Neuwied unter französischer Besatzung 1923-1929
→ Zum Artikel zur amerikanischen Besatzung in Neuwied 1918-1923
Im Februar 1923 ging die Verwaltung des Brückenkopfes Koblenz von amerikanischer in französische Verantwortung über. Die Kreisdelegation in Neuwied wurde am 1. Februar 1923 von französischen Beamten übernommen. Es handelte sich dabei um den Delegierten Capitaine Lebailly, den Beidelegierten Graf de Beaurepaire und sieben Sekretäre.[Anm. 1] Zeitgleich wurde eine ständige Gendarmerie-Station eingerichtet, welche nach zwei Gebäudewechseln im Februar 1924 in der Augustastraße 49 untergebracht wurde. Sechs Familien mussten dazu ihre Wohnungen räumen. Die Station war mit einem Brigadier sowie fünf Gendarmen besetzt. Nachdem sich die Neuwieder, nach anfänglicher Skepsis und Ärger über die Beschlagnahmungen, mit den Amerikanern weitestgehend arrangiert hatten, war das Verhältnis zu den französischen Verantwortlichen von Anfang an sehr schwierig. Dies lag unter anderem daran, dass der Kommandowechsel im Brückenkopf Koblenz zeitlich mit dem Beginn des Ruhrkampfes zusammenfiel.
„Annus horribilis“ 1923 – Ruhrkampf, Arbeitslosigkeit und Hyperinflation
Im Dezember 1922 stellte die alliierte Reparations-kommission fest, dass Deutschland mit seinen jährlichen Lieferungen im Rückstand war, diese angeblich sogar absichtlich zurückhalten würde. Dies nahm Frankreich zum Anlass, im Januar und Februar 1923 das komplette Ruhrgebiet als Faustpfand zu besetzen. Die deutsche Reichsregierung rief die Bevölkerung in den besetzen Rheinlanden zum „passiven Widerstand“ auf, und es begann vielerorts ein Generalstreik. Die ausfallenden Löhne der Arbeiter und Beschäftigten wurden aus Berlin bezahlt. Auch in Neuwied leistete eine Vielzahl von Bürgern und Beamten den französischen Besatzungsbehörden Widerstand. Am 1. März 1923 besetzten französische Soldaten den Neuwieder Bahnhof und stellten die Eisenbahn unter eigene Regie. Die Beamten wurden aus den Diensträumen vertrieben und aus der Stadt ausgewiesen. Dies kam praktisch einer Stilllegung des Bahnverkehrs gleich, was die angespannte Versorgungslage weiter verschlimmerte.
Am 3. April 1923 wurden der Neuwieder Bürgermeister Dr. Walter Geppert sowie weitere Beamte der Stadtverwaltung ausgewiesen. Andere Behörden, die von Verhaftungen und Ausweisungen getroffen wurden, waren das Zollamt, das Finanzamt, die Reichsbanknebenstelle sowie Post- und Telegrafenstationen. Insgesamt wurden 72 Personen mit ihren Familien ausgewiesen. Es dauerte bis zum Oktober 1924, bis alle ausgewiesenen Personen wieder in die Stadt zurückkehrt waren.
Die französischen Behörden konfiszierten im Juli 1923 im Rathaus Neuwied 26 Millionen Mark Erwerbslosengelder sowie bei der Waggonfabrik Gockel 420 Millionen Mark Lohngelder. Weiterhin wurden im August 3 Milliarden Mark in der Reichsbanknebenstelle sowie 30 Milliarden Mark in der Schaaffhausen’sche Bank beschlagnahmt. Die Höhe der Summen zeigt das Ausmaß der Inflation. In der Hermannshütte, welche zur Krupp AG in Essen gehörte, wurden im Juni 1923 große Mengen an Manganeisen, Koks und Kohlen einbehalten, wodurch der Betrieb nahezu zum Erliegen kam. Auch bei weiteren Industriebetrieben, z. B. der Firma Hobraeck und Rasselstein, wurden große Mengen an Gütern und Lohngeldern konfisziert.
