Jüdisches Leben in Stadecken-Elsheim
von Wolfhard Klein
Bevor ich mit meinem Vortrag über jüdisches Leben in Stadecken-Elsheim beginne, gestatten sie mir eine Vorbemerkung. Das 3. Reich ist seit 77 Jahren Vergangenheit. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem jüdischen Leben in der Region. Mir ist aufgefallen, dass Überlebende - Opfer und Täter - über das, was war, meist geschwiegen haben und schweigen.
Umso erfreulicher ist es, dass hier in Stadecken Türen geöffnet wurden, so dass es mir möglich ist, an das frühere jüdische Leben zu erinnern. In erster Linie waren es Nachkommen von Geflüchteten, die mir mit Informationen, Fotos und Dokumenten geholfen haben - auch, weil sie wissen wollten, wo die Wurzeln ihrer Familien waren. Ich erwähne hier Yann Mars in Frankreich, Susi Lessing in Canada, Joan Zeller so-wie Ruth und Amy Gorton in den USA. Alle sind Nachkommen der jüdischen Familien Haas und Neumann aus Stadecken-Elsheim.
In Stadecken hat mir der Geschichtsverein mit Karten und Bildmaterial geholfen. Be-sonders Jürgen Beck hat mit Alteingesessenen Gespräche geführt und wertvolle In-formationen für mich gesammelt, die ich als Ortsfremder vielleicht nicht bekommen hätte. Christa Blum hat mich auf die ehemalige Synagoge aufmerksam gemacht, die Familie Senger hat mir die Tür geöffnet. Frau Flohr war mir eine liebenswerte Gesprächspartnerin. Oft waren es die Nachkommen ehemaliger Nachbarn jüdischer Familien, die nicht mehr hier wohnen, aber den Kontakt zu geflüchteten Stadecker Juden und Jüdinnen hielten und sie sogar besuchten - wie Uwe Schwing die Neumann-Schwestern in Florida. Frau Wenzel, geborene Harth, hat mir einen Kaufvertrag zur Verfügung gestellt. Der Familie Axt, deren Vorfahren mit der Familie Haas befreundet waren, verdanke ich Fotos dieser Familie. Sollte ich Helferinnen oder Helfer vergessen haben, dann entschuldige ich mich.
Ohne Unterstützung wäre dieser Vortrag so nicht möglich. Ich weiß, dass ich ihnen mit Namen und Daten viel zumuten werde. Auch dafür bitte ich jetzt schon um Nachsicht.
Jüdisches Leben in Stadecken-Elsheim ist das Thema dieses Vortrags. Jüdisches Leben gab es allerdings nur in Stadecken. In Elsheim lebten nach gründlicher Auswertung aller verfügbaren Quellen keine Juden. Seit wann gab es Juden in Stadecken?
Das ist unklar, durch Dokumente belegt ist das seit rund 500 Jahren, denn 1555 bekamen die Stadecken Juden Beyfuß, Lew und Verst kostenpflichtigen Geleitschutz durch das Amt Alzey. [Anm. 1] 1736 zählte das Oberamt Oppenheim die Schutzjuden in der Region. In Stadecken lebten 4 Familien, insgesamt 22 Personen. Je eine Familie hatte einen Knecht bzw. eine Magd, die auch jüdisch waren. Jede Familie zahlte 3 Gulden 35 Kreuzer Schutzgeld. Schutzgeld war also eine gute Einnahmequelle für die jeweiligen Landesherren. Stadecken war protestantisch und gehörte zur Kurpfalz. Drei der vier jüdischen Familien in Stadecken hatten Häuser, zwei Familien hatten Schulden.
Eine weitere Familie, insgesamt 5 Personen, war zur Zeit der Judenzählung 1736 von Stadecken nach Essenheim gezogen. Auch erwachsene Kinder waren fortgezogen; in der Regel zog man weg, weil man in einen anderen Ort heiratete. Ein junger Mann war nach Flörsheim gegangen, eine junge Frau nach Mainz.
Die Stadecker Juden bestatteten ihre Verstorbenen auf dem Jüdischen Bezirksfriedhof in Jugenheim. Eines der ältesten erhaltenen Gräber ist das Grab von Abraham Juda, dem Sohn des Isaak aus Stadecken. Es stammt aus dem Jahr 1781. Zu welcher Familie der Tote gehörte, ist unklar. Insgesamt gibt es in Jugenheim noch 15 erhaltene Gräber für 19 Personen jüdischen Glaubens aus Stadecken, darunter das Kindergrab von Emil Haas und das Grab von Albert und Josephine Neumann - das war 1935 die letzte Beerdigung, die auf dem jüdischen Friedhof Jugenheim stattfand.
Aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts sind einige Vornamen bekannt, nicht die Familiennamen. Sie lauteten bei den Männern: Löw, Feubel, Perets und Hertz. Frauennamen waren 1736 Hindel, Agatha, Güttle, Ester und Köhlgen. [Anm. 2]
Die Nennung von Familiennamen ist die Ausnahme. Laut Gerichtsakten des Kurpfälzischen Kreisamtes hat ein Isaak Löw 1736 gegen den Pferdehändler Debents aus Nieder-Saulheim geklagt. [Anm. 3](Den Namen Debents gibt es dort nicht, vermutlich hieß der Beklagte Dechent.) Die Rechtschreibung damals war … na ja. Zurückhaltend formuliert orientierte sie sich an der ortsüblichen Aussprache.
Juden wurden von Christen damals meist mit dem Vornamen angesprochen. Sie selbst hatten religiöse Namen und sehr oft wurde aus dem Vornamen des Vaters der Familienname der Kinder. Erst durch eine Anordnung Napoleons mussten Juden im Jahr 1808 feste Familiennamen annehmen.
Leider sind die Verzeichnisse mit den Register Namensänderung Geburtsregister Ortsbürgerregister Namensänderungen in Stadecken, anders als etwa in Wörrstadt, nicht erhalten.[Anm. 4] Seit der Einführung der Familienstandsregister im Jahr 1798 im damals französischen Rheinhessen lassen sich Namenswechsel nachvollziehen und Personen und Familien eindeutig zuordnen. In Stadecken existieren die Register erst ab 1804.
So wurde 1808 in Stadecken bei den Familiennamen aus Nathan Beretz Nathan Neumann. Dessen Kinder Ferdinand und Benedikt wurde 1750 und 1754 geboren. Benedikt Neumann hieß bis 1808 Benoit Nathan. Neumann war nach 1808 ein sehr häufiger jüdischer Name in Stadecken. [Anm. 5] Auch bei den Vornamen gab es Änderungen. Beispielsweise wurde aus Magol ein Michael.
Wie Neumann war der Name Haas in Stadecken ein häufiger und alter jüdischer Name. Es gab im Dorf christliche und jüdische Familien mit dem Namen Haas. Leopold und Hermann Haas wurden laut Ortsbürgerregister [Anm. 6] 1784 bzw. 1786 in Stadecken geboren. Sie waren Söhne des ca. 1760 geborenen Stadecker Pferdehändlers Jaques (Jakob) Haas und von dessen Frau, von der verschiedene Namen überliefert sind, z.B. Caroline geb. Bach bzw. Adelheit (Maria) geb. Moses oder nur der Vorname Sobernheim, denn 1809 bekam das Ehepaar Jaques und Sobernheim Haasnoch einen Sohn, Abraham.
Vater Jaques war da bereits 58 Jahre alt. Jaques Haas muss mehrmals geheiratet haben. Er hatte mindestens sechs Kinder aus zwei, evtl. aus drei Ehen. Bei der Hochzeit des Sohnes Hermann im Jahr 1815 steht dessen Mutter mit dem Vornamen Hera in der Heiratsurkunde, in Hermanns Sterbeurkunde aus dem Jahr 1831 ist Caroline geb. Bach als Hermanns Mutter angegeben.
Ich werde mich in diesem Vortag mit einigen Personen und Familien etwas ausführlicher beschäftigen. Bei Caroline Bach sind weder die Herkunft noch ihre Lebensdaten im Familienstandsregister festgehalten. Trotzdem gibt es Informationen.
In der Heiratsurkunde von Adel Haas und dem Sprendlinger Jacob Vogel - Adel Haas war eine Tochter von Jakob Haas und Caroline Bach und zog nach Sprendlingen - steht über die Witwe Caroline Bach, „dass letztere sich im Lauf des Jahres 1815 von hier entfernt habe, ohne dass ihr Aufenthaltsort bis jetzt bekannt wäre". Ihr Mann Jacob war 1814 gestorben. Im Sterberegistereintrag von Jacobs Sohn Abraham steht 1835, dass "Caroline Haas, geb. Moses, in Thionville, Königreich Frankreich" wohnhaft sei.
Sie sehen: auch die Familienstandsregister klären nicht alle Schwierigkeiten bei der Zuordnung der Nachnamen. Und wenn man jetzt noch auf den Vornamen sieht - bei der Geburt von Abraham heißt dessen Mutter mit Vornamen Sobernheim, dann scheint die Verwirrung komplett.
Ich denke, der Schreiber hat zumindest im Fall des Vornamens bei der Geburt von Abraham Haas den Wohnort des Zeugen mit dem Vornamen der Mutter oder mit deren Geburtsort vertauscht, denn Zeuge bei der Registrierung der Geburt war Philipp Werner, ein Stadecker Pferdehändler, der nach Sobernheim verzogen war bzw. zum Zeitpunkt der Geburt verziehen wollte und der dort nach seinem Umzug den jüdischen Friedhof finanzierte. [Anm. 7] – die Skizze zeigt, wo er bestattet wurde - und der der Sobernheimer Gemeinde 1816 eine Synagoge zur Verfügung stellte.
Zwei weitere Kinder von Jacob Haas und Caroline geb. Bach haben in den Nieder-landen 1828 bzw. 1829 die Schwestern Eva und Myntje Blom geheiratet.[Anm. 8] Diesmal wird in den Heirats- und Sterbeurkunden der Söhne Adam und Liebmann Haas ihre Mutter Caroline Vogel bzw. Caroline Isaac genannt, die in Thionville verstorben sei. Es dürfte sich um ein und dieselbe Person handeln, um Caroline Bach.
Obwohl Anfang des 19. Jahrhunderts einige Juden Stadecken verließen, wuchs der jüdische Bevölkerungsanteil. 1855 lebten 42 Juden im Ort, [Anm. 9] 1931 nur noch 11 Personen jüdischen Glaubens. [Anm. 10] Es lässt sich für fast alle jüdischen Bewohner sagen, wo sie wohnten. Ab 1864 existieren Pläne von Bauvorhaben in Stadecken, hier die Bäckerei von Max (Markus) Neumann in der Portstraße 5 im Jahr 1909. Auf Bauplänen sind immer auch Nachbarliegenschaften mit den Namen der Besitzer genannt. [Anm. 11] Aus diesen Informationen und den Adressen in Geburts- oder Sterbeurkunden lässt sich rekonstruieren, in welchen Häusern die Stadecker Juden gewohnt haben. Ein Adressbuch von 1906 nennt fünf jüdische Adressen von sieben Familien. [Anm. 12] Gleicht man alle Quellen mit einem Straßenplan von 1940 [Anm. 13] ab, werden fast alle ehemaligen jüdischen Häuser auffindbar obwohl Hausnummern und Straßennamen, mitunter auch mehrfach, geändert wurden. Unterlagen des Grundbuchamtes, das Brandkataster oder Kaufverträge könnten endgültige Klarheit schaffen - auch über die noch nicht identifizierten Häuser in der Großgasse.
Ich zeige ihnen aktuelle Fotos einiger ehemals jüdischer Häuser und gebe ein paar knappe Informationen über die ehemaligen Bewohner:
Das ist die ehemalige Katharinenstraße 16, dort wohnten Samuel Mayer, mit seiner Frau Ehly. Er stammte aus Essenheim, sie war Spezereikrämerin und die Tochter von Joseph Neumann und Marianne geb. Feist. Samuels Grab ist auf dem Jugenheimer Friedhof erhalten. Das Paar hatte zwei Töchter, Regine und Amalia. Amalia überlebte das KZ Theresienstadt, Regina wurde dort ermordet.
In der Oppenheimer Straße 4 wohnten Albert Neumann mit seiner Frau Josefine, geb. Strauß mit ihren Kindern Mathilde Erna, die heirate und später Maas hieß, und Gerta Johanna, die nach dem Abitur Kindergärtnerin wurde. Beiden Töchtern gelang die Flucht in die USA. In der Oppenheimer Straße 4 lebte und starb auch Alberts Schwiegermutter Susanna Strauß. Albert und Josephine sind in Jugenheim bestattet. Das Oppenheimer Straße 4 Grab habe ich vorhin bereits gezeigt.
Das waren die letzten Beerdigungen, die es in Jugenheim gab. Die Familie hatte zeitweise eine Dienstmagd, Anna Best. Sie und ihre Schwester Elisabeth, die später Strippel hieß, waren - wie Margarethe Hamm - Spielkameradinnen von Mathilde und Gerta Neumann.
Als deren Eltern starben, sind Mathilde Erna Maas geb. Neumann und Gerta Neumann, Florida sie mit der Trauergesellschaft bis zur Saubachbrücke in Richtung Jugenheim mitgegangen. [Anm. 14] Der Kontakt zur Familie Strippel wurde auch nach Ihrer Flucht aufrechterhalten.
In der Portstraße 5 lebte Moses Neumann bei seinem Sohn Max (Markus) mit dessen Frau Emilie geb. Kahn, die in Jugenheim bestattet ist. Nach Torschmuck, Oppenheimer Straße 4 ihrem Tod floh der Bäcker, Metzger und Handelsmann Max (Markus) 1939 vor den Nazis nach England. Die Bäckerei war vor der Nazi-Zeit ein bei Stadecker Kindern beliebter Ort. Sie bekamen dort, erinnert sich eine Zeitzeugin " bei Einkäufen so gude Matze", ungesäuertes Fladenbrot. [Anm. 15]
Max (Markus) und Emilie Neumann hatten zwei Kinder, Martha Selma und Irma. Beide Töchter machten in Ingelheim Abitur und heirateten. Irma und ihr Mann Moritz Mayer aus Alsheim lebten mit ihren drei Kindern in Worms und wurde im 3. Reich in Konzentrationslager deportiert. Irma und ihr Mann kamen schon 1938 nach Buchenwald, ermordet wurden sie 1942 in Piaski bzw. Bezec. Für Irma gibt es einen Stolperstein in Worms.
Was aus ihren Kindern wurde, ist nicht bekannt. Selma Martha und ihrem Mann Julius Weichsel gelang die Flucht in die USA. Moses Neumann und seine Frau Fanny (Elisabetha), geborene Heymann, die Eltern von Max (Markus) und fünf weiteren Kindern, lebten in der heutigen Großgasse 1. Moses Neumann handelte mit Vieh und Agrarprodukten. Später zogen Neumanns zu ihrem Sohn Max (Markus) in die Portstraße 5. Der Grabstein des Ehepaars steht auf dem jüdischen Friedhof Jugenheim. Von ihren sechs Kindern wurde die Tochter Henriette, die Albert Marx geheiratet hatte, 1942 in Lodz ermordet. Auch zwei der vier Kinder von Henriette und Albert Marx wurden im 3. Reich ermordet.
Henriettes Schwester Amalie, die auch in die Familie Marx eingeheiratet hatte, überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt und starb in den USA. Der Sohn Max (Markus) flüchtete nach England, sein Bruder Albert starb 1934, die anderen Geschwister aus der Großgasse 1 waren früher gestorben.
In der Großgasse 37 bis 39 lebten bis 1875 David Neumann und dessen Frau Bette geborene Israel. Das Grab der beiden ist auf dem Friedhof Jugenheim erhalten. David Neumann war ein Sohn von Benedikt Neumann und Bea geborene Michel.
David und Bette hatten vier Kinder. Amalia starb mit elf Monaten, Sohn Eduard wurde 26 Jahre alt, auch sein Grab ist auf dem Jugenheimer Friedhof, ebenso wie das des Sohnes Benedikt, der mit Anna Maria Laufer verheiratet war und 1885 starb. Das Schicksal der Tochter Jetta (Henriette), die 1834 geboren wurde, ist ungeklärt. Bekannt ist, dass sie einen unehelichen Sohn mit dem Namen David bekam, der bei ihrer Eheschließung mit Moses Laufer 1864 für ehelich erklärt wurde. [Anm. 16]
In der Langgasse 60 wohnte zeitweise Benedikt Neumann, der Sohn von David und Bette. Seine Frau Anna Maria (Mina) Laufer, die 18 Jahre nach ihm starb, wurde auch in Jugenheim beerdigt. Das Paar hatte sieben Kinder. Sohn David Theodor wurde nur 11 Monate alt, Sohn Leopold drei Jahre. Tochter Henriette war wie ihre Mutter Spezereihändlerin, sie blieb ledig, ihr Grab ist in Jugenheim.
Die Tochter Pauline Neumann heiratete den Weinhändler Leopold Laufer, der mit ihrem Bruder Karl eine große Weinhandlung in der Bahnhofstraße in Ingelheim betrieb. In Ingelheim lebte auch ihr Bruder Otto Eduard (Ernst), der Rechtsanwalt war und mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten flüchten konnte.
Ihr Bruder, der Kaufmann Moritz Neumann und dessen Frau Hedwig, die in Ingelheim gelebt hatten, wurden in Majdanek ermordet. Ihr Bruder Karl und dessen Frau Luise (Lilly) wurden in Theresienstadt umgebracht.
Die heutige Langgasse 31 hat mit dem ursprünglich dort stehenden Gebäude nichts mehr zu tun. Dort stand eines der ältesten jüdischen Häuser, dessen Bewohner identifizierbar sind. Dort wurde 1754 Benoit Nathan geboren, einer der Söhne von Nathan Beretz. Aus Benoit Nathan wurde 1808 Benedikt Neumann, Berufsangabe: Handelsjude, der mit seiner Frau Bea geborene Michel sechs Kinder hatte: David, den wir schon aus der Großgasse kennen, Noa, der 1833 im Alter von 31 Jahren in dem Haus starb, Feubel Benoit, dessen Schicksal unbekannt ist, Michael (Magol), Hermann und Ferdinand.
Michael Neumann, Jahrgang 1806, zog in die Langgasse 38 um, dort starb seine Mutter 1839. Das ist der Bericht über die Leichenschau durch den Großherzoglichen Cantonsarzt Dr. Wagner aus Nieder-Olm.
Die Leichenschau fand am dritten Tag nach Bea. Neumanns Tod statt: Dadurch konnte sie nicht ritusgemäß einen Tag nach ihrem Tod bestattet werden.
Der Sohn Ferdinand Neumann verließ Stadecken mit Frau und sechs Kindern 1857. [Anm. 17] Sohn Hermann ging mit seiner Frau und fünf Kindern 1881 fort, nach Oberwesel. [Anm. 18] Über die Gründe wird später noch zu reden sein. Vorher, nämlich 1854, war Michael Neumann mit seiner Frau Elisabeth, geborene Mühlstein, und fünf Kindern nach Ingelheim gezogen. Michael war Weinhändler und Weinkommissionär.
Sein 1847 in Stadecken geborener Sohn Bernhard, wie sein Vater Weinhändler und Weinkommissionär, war, wie aus seinen Einbürgerungspapieren in Mainz hervorgeht, mit zehn Jahren eingeschult worden, 1962 in die Lehre gekommen und hatte 1867 in Mainz eine eigene Weinhandlung aufgemacht. Er heiratete 1881 Friederike Emma Gutmann, die Tochter eines herzoglichen Hoflieferanten, der – auch in Mainz – eine Weingroßhandlung besaß. [Anm. 19] Das Foto zeigt eine steinerne Druckplatte für Weinetiketten.
Dieses Foto zeigt Emma Neumann mit den Kindern ihrer Tochter Lily, die zu Besuch waren. Bernhard Neumann lebte mit seiner Familie in Mainz zunächst in der Emmeransstraße 41, später in der Kaiserstraße 27. Er bekam mehrere Auszeichnungen. Anlässlich des deutsch-französischen Kriegs 1870/1871 und 1898 für seine Verdienste um das Deutsche Reich.
Dieses Foto zeigt seine Tochter Lily Neumann, verheiratete Lessing und dieses Foto zeigt seine Tochter Margarethe deren Mann zum außerordentlichen Professor an der Universität Darmstadt berufen wurde, er musste sich und seine Familie allerdings durch Honorare von Vorträgen finanzieren.
Ich verdanke diese Fotos und spannende Informationen über die Familiengeschichte Lilys Enkelin Susi Lessing aus Toronto, zu der ich seit einiger Zeit regelmäßigen Kontakt habe. Ihre Urgroßmutter, Bern-hards Frau Emma-Friederike, brachte sich 1939 nach einer Razzia der Gestapo in ihrer Wohnung um. In einem bedrückenden Brief an ihre Tochter hat sie geschildert, welche Verwüstungen die Nazis im November 1938 während des Pogroms in ihrer Wohnung angerichtet hatten. Ihre Kinder und Enkel konnten Susi Lessing vor dem Nazi-Terror nach Großbritannien, Argentinien, Zimbabwe und in die USA flüchten. Susi Lessing hat recherchiert, dass aus der Familie während der Shoah 73 Personen umgebracht wurden.
Zunächst in der heutigen Langgasse 40, dann in der Langgasse 42) lebte und starb der ca. 1750 geborene spätere Pferdehändler Ferdinand Neumann, [Anm. 20] ein Bruder von Benedikt Neumann. Er war mit Eleonora geb. Moses verheiratet. Fünf Kinder lassen sich dem Ehepaar zuordnen. Interessant ist das Leben des 1791 geborenen Sohnes Joseph. Er wurde 1812 Soldat in der Napoleonischen Armee. Seine Militärakte ist erhalten, [Anm. 21] sie enthält auch eine Personenbeschreibung.
Im Zivilberuf war Joseph Kammerdiener. Er war 1,64 groß, hatte ein ovales Gesicht, eine runde Stirn, blaue Augen und blonde Haare. Joseph heiratete nach seiner Militärzeit in Mainz-Laubenheim die Witwe Karolina Stern geb. Sichel.
In der Langgasse 46 lebten der ca. 1760 geborene Jacob Haas mit seiner 1. Frau Maria geb. Moses und mit seiner 2. Frau Carolina geb. Bach. Über einige Mitglieder dieser Familie habe ich anfangs berichtet.
Joseph Neumanns Schwester Martha Neumann heiratete den 1786 geborenen Ellenwarenhändler Hermann Haas, einen Sohn von Jacob Haas aus der Langgasse 46 und zog mit ihrem Mann in die Langgasse 48. Das Paar hatte fünf Kinder. Die Tochter Eva heiratete nach Jugenheim. Der Sohn Moses Haas, er handelte mit Spezereien, blieb in Stadecken. Er lebte mit seiner Frau Barbara (Babette) geb. Heymann zumindest zeitweise im noch nicht identifizierten Haus Großgasse 99. Unbekannt ist, was aus den Kindern Barbara, Elie und Jacob wurde. Barbara Haas geb. Heymann, die Frau von Hermann Haas, war übrigens die Schwester von Elisabetha (Fanny) Neumann, geb. Heymann. Die beiden Frauen stammten aus Badenheim.
Die Langgasse 48 war ein großes Anwesen mit großer Scheune. In dem Haus lebte bis 1854 auch die Familien des Händlers Leopold Haas – er war ein Bruder von Hermann – und Leopolds Frau Klara, geb. Kramer, die acht Kinder hatten, sowie zwei Kinder aus der 1. Ehe von Leopold. Eines dieser Kinder wanderte nach Amerika aus.
In der Langgasse 48 lebte ferner die Familie von Jacob Haas l. und seiner Frau Sara geb. Wolf. Diese Familie muss Stadecken nach 1860 verlassen haben, nach diesem Jahr gibt es keine Eintragungen mehr in den Familienstandsregistern. [Anm. 22] In diesem Teil der Langgasse 48, Scheune Langgasse mit den Häusern 38, 40, 42, 46 und 48 konzentrierten sich die jüdischen Bürger Stadeckens. Es liegt nahe, dass auch in der Nummer 44 eine jüdische Familie gewohnt hat. Die Hausnummern 39, 59 und 84 der ehemaligen Frankreichsgasse, der heutigen Langgasse, waren ebenfalls Wohnstädten jüdischer Stadecker. Sie können noch nicht zugeordnet werden. Nicht zuordnen lassen sich auch die alten Hausnummern 81, 99, 105, 109, 110 und 121 der Großgasse. Dort lebten, wie man aus Geburts- und Sterbeurkunden sehen kann, jüdische Familien.
Es ist möglich, dass es sich bei der nicht zuzuordnenden Großgasse 110 und bei der Nr. 99 um dasselbe Haus handelt, möglich ist auch, dass die Familie umgezogen ist, denn in der Nummer 110 kam 1859 Hermann Haas als Sohn von Moses Haas und seine Frau Babette geb. Heymann zur Welt, die nach Einträgen im Familienstandsregister in der Nummer 99 gewohnt hatten. Der Sohn Hermann zog später nach Nieder-Olm und heiratete 1890 Sara Michel. Der Viehhändler hatte vier Kinder. Seine Tochter Eva wurde nicht einmal ein Jahr alt, die Tochter Frieda heiratete Ludwig Goldschmitt aus Ebersheim, der in ihrem Elternhaus, der Pariser Straße 52 ein Tabakwaren-Geschäft betrieb. Die Tochter Ida heiratete nach Oberramstadt und der der Sohn Ludwig (Leo) zog 1934 zunächst nach Mainz und flüchtete 1936 in die USA. Leo (Ludwig) Haas kam als amerikanischer Soldat zurück.
Der Schwiegersohn seiner Schwester Frieda hat das Foto von Leos Elternhauses in der Pariser Straße 52 in Nieder-Olm aus einem Jeep heraus gemacht. Leo ist der junge Mann, der auf dem Foto der Familie Haas, das ich heute zuerst gezeigt habe, ganz links steht.
In diesem Haus in der Frankreichsgasse, heute Langgasse 16, wohnte u.a. Hermann Neumann, ein Sohn von Benedikt und Lea, mit seiner Frau Johannetta geb. Levi. Hermann war in der Langgasse 38 geboren worden. Der Bauplan eines Nachbarn aus dem Jahr 1872 belegt durch die Namen der Nachbarn die Lage des Hauses in der Langgasse, auch wenn der Straßenname auf dem Plan nicht stimmt.
Möglich, dass es sich um Bernhard Neumann handelte, aber der Weinhändler lebte seit spätestens 1881 in Mainz. Möglich auch, dass es sich um Benedikt Neumann handelte, der 1885 starb.
Nach einem undatierten Plan mit dem richtigen Straßennamen lebte in der Langgasse 16 jedenfalls Hermann Neumann, dessen Familie wohlhabend war und Weinberge besaß, bis er wegen der antijüdischen Ausschreitungen im Jahr 1871 Stadecken mit seiner Familie verließ [Anm. 23] und nach Oberwesel zog.
Übergriffe gegen Juden waren 1871 nach der Gründung des Deutschen Reichs im Zuge des wachsenden Nationalismus und Antisemitismus in unserer Gegend sehr häufig. In mehreren Orten wurden Obstplantagen, Felder und Weinberge zerstört. Es gab in Stadecken und Nieder-Olm sogar Sprengstoffanschläge durch mit Pulver gefülltes Brennholz. [Anm. 24]
Die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts waren für die Juden der Region keine guten Jahre. Im Februar 1881 klagte das Kreisamt über Beschädigungen von jüdischem Eigentum und über die Verfolgung von Juden in Stadecken.
In mehreren Nächten waren bei Moses Neumann Fenster eingeworfen und Dachziegel durch Steinwürfe demoliert worden. Um weitere Ausschreitungen zu verhindern, wurde vom Kreisamt Mainz angeordnet, eine Sicherheitswache von zehn Personen aufzustellen. [Anm. 25]
Es kam im gesamten Selztal zu Übergriffen, Hetze und Morddrohungen gegen Juden. Politisch hetzten christliche Agitatoren wie der antisemitische evangelische Pfarrer Adolf Stöcker. Sie forderten die Entfernung von Juden aus dem Staatsdienst, die Entlassung jüdischer Volksschullehrer, die Einführung von Judenregistern und die Begrenzung der Einwanderung von Juden. Opfer von Pöbeleien und Beleidigungen wurde in Stadecken auch der jüdische Religionslehrer Hermann Golding aus Essenheim.
In Nieder-Olm wurde ein jüdischer Händler durch den Ort gehetzt und die jüdische Bevölkerung zur Auswanderung nach Palästina aufgefordert. Im März 1882 wies der Kreis Stadeckens Bürgermeister an, antisemitische Versammlungen zu verbieten. 1885 wurden auf dem jüdischen Friedhof Jugenheim, auf dem auch die Stadecker Juden bestattet wurden – es gab eine jüdische Friedhofsbruderschaft von sechs Gemeinden – viele Grabsteine zerstört.
1888 sollte die Stadecker Synagoge wegen eines Straßenbau-Projekts abgerissen werden. Nachbarn, deren Gebäude auch betroffen gewesen wären, protestierten. Die Pläne wurden fallen gelassen.
Der Standort der ersten Stadecker Synagoge ist nicht bekannt, aber 1794 beschwerte sich die Stadecker Juden beim Oberamt in Oppenheim, dass die Essenheimer Juden nicht mehr nach Stadecken kamen, sondern eine eigene Synagoge errichtet hatten. [Anm. 26] Es hat also bereits im 18. Jahrhundert eine Stadecker Synagoge gegeben. Die letzte Stadecker Synagoge befand sich im Haus Langgasse 19. Das Haus war 1911 mindestens 50 Jahre im Besitz der Familie Haas.
1872 gehörte es Jacob Haas. Sollte das Hauses zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Synagoge genutzt worden sein, muss es im Ort eine dritte Synagoge gegeben haben, denn aus den 1840er Jahren gibt es eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Kreisamt und der jüdischen Gemeinde Stadecken. Unter anderem ging es darin um Vorstandswahlen, Moses Haas wurde 1849 der 2. Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, es ging um eine Synagogenordnung, die Ernennung des christlichen Gemeinderechners Dechent zum Rechner der jüdischen Gemein-de und um die Beschäftigung eines Vorsängers, der auch als "Wanzenvernichter", als Schädlingsