Die Wirtschafts- und Sozialstruktur „deß Dorffs Filtzen“ (Alfred Neckenich, Filsen 1999)
0.1.Einleitung
Über mehrere Jahrhunderte hinweg bot die Landschaft um das Dorf Filsen dem Betrachter das Bild einer eng an die Naturlandschaft angepassten, auf die optimale Nutzung des verfügbaren Grundbesitzes ausgerichteten weinbäuerlichen Kulturlandschaft. Der Weinanbau, in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten von den Römern in unsere Region gebracht, fand an den Steilhängen des Mittelrheins seinen Einzug jedoch erst mit der Technik des Terrassenbaus im 9. und 10. Jahrhundert.
Bis zum 16. Jahrhundert weiteten sich die Rebflächen hier dann derart aus, dass sich der Weinbau für die Bevölkerung am Mittelrhein schließlich zum Haupterwerbszweig entwickelte. Dabei wurde im frühen Mittelalter der Rotwein bevorzugt angebaut, im folgenden hohen und späten Mittelalter fanden jedoch mehr und mehr die Weißweine Beachtung.
Verschiedene Einflussfaktoren führten dann im 17. Jahrhundert in unserer Region zu einem merklichen Verfall des Weinanbaus; besonders die direkten Einwirkungen des Dreißigjährigen Krieges, aber auch die nach den Kriegshandlungen eingeführten hohen Zölle und Abgaben bei der Vermarktung des Weines wirkten sich verheerend aus.
Zwar bildete der Weinbau im Rheintal aufgrund fehlender Alternativmöglichkeiten auch weiterhin die Haupterwerbsquelle, doch setzte eine zunehmende Verarmung der weinbautreibenden Bevölkerung ein.
Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts war wieder eine zunehmende Gesundung des Weinbaus festzustellen; motiviert durch eine Reihe ungewöhnlich ertragreicher Erntejahre führte dies etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder zu einer Ausweitung der Rebertragsflächen im hiesigen Bereich.
Unter dem Einfluss der einsetzenden Industrialisierung und der Verkehrsentwicklung auf die in Jahrhunderten gewachsene wirtschaftliche und soziale Struktur der weinbautreibenden Bevölkerung erlahmte dann dieser Aufschwung jedoch sehr schnell.
Insbesondere im Einzugsbereich des sich im Gebiet der Lahnmündung bildenden regionalen Industrieschwerpunktes nutzten viele Winzer die Möglichkeit der Aufnahme eines außerlandwirtschaftlichen Haupterwerbs.
Erschwerend kam hinzu, dass etwa zeitgleich aus Nordamerika und Frankreich eingeschleppte Rebschädlinge auftraten und sich schließlich in katastrophalem Ausmaß auch über die Rebflächen am Mittelrhein ausbreiteten. In zahlreichen Weinbaugemeinden des Mittelrheins führte dies zur fast völligen Vernichtung mehrerer aufeinanderfolgender Ernten.
Sicherlich ebenso lange wie die Aufzucht von Reben wurde am Oberen Mitterhein, vornehmlich im Bereich ortsnaher Wiesen (Bungerten) und in Hausgärten, auch der Anbau von Edelobst betrieben. Die Ernteerträge fanden allerdings ausschließlich zur Selbstversorgung der heimischen Bevölkerung Verwendung.
Die sich von Jahr zu Jahr verschlechternde Lage des Weinbaus veranlasste in der Folge mehr und mehr Winzer, ihre Weinberge auszuroden und sich auf den Anbau von Edelobst, im Schwerpunkt Süßkirschen, umzustellen. In dieser Entwicklung entstand beiderseits des Rheins, zwischen der Lahnmündung und Wellmich bzw. zwischen Brey und Hirzenach, eine neue Obstbaulandschaft.
Zusätzlich zum Anbau von Süßkirschen wurde Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts auch vermehrt der Sauerkirschen- und Erdbeeranbau aufgegriffen, letzterer entwickelte sich insbesondere in den Ortslagen Osterspai und Filsen aufgrund der günstigen geographischen und klimatischen Gegebenheiten sehr stark. Dieser erste Obstbauboom hielt bis etwa 1936 an, in den Folgejahren entwickelte sich die Obsterzeugung in unserer Region allerdings wieder rückläufig.
Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg brachte mit dem allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum auch einen erneut starken Aufschwung des heimischen Obstanbaus. Dieser Aufschwung setzte sich bis etwa zum Jahre 1960 kontinuierlich fort, in den folgenden Jahren brach der heimische Obstmarkt allerdings wieder mehr und mehr zusammen.
0.2.Die Anfänge in Filsen - erste urkundliche Erwähnungen
Einen Hinweis auf den in Filsen betriebenen Weinanbau findet sich bereits in der bis heute bekannten ersten urkundlichen Erwähnung des Dorfes VILZE aus dem Jahre 1230:
"Das Kloster Eberbach beurkundet, dass Herr Wasmund und dessen Frau Lucgarde von Bobard, welche es in seine Fraterniät aufgenommen, ihm das Haus neben dem Birnbaum zu Bobard und verschiedene Weinberge, unter Vorbehalt der halben Crescenz auf ihre Lebenszeit geschenkt haben, die Weinberge sind gelegen jenseits des Rheins gegen- über den Mühlen, ferner im "Gugherbac" in "Vesse" und daselbst im "Kesselheimere", zu den "Luchere", in "Langehevagge", "of der Muree" und "Liring"; sowie diesseits des Rheins, "zum "Calcovene", "ze Grendingen", "en Flagte", "ze Nuenrode auf dem Wege nach VILZE" , unterhalb der Mühle in Bertingstelle und zu Drectenshusen".[Anm. 1]
Auch die 46 Jahre später erfolgte Ersterwähnung einer Kirche in dem damals genannten VILZENE vom 6. Februar des Jahres 1276 steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Weinanbau in unserer Heimat.
In der Urkunde heißt es: "Ebenfalls übertragen sie dem Kloster Eberbach bei VILZENE in Campo den Teil eines Weinberges, genannt Langestucke, von dem gezahlt werden muss jährlich der Kapelle des Heiligen Gallus in VILZENE vier Pfund Lampenöl."[Anm. 2]
Die Spuren des in Filsen wohl durchgehend und recht intensiv betriebenen Weinanbaus lassen sich anhand der bis heute bekannten Zeittafel der Filsener Geschichte recht umfassend belegen. Immer wieder finden sich in den folgenden Jahrhunderten in Schenkungsurkunden, in Niederschriften über die Festsetzung von Zehntrechten oder in der Protokollierung von Pfarrvisitationen Hinweise auf den Weinanbau.
Einen Nachweis über die parallel dazu sicherlich auch betriebene Landwirtschaft findet sich erst in einer Rechnung der Propstei St. Martin zu Worms aus dem Jahre 1641; hier werden u.a. Korneinnahmen aus dem Zehnten "von Filsen auf dem Berg" aufgeführt.
0.3.Die Entwicklung im 18. Jahrhundert
Aus dem "Grundt- und Extract Buch der Weingaerthen, Acker- und Wießenlandt deß Dorffs Filtzen, Amdts Boppard 1719" lassen sich die ersten umfassenden Angaben über die Wirtschafts- und Sozialstruktur des Dorfes Filsen entnehmen. Die mit einer Gesamtausdehnung von 163 "Trierer Morgen" (ca. 41 Hektar) erfasste Gemarkung des Dorfes wird darin eingeteilt in das Dorf mit Hofreiten, das Weingartengelände, das Ackerland und die Wiesen.
Die Einzelparzellen erfahren eine fortlaufende Nummerierung; die Auflistung der jeweiligen Eigentümer, Mitbesitzer oder Grundherren, sowie die anteilmäßig an den Landesherrn, Kirche oder Klöster zu entrichtende Abgabe.
Für die Zeit um 1719 lässt sich für das Dorf "Filtzen" anhand dieser Aufzeichnungen folgende land- und weinbauwirtschaftliche Nutzung rekonstruieren:
- 86 Morgen Ackerland,
- 63 Morgen Weingärten,
- 12 Morgen Wiesen,
- 2 Morgen Hofreiten und Gärten.
Für die 63 Morgen Weingärten sind exakt 207.335 Weinstöcke registriert, ergänzend dazu werden die Rebstöcke nochmals in (Ertrags)Klassen 1 - 2 - 3 eingeteilt.
Als Besitzer der Weingärten sind ausgewiesen:
- Kurfürstliche mit insgesamt 7.284 Stock
- Adelige 15.613 Stock
- Geistliche und Weltliche 184.438 Stock.
An anderer Stelle sind in einem "Namensverzeichnis der Filsener Weinbergbesitzer" allerdings nur 27 Filsener Bürgerinnen und Bürger namentlich als Besitzer eigener Weingärten aufgeführt (bei ca. 400 Einwohnern), in ihren Besitzungen standen zum Zeitpunkt der Erhebung insgesamt 93.730 Rebstöcke.
Auffallend ist allerdings dabei, dass nur für einen Filsener Eigentümer Rebstöcke der (Ertrags) Klasse 1, und nur in der bescheidenen Anzahl von 166 Stück aufgeführt sind.
Auch die Gesamtzahl der auf die einzelnen Eigentümer vermerkten Rebstöcke ist in dem "Grundt- und Extractbuch" verzeichnet:
Ein Filsener Winzer verfügte über eine Gesamtmenge von 14.510 Stock, für drei Wein- bautreibende sind Einzelmengen zwischen 7.000 - 8.000 Stock vermerkt, zwei Filsener Bewohner sind mit einer Stockzahl zwischen 6.000 - 7.000 Stück ausgewiesen, ein Eigentümer verfügte über 5.953 Rebstöcke.
Für vier weitere weinbautreibende Filsener Familien sind Summen zwischen 4.000-4.500 Stock angeführt, ein Eigentümer verfügte über eine Menge von 2.602 Stock, für weitere drei Winzer waren jeweils zwischen 1.500 - 2.000 Rebstöcke vermerkt. Ausgewiesen ist ein weiterer Filsener Eigentümer mit einer Summe von 522 Stock, sechs Filsener Familien bearbeiteten Kleinflächen mit weniger als 500 Stock.
Zu der Bewirtschaftung des Ackerlandes führte der Schreiber seinerzeit aus, "daß zu Filtzen in den Feldern keine besonderen Gewands sondern solche durchgehend das erste Jahr mit harter und das andere mit leichter Frucht besähet wird das dritte Jahr bleibt öd liegen".
Das vorwiegend auf der Ebene zwischen den Dörfern Filsen und Osterspai liegende Ackerland war durch die streng eingehaltene Erbteilung in eine Vielzahl kleiner und kleinster Parzellen zersplittert (bei einer Erbauseinandersetzung wurde der gesamte landwirtschaftliche Besitz gleichmäßig auf alle noch lebenden Erben aufgeteilt) und diente fast ausschließlich der Eigenversorgung der Dorfbevölkerung.
Die Ackerfrüchte (überwiegend wurden Winterweizen und Winterroggen, Sommergerste, Kartoffeln und Runkeln angebaut), mussten im Sinne einer möglichst umfassenden Selbstversorgung bei dem nicht einzuschätzenden hohen Risiko des Weinbaus die familiäre Existenz sicherstellen. Der erwirtschaftete Erlös aus dem Weinanbau brachte das notwendige Bargeld ein.
0.4.Das 19. Jahrhundert
Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass ein Teil der Ackerfläche zum Anbau von Viehfutter genutzt wurde, um auf diese Weise erst die Voraussetzung zur Haltung einer größeren Zahl von Vieh zu ermöglichen.
Beispielhaft seien einige Ergebnisse damaliger Viehzählungen aufgeführt:
- 1869 49 Stück Hausschweine,
- 1872 76 Milchziegen,
- 1879 64 Kühe und 2 Ochsen.
Diese Haustiere dienten letztlich nicht nur der Fleisch- und Milchlieferung, sie sorgten stets auch für eine Produktion des so wertvollen und unverzichtbaren Stalldüngers. Die Knappheit dieses einzigen Düngemittels führte dazu, dass der Naturdung vorrangig in die Weinberge eingebracht wurde. Der Ernteertrag der kleinen Ackerflächen lag aufgrund der so vernachlässigten Düngung weit unter dem Durschschnitt.
Natürlich musste auch der im Vergleich zu anderen Dörfern bescheidene Filsener Wald zum Lebensunterhalt genutzt werden. Der überwiegende Teil des Waldes bestand aus sogenanntem Eichenschälwald, in dem die Rinde der Bäume regelmäßig zur Gewinnung von Gerberlohe abgeschält wurde. Die geschälten Bäume dienten entweder als Brennholz oder wurden als Weinbergspfähle selbst genutzt, Überschüsse wurden als solche verkauft. Lediglich der Bereich der Hardt (heutige Gemarkung "Obere Sulge") war mit Hochwald bestanden, das Waldstück wurde anlässlich des Neubaues der Pfarrkirche gerodet und das Holz von der Gemeinde teilweise als Bauholz in das Bauvorhaben eingebracht.
Darüber hinaus wurden die Waldflächen wegen des ständig knappen Futter- und Strohmangels auch zur Gewinnung von Futter und Streu für die Haustiere genutzt. Es ist leicht nachvollziehbar, dass durch diese übermäßige "Ausbeute" eine nachhaltige Schädigung der Bodensubstanz und auch des natürlichen Aufwuchses eintrat.
In Filsen lebten offensichtlich schon seit langem einige Familien auch vom Sammeln der im Wald, und hier besonders auf den Lohschlägen, wild wachsenden Heilkräutern. So verzeichnet das "Kataster über die Gewerbesteuer der Gemeinde Filsen Amts Braubach pro 1811" einen "Wurzelgräber", auch in den nachfolgenden Jahressteuerlisten taucht dieser Beruf, zeitweilig unter der Bezeichnung "Kräutersammler" oder "Botaniker", immer wieder auf.
Aus dem "Filsener Gemarkungs Abschätzungsprotocoll vom 3. August des Jahres 1809" ist zu entnehmen, dass sich der zur Landbewirtschaftung genutzte Teil der Gemarkung seit dem Jahre 1719 um exakt ein Drittel vergrößert hat. Dabei ist allerdings auffallend, dass die Rebflächen deutlich zurückgegangen sind; aufgeführt sind "nur" noch 120.860 Rebstöcke. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche war dagegen um mehr als das Doppelte ausgedehnt worden war.
Nach der Neubildung der Provinz Hessen-Nassau (im Jahre 1866 war das alte Herzogtum Nassau an das Königreich Preußen gefallen und man hatte es im Zuge einer Verwaltungsreform aufgelöst), wurde in den Jahren 1870/71 zum Zwecke einer Grundsteuer-Veranlagung eine Neuvermessung und Katasteraufnahme sämtlicher Ländereien der Provinz durchgeführt.
Die auf dieser Grundlage jährlich zu erstellenden Klassensteuerrollen geben in Verbindung mit der ebenfalls jährlich zu erhebenden Personenstandsaufnahme über die Bevölkerung und den Liegenschaften von Filsen einen detaillierten Einblick in die damalige Struktur unseres Dorfes.
1879 Fertigstellung der Filsener Kirche St. Margaretha
So leben die im Jahre 1879 gezählten 472 Filsener Einwohner in insgesamt 130 Haushaltungen, 45 dieser Haushaltungen (mit 211 Angehörigen) bestreiten ihren Unterhalt aus dem überwiegendem Einkommen aus eigener Landbewirtschaftung. Das Einkommen dieser Haupterwerbslandwirte und -winzer beträgt im Jahr durchschnittlich 506 Mark.
85 Haushaltungen mit insgesamt 261 Angehörigen verdienen den überwiegenden Teil ihres Familieneinkommens außerhalb einer eigenen Landbewirtschaftung. Dazu zählen alleine 51 Haushaltungen von Handwerkern und Tagelöhnern mit einem sogenannten landwirtschaftlichen Nebenerwerb. Sie alle beziehen einen mehr oder weniger großen Anteil ihres bescheidenen Einkommens aus eigenem Weinbau und/oder eigener Landwirtschaft.
Zehn dieser Familien betreiben zudem ein selbstständiges ländliches Kleingewerbe als Schreiner (1), Zimmermann (1), Schuhmacher (2), Obsthändler (2) und Kräutersammler (4).
Bei den verbleibenden 41 Haushaltungen, die ihren überwiegenden Familienunterhalt aus abhängiger Arbeit beziehen, z.B. als Tagelöhner (23), Schiffsknechte (3), Schiffsbaugehilfen (2), Bahnarbeiter (1) oder als Tagelöhner an Bahn oder Schiff (2), beträgt der Nebenerwerb aus Ackerbau und Weinbau immerhin noch gut ein Viertel des verfügbaren Familieneinkommens.
Über die Verdienstmöglichkeiten eines Tagelöhners gibt der vom damaligen Bürgermeister Johann Lahnstein erstellte Bericht über die wirtschaftliche Situation der Gemeinde Aufschluss: "Das Einkommen eines Tagelöhners wurde, da nur gewöhnliche Tagelöhner wie auf dem glatten Lande hier vorhanden sind, zu 1 1/2 Mark pro Tag bei 245 Arbeitstagen, und bei weiblichen Personen 90 Pfennig bis zu 1 Mark angenommen, bei besseren Tagelöhnern, z.B. Schiffsknechte zu 2 Mark berechnet. Bemerkt wird zudem, daß hier in Filsen sehr wenig Verdienst im Taglohn zu machen ist, da die hiesigen Einwohner ihre Arbeit meist selbst besorgen und sonstiger Verkehr hier ganz abgeschlossen ist."
Der Bürgermeister spricht in seinem Bericht von der "Mittellosigkeit der größten Theil der Einwohner hiesiger Gemeinde". Nachvollziehbar lebte ein großer Bevölkerungsanteil, der nicht als Haupterwerbslandwirt oder Winzer auf die Sicherheit eines ausreichenden Familieneinkommens vertrauen konnte, ständig am Rande des Existenzminimums.
0.5.Der Übergang in das 20. Jahrhundert
So war es nicht verwunderlich, dass mit dem Aufkommen der ersten Industrialisierung im Lahnmündungsgebiet auch die Abwanderung der von der Landwirtschaft lebenden Bevölkerung hin zu industriellen Berufen einsetzte.
In den Steuerlisten der damaligen Jahre ist noch heute nachzulesen, dass dieser Vorgang in Filsen um das Jahr 1885 einsetzte und eine ganze Reihe von Haupterwerbslandwirten oder -winzer zumindest saisonale Arbeiten in der Industrie aufnahmen.
Der Abwärtstrend konnte in Filsen in den Jahren 1894-1903 durch die nochmalige Intensivierung des Weinbaus kurzfristig aufgehalten werden. Nachdem in Filsen Anfang der 90 er Jahre bereits ein Winzerverein gegründet worden war, wurde im Oktober 1895 auf Initiative des Ortspfarrers Telegay und des Bürgermeisters Andreas Becker nach dem Vorbild der Raiffeisenvereine der "Filsener Spar- und Darlehensverein" ins Leben gerufen. Dieser wirtschaftete bereits nach kurzer Zeit derart erfolgreich, dass mit seiner Hilfe der Filsener Winzerverein bereits im Jahre 1899 in der Oberstraße ein stattliches Winzerhaus errichten konnte.
Außerhalb der damaligen Ortsbebauung entstand mit einem Kostenaufwand von 48.000 Mark ein Gebäude, in dessen ausgedehnten Kellerräumen bis zu 100 Fuder (1 Fuder = 1000 l) Wein gelagert werden konnten.
Trotz der Anstrengungen einer genossenschaftlichen Aufbereitung, Lagerung und Vermarktung des Filsener Weins war auch durch diese Bemühungen der drastische Preisverfall nicht zu verhindern. Durch einen stetig steigenden Bierkonsum und erhöhte Einfuhren günstiger ausländischer Weine ließen sich die Mittelrheinweine immer schlechter absetzen. Diese Situation wurde durch kartellartige Preisabsprachen und verzögerte Ankäufe, auch durch örtliche Weinhändler, bewusst ausgenutzt. So ging der Preis für "ein Stück" (12 hl) Rotweinmost, der in Filsen zwischen 1881 und 1890 im Schnitt 747 Mark betragen hatte, in den Jahren 1897 auf 372 Mark, und 1903 auf nur noch 288 Mark zurück, was einem Traubenpreis von 9 Pfennig pro Pfund entsprach.
Diese Not mussten viele Filsener Familien durch Kleinkredite des hiesigen Spar- und Darlehensverein überbrücken. Alleine für den Zeitraum 1900-1905 verzeichnet dessen Kassenbuch über 80 Kleinkredite in einer Höhe von jeweils 50 Mark.
In der Folge der Mithaftung des in Liquidation getretenen "Deutschen Winzerverein m.b.H. Eltville", zu dessen Mitgliedschaft sich aus kaufmännischen Gründen auch der Filsener Winzerverein entschlossen hatte, wurden jedoch die letzten Kapitalreserven des hiesigen Winzervereins aufgezehrt. Das Winzerhaus musste verkauft werden, viele Winzer unterlagen mit ihren Anteilen einer Mithaftung und gerieten in arge finanzielle Not.
Mit dem beschriebenen Rückgang des Weinbaus verlor dieser auch in Filsen seine frühere Bedeutung als Leitkultur und der Obstanbau übernahm zunächst mit dem Einstieg in den Anbau von Süßkirschen mehr und mehr diese Funktion.
Der Kirschenanbau drang mit der Rodung der ehemaligen Rebflächen zuerst in das früher mit Rotwein bestockte Rebgelände auf der Nieder- und Mittelterrasse, bald aber auch in den damals ganz mit Weißweinreben bepflanzten Kamper Hang ein.
In der Zeit vor- und während des ersten Weltkrieges wurde von einem Großteil der Filsener Grundbesitzer zudem der erwerbsmäßige Anbau von Heil- und Gewürzkräutern mit großem Erfolg betrieben. Große Flächen unter den damaligen Kirschenanlagen waren mit Tannessel, Salbei und Wermut bebaut. Die Kräuter wurden waggonweise an die pharmazeutischen Werke verkauft, ein Zentner Tannessel brachte seinerzeit beispiels- weise den Preis von 60 Mark ein.
Auf der Suche nach weiteren Erwerbsalternativen versuchte man sich in Filsen beispielsweise vor dem Ersten Weltkrieg auch mit dem Anbau von Bohnen-, Anfang der zwanziger Jahre auch mit dem Spargelanbau.
Begleitend zum Süßkirschenanbau nahmen im Jahre 1926 in Filsen die Obstbauern Peter Fuchs, Johann Becker, Johann Hewel und Karl Lahnstein den Anbau von Erdbeeren auf. Da sich die Arbeiten im Süßkirschenanbau mit den Pflege- und Erntearbeiten in den Erdbeerkulturen anfangs sehr gut kombinieren ließen, wurde der Erdbeeranbau innerhalb weniger Jahre von fast allen Filsenern Grundbesitzern übernommen und ausgedehnt.
Mit der zunehmenden Erweiterung der Erdbeerflächen stießen die Familienbetriebe insbesondere in den Zeiten der Ernte rasch an ihre Leistungsgrenze. Der sich alljährlich zur Erntezeit einstellende Bedarf an Erntehelfern wurde zwar durch die Anwerbung sogenannter "Erdbeermädchen" aus den Dörfern des vorderen Hunsrücks gedeckt, doch erkannte man rasch, dass sich der Anbau von Sauerkirschen betriebstechnisch besser mit dem Erdbeeranbau kombinieren ließ.
Um den wirtschaftlich rentablen Obstanbau weiter auszudehnen, ohne jedoch gleichzeitig die landwirtschaftliche Selbstversorgung in Frage zu stellen, rodeten die Filsener "größere Flächen" ihres bescheidenen Waldes. Im Bereich des heutigen Trünnelweges wurden etwa 1,7 Hektar, auf der Hardt insgesamt 7,1 Hektar Wald gerodet. Diese Flächen wurden klein parzelliert und von der Gemeinde anfangs für 9 Jahre als Ackerland verpachtet.
Im Jahre 1931 wurden die auf der Hardt gelegenen Ackerflächen von Filsen aus durch einen vom Freiwilligen Arbeitsdienst gebauten neuen Fuhrweg erschlossen, der den ausgefahrenen und steilen Fuhrweg, die alte Verbindung vom Rheintal zum Taunus (nach Nastätten) ersetzte.
Durch die starke Intensivierung des Obstbaus, besonders auch durch die Bevölkerungsgruppe der nicht vollerwerbstätigen Landwirte, trat in der Abwanderungsbewegung in die Industrie eine bis etwa zur Mitte der dreißiger Jahre anhaltende Stagnation ein.
Seit 1936 wandten sich im Zuge der weiter steigenden industriellen Konjunktur jedoch viele Teil- und Nebenerwerbslandwirte wieder verstärkt der Industriearbeit zu.
0.6.Der Wiederbeginn nach 1945
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg trat der Obstanbau in Filsen zugunsten einer notwendigen selbstversorgenden Landwirtschaft für einige Jahre in den Hintergrund. Infolge der nach der Währungsreform einsetzenden allgemeinen wirtschaftlichen Besserung erfuhr auch der Obstanbau in Filsen einen neuen Aufschwung. So erzielte die Obstabsatzgenossenschaft "Rhein-Lahn" im Jahre 1949 einen Durchschnittserlös von 1,38 DM für ein Pfund Erdbeeren.
Die Zahl der ertragsfähigen Süßkirschenbäume in der Filsener Gemarkung nahm in den Jahren 1951-1965 um ca. 70%, die der Sauerkirschbäume im gleichen Zeitraum sogar um ca 120% zu. An diesem boomartigen Aufschwung der Obsterzeugung nahmen jedoch nicht nur die Vollerwerbslandwirte Anteil.
Trotz eines festen Einkommens aus einer Berufstätigkeit außerhalb der Landwirtschaft stiegen fast alle landbesitzenden Familien in Filsen wieder in den nebenerwerblichen Obstanbau ein. Den Höhepunkt des Filsener Obstanbaus bildete das Jahr 1959 mit einer Annahme von 8.248 Zentnern Kirschen und Erdbeeren an der hiesigen Obstsammelstelle.
Im Zuge eines sich stetig steigenden Einkommens aus ihrem außerlandwirtschaftlichen Haupterwerb und nachlassender Obstkonjunktur stellten viele ihren Nebenerwerb nach 1960 jedoch wieder ein oder verringerten ihn deutlich.
Eine Richtungsumkehr ergriff auch die Haupterwerbslandwirte, viele von ihnen suchten sich einen industriellen Zusatzverdienst und führten ihren Betrieb als Nebenerwerb weiter. So waren von 27 im Jahre 1959 existierenden Vollerwerbsbetrieben im Jahre 1965 nur noch 5 vorhanden.
Die Aufgabe der Obstanbaus, auch die in der Form des Nebenerwerbsbetriebes, erfolgte in vielen Fällen im Zuge eines anstehenden Generationswechsels in den Familien. Dieser Trend ist bis heute ungebrochen.
Im Jahre 1999 gibt es in Filsen nur noch einen landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieb und nur noch wenige, meist den älteren Generationen angehörende Nebenerwerbslandwirte. Aufgrund des heute, im Vergleich zu dem beschriebenden Obstbauboom der zurückliegenden Jahrzehnte, unbedeutenden Obstanbaus in Filsen, wurde vor einigen Jahren auch die Obstsammelstelle im Ort geschlossen.
Der Weinanbau ist aus der Gemarkung Filsen gänzlich verschwunden.
Heute arbeitet die erwerbstätige Filsener Bevölkerung fast ausschließlich in Wirtschaft, Handel und öffentlichem Dienst in den Mittelzentren Lahnstein/Koblenz, vereinzelt sogar in dem Ballungsgebiet Rhein-Main.
Im Zuge der gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Mittelrheinregion ergaben sich nicht nur die zuvor beschriebenen Änderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur unseres Dorfes, sondern veränderte auch das Erscheinungsbild unseres Ortes sehr stark.
Aus der ersten "Bodennutzungsaufnahme von 1870/71" kann entnommen werden, daß sich die meist aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Fachwerkhäuser fast ausschließlich auf den zwischen Oberstraße - Rheinufer - Großgasse - Wachport ausgebildeten alten Dorfkern konzentrieren. Zum Zeitpunkt der genannten Erhebung standen außerhalb des Ortskerns (an der Oberstraße in Richtung Osterspai) lediglich vier Häuser. Nach den Überlieferungen handelte es sich dabei um die Fachwerkhäuser, die im Zuge der Verlegung der Eisenbahnstrecke durch den alten Ortskern (am 1. Februar 1862 wurde die eingleisige rechtsrheinische Bahnstrecke in Betrieb genommen) abgeschlagen und an der Oberstraße wieder aufgebaut wurden.
In der Zeit zwischen 1872 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in Filsen lediglich 19 neue Wohnhäuser gebaut, davon 13 außerhalb des alten Ortskerns. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem zweiten Weltkrieg setzte auch in Filsen eine rege Bautätigkeit ein. Zwischen 1948 und 1965 wurden insgesamt 30 neue Wohnhäuser gebaut, die Ortslage weitete sich bis zum Flurbezirk "Im Wässerland" aus.
Im Zuge der Verwirklichung der Bebauungspläne "In der Hube I" (in den 70er Jahren) und "In der Hube II" (Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre) erweiterte sich die Ortslage um mehr als das Doppelte. Die Ortserweiterung hebt sich mit ihren großzügigen Grundstücksbemessungen und einer moderen Bebauung deutlich von dem alten, eng verbauten Ortskern ab, ohne jedoch den dörflichen Charakter von Filsen zu unterdrücken.
0.7.Nachweise
Verfasser: Alfred Neckenich
Ursprünglich erschienen im November 2001 als Nachtrag zur Festschrift der katholischen Kirchengemeinde St. Margaretha Filsen.
Literatur:
- Dege, Eckart: Filsen und Osterspai. Wandlungen der Sozial- und Agrarstruktur in zwei ehemaligen Weinbaugemeinden am Oberen Mittelrhein. Bonn 1973.
- Nengel, Josef: Die Gemarkung der Gemeinde Filsen. Filsen 1965.
- Nengel, Josef: Das Dorf Filsen am Rhein. Filsen 1982.
Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Kober
Erstellt am: 10.11.2021