Der anhaltende Widerstand der Bevölkerung einerseits sowie die Beschlagnahmungen und Verkehrseinschränkungen der Besatzungsbehörden anderseits wirkten auf die bereits vorher kritische wirtschaftliche Lage wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Die soziale Notlage der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiter, wurde immer bedrohlicher. Die Arbeitslosenzahl in Neuwied stieg im Sommer und Herbst 1923 sprunghaft an. Im November 1923 waren 3.250 Erwerbslose in Neuwied gemeldet, fast 40% der Stadtbevölkerung.[Anm. 2] Immer wieder kam es zu Massendemonstrationen. Am 14. und 15. Dezember 1923 fanden sich mehrere tausend Menschen zusammen und versuchten u. a. das Rathaus zu stürmen. Als dies misslang, wurden kurzfristig mehrere Häuser und Wohnungen von Fabrikanten „belagert“. Der französischen Kreisdelegation und Gendarmerie gelang es letztlich, die Menschenmenge zu zerstreuen. Die Besatzungsbehörden reagierten auf die vermehrten Aufmärsche mit Ausgangssperren, oftmals von 21 Uhr abends bis 6 Uhr morgens sowie einer zeitweiligen Verlegung von 40 Soldaten nach Neuwied bis zum 18. Dezember 1923.[Anm. 3]
Zudem zeichnete sich bereits im Sommer deutlich ab, dass die Regierung in Berlin bald nicht mehr in der Lage war, die großen finanziellen Anstrengungen zum Ausgleich der Löhne und Lasten im Ruhrgebiet und Rheinland aufbringen zu können. Der immer massivere Einsatz der Notenpressen führte letztlich zu einer Hyperinflation, welche Ende 1923 ihren Höhepunkt erreichte. Kostete in Neuwied im März 1923 ein Pfund Butter noch rund 7.000 Reichsmark, stieg der Preis bereits im Juni auf das Doppelte.[Anm. 4] Im Herbst 1923 mussten gar mehrere hunderte Milliarden Reichsmark bezahlt werden.
Die Stadtverwaltung versuchte mit Preiskontrollen und der Abgabe verbilligter Lebensmittel wenigstens die größte Not zu lindern. Im August 1923 wurde in Neuwied, zum Preis von 600.000 Reichsmark pro Pfund, Margarine an die Bevölkerung ausgegeben. Allein diese Maßnahme kostete den Kreisausschuss in Neuwied 10 Milliarden Reichsmark.[Anm. 5] Insbesondere an Erwerbslose sollten vermehrt billige Lebensmittel ausgegeben werden. Die Geldentwertung führte auch zu einer Zahlungsmittelknappheit. Am 2. August 1923 wurden von der Stadt Neuwied Notgeldscheine mit den jeweiligen Werten 100.000, 200.000 und 500.000 Mark ausgegeben. Kurze Zeit später erlaubte der Reichsminister der Finanzen den Städten, auch Scheine mit höheren Werten auszugeben.[Anm. 6] Die Verordnung 212 der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission vom 25. September 1923 regelte u. a., dass das in den Besatzungszonen ausgegebene Notgeld drei Monate nach Inkrafttreten der Verordnung wieder einzuziehen sei. Mit der schrittweisen Einführung der Rentenmark ab November 1923 (Umtauschkurs: 1 Billion Reichsmark = 1 Rentenmark) konnte die Inflation stückweise gestoppt werden. Dies und die Beendigung des passiven Widerstands bereits im September 1923 halfen dabei, die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren. Die Arbeitslosenzahlen sanken in den folgenden Jahren wieder, ohne sich aber wieder den Zahlen des Vorkriegsniveaus anzunähern.
„Separatistische“ Bewegung
Die „separatistische“ Bewegung mit dem Ziel der Gründung eines eigenen freien Staates im Rheinland erlebte insbesondere während des Ruhrkampfes und der Zeit der wirtschaftlichen Not Auftrieb. Wohlwollend unterstützt wurden diese Aktivitäten vielerorts von den französischen Besatzungsbehörden. Während in anderen Orten in näherer Umgebung, z. B. in Koblenz und Linz, kurzzeitig offizielle Regierungsstellen übernommen und gar eine „Rheinische Republik“ ausgerufen wurde, blieb es in Neuwied ruhig.
Zwar gab es auch hier eine Gruppe „Separatisten“ von ca. 30 Personen. Diese beließen es aber dabei, im Neuwieder Bahnhof ein „Wachlokal“ zu eröffnen, und entfalteten ansonsten keinerlei öffentliche Aktivität. Im Oktober und November 1923 beabsichtigten die in Koblenz und Linz ansässigen „Freibündler“ einen Marsch auf Neuwied. Da aber die allermeisten Bürger der Stadt zur Abwehr bereit waren sowie selbst die französische Kreisdelegation sich nicht auf die Seite der „Separatisten“ stellen wollte, kam es nicht dazu. Die fehlende flächendeckende Unterstützung der Bevölkerung sowie politischer Druck aus Großbritannien führten dazu, dass die französischen Behörden die „separatistischen“ Kräfte nicht mehr unterstützen. Die Bewegung kam dadurch schnell zum Erliegen und vielerorts lösten sich die Gruppierungen Ende 1923 wieder auf.
Die letzten Besatzungsjahre
Eine allgemeine Beruhigung der Lage setzte ab dem Frühjahr 1924 ein. Die Bemühungen von Außenminister Stresemann, welche unter anderem 1924 den Dawes Plan sowie 1925 den Vertrag von Locarno hervorbrachten, verbesserten das Verhältnis zu den Besatzungsmächten im Rheinland. Die harten wirtschaftlichen Sanktionen begannen zu verschwinden. Der Bericht des städtischen Besatzungsamts für das Jahr 1925 vom 12. Februar 1926 vermerkt dazu: „[…] und durch das Locarno-Abkommen ist der Verkehr mit den Besatzungsdienststellen ungemein erleichtert worden. […] Anstelle des früher vielfach üblichen mündlichen Verkehrs ist ausschließlich der schriftliche Verkehr getreten“.[Anm. 7]
Am 31. Oktober 1924 wurde die französische Zollstation in Neuwied aufgegeben. Zusätzlich übergaben die Besatzungsbehörden am 16. November 1924 die Regie der Eisenbahn wieder in deutsche Hände. Insgesamt wurden fünf beschlagnahmte Privatwohnungen, zwei Werkswohnungen, sieben Eisenbahnerwohnungen sowie fünf Einzelquartiere und vier Hotelzimmer im Laufe des Jahres geräumt. Die französische Kreisdelegation stellte zum 1. Dezember 1925 ihre Tätigkeit in Neuwied ein. Die konfiszierten Diensträume, Wohnungen und Inventarien wurden bis zum Februar 1926 zurückgegeben. Der letzte Kreisdelegierte de Lamy sowie das restliche Personal kehrten nach Frankreich zurück. Einzig verblieb nur die Gendarmerie-Station in der Augustastraße 49. Für die Jahre 1925 bis 1929 sind in den vorliegenden Berichten keine Zwischenfälle im Umgang zwischen Einheimischen und Besatzungsmacht angezeigt worden. Bis auf gelegentliche Passkontrollen gab es für die französischen Gendarmen nicht viel zu tun und das gegenseitige Verhältnis scheint sich in Neuwied, nach der Aufregung in den Jahren 1923-1924, weitestgehend normalisiert zu haben.
Ende der Besatzung
Im Vertrag von Versailles 1919 war eine Dauer der Besatzung von maximal 15 Jahren in der Zone III vorgesehen. Die Zone I um Köln konnte bereits im Jahr 1926 geräumt werden. Nachdem Deutschland sich mit den Besatzungsmächten im Young-Plan von 1929 auf weitere langjährige Reparationszahlungen geeinigt hatte, rückte das Ende der Besatzung nahe. Die Zone II um Koblenz wurde im November 1929 von französischen Truppen geräumt. Am 21. November 1929 wurde die Gendarmerie-Station in Neuwied aufgelöst. Die letzten sechs beschlagnahmten Wohnungen (samt Inventar) wurden durch einen französischen Offizier übergeben. Die Stadt Neuwied verteilte die Möbel für kleines Geld an bedürftige und kinderreiche Familien.
Bereits ab September 1929 gab es Überlegungen zur Abhaltung von „Befreiungsfeiern“ im Rheinland. Der Oberpräsident der Rheinprovinz vertrat die Meinung, dass eine zentrale Feier mit dem Reichspräsidenten erst nach Räumung der Zone III um Mainz, welche Mitte 1930 geschah, abgehalten werden sollte. Den Kommunen wurde freigestellt, örtliche Feiern unter behördlicher Anleitung abzuhalten.[Anm. 8] Die Feierlichkeiten in Neuwied begannen am Samstag, den 30. November um 23 Uhr mit einem Fackelmarsch unter Musikbegleitung durch die Innenstadt. Nach Abhaltung einer Festrede des Bürgermeisters sowie das gemeinsame Singen patriotischer Lieder im Bismarckpark läuteten bis 0.30 Uhr alle Glocken in der Stadt. Am nächsten Tag endeten die Feierlichkeiten mit einem großen Festkonzert auf dem Luisenplatz.
Anmerkungen:
- Stadtarchiv Neuwied, Bestand 630.001, Nr. 1846, Verwaltungsberichte des städt. Besatzungsamtes, Verwaltungsbericht für die Zeit vom 01. Januar 1923 bis 31. März 1924. Zurück
- vgl. Meinhardt, 300 Jahre Neuwied, S. 255. Zurück
- Stadtarchiv Neuwied Bestand 630.001, Nr. 1846, Verwaltungsberichte des städt. Besatzungsamtes, Verwaltungsbericht für die Zeit vom 01. Januar 1923 bis 31. März 1924. Zurück
- Stadtarchiv Neuwied, Bestand 630.001, Nr. 712, Lebensmittelpreise, Preislisten 1921-1924. Zurück
- Stadtarchiv Neuwied, Bestand 630.001, Nr. 710, Abgabe von verbilligten Lebensmitteln, Anweisung des Vorsitzenden des Kreisausschusses Neuwied vom 10. August 1923. Zurück
- Stadtarchiv Neuwied, Bestand 630.001, Nr. 595, Notgeld, Verfügung V C 2681 II vom 20. August 1923. Zurück
- Stadtarchiv Neuwied, Bestand 630.001, Nr. 1846, Verwaltungsberichte des städt. Besatzungsamtes, Verwaltungsbericht für den Zeitraum 01. Januar - 31. Dezember 1925. Zurück
- Stadtarchiv Neuwied, Bestand 630.001, Nr. 362, Befreiungsfeier aus Anlass der Räumung der II. Zone am 01. Dezember 1929. Zurück