solches in friede u. einigkeit unter sich behalten möchten."

""Es hatte aber", so wird uns berichtet, "solche Vorstellung so wenig würckung", dass der Streit um Münchhausens Leichentuch nunmehr in dienächste Runde ging: Die Lutherischen Presbyter machten nämlich geltend, dass sie von ihrem Superintendenten [4] "keine ordre hätten, solches tuch auf dießer condition anzunehmen" und sich deshalb erst neu instruieren lassen müssten. Dies geschah dann auch. Nach ihrer Rückkehr, so fährt der Bericht fort, protestierten sie "aufs höchste" dagegen, dass man ihnen zumute, das Leichentuch gemeinsam mit den Reformierten zu benutzen und erklärten feierlich ihren Verzicht, wenn ihnen das Tuch nicht alleine gehören sollte.

Klambeck, nunmehr erneut und endgültig verärgert, übergab daraufhin den reformierten Presbytern das Leichentuch, mit der Bitte, es ihrem Inspektor zu bringen, der "schon wißen würde, was er damit zu Thun habe". Da zwischen Klambeck und dem reformierten Inspektor darüber Konsens bestand, das Tuch nicht nur für die reformierten Gemeindeglieder, sondern auch für die Verstorbenen der Rheinfelser Garnison zu benutzen, wurde es in der Stiftskirche deponiert - in der bereits erwähnten gemeinschaftlichen Truhe, zu der beide Kirchengemeinden einen Schlüssel besaßen.

Dies erregte wiederum den Unwillen der lutherischen Gemeinde, die auf den gemeinschaftlichen Gebrauch des Tuches verzichtet hatte. Klambeck und der reformierte Inspektor ließen daraufhin den lutherischen Superintendenten wissen, dass man in dieser Sache "nichtsweniger als streit u[nd] uneinigkeit suche, sondern wan die Luth[erische] Gemeinde an dießer sache einen Verdruß u[nd] an unßerer [5] gemeinsch[aft] einen solchen eckel habe, man Zufrieden sey", das Tuch wieder an sich zu nehmen, die reformierte Gemeinde in puncto Eintracht besser daran täte, "wan sie ein Exempel nähme an der Reform[ierten]".

Hier bricht der Text ab. Ob man die Angelegenheit daraufhin auf sich beruhen ließ, oder ob die Streitigkeiten wieder aufflammten, ist nicht überliefert. Ebenso wenig kennen wir eine Stellungnahme lutherischer Provenienz zu dieser Angelegenheit. Ungeachtet dessen gewinnt der heutige Betrachter jedoch einmal mehr die Erkenntnis, dass man auch im 18. Jahrhundert, als konfessionelle Streitigkeiten bisweilen noch an der Tagesordnung waren, erstaunt und verärgert darüber sein konnte, wenn zwei evangelische Gemeinden um ein Leichentuch stritten.

Anmerkungen

[1] Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland in Boppard, Stiftsarchiv St. Goar 65, Acta misc. betr. die grosse Kirche zu St. Goar [...]. Es handelt sich um einen beidseitig beschriebenen Doppelbogen reformierter Provenienz mit der Überschrift "Species facti in sachen wegen des Von der Luther[ischen] gemeinde eingeklagten Leichentuchs Vom seel[igen] H[errn] Obrist v[on] Münchhausen".

[2] Nach Lenthe, Gebhard v. und Mahrenholtz, Hans: Stammtafeln der Familie von Münchhausen, 2 Bde., Rinteln 1971 und 1976, S. 182f. wurde Ludolf Clamor von Münchhausen am 27.02.1689 in Hessisch-Oldendorf[?] geboren. Er gehörte einer der beiden Hauptlinien der Münchhausens, der sog. "Weißen Linie" an. Für weitere biographische und familiäre Details vgl. Lenthe, Stammtafeln, ebd.

[3] Gemeint ist der reformierte Pfarrer und Superintendent Johann Reinhold Grau (1747-1768†). Von ihm stammt eine Schrift „die erfreute Seele indem Bethause Gottes vorgestellt in dem 25. Psalm“. Vgl. August Heldmann: Die hessische Diözese der Niedergrafschaft Katzenellenbogen, in: Nass.Ann. 31 (1900), S. 165. Nach Strieder, Friedrich W.: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, Bd. 5, Göttingen 1785, S. 88.

[4] August Heldmann: Die hessische Diözese der Niedergrafschaft Katzenellenbogen, in: Nass.Ann. 31 (1900), S. 151-154, stellt dem von 1740-1767 amtierenden lutherischen Superintendenten Peter Becker einschlechtes Zeugnis aus: Er sei in seinem Amt "träge und faul" gewesen.Sein "bedenkliches und anstößiges Betragen" soll Grund für seine Versetzung gewesen sein.

[5] Gemeint sind die Reformierten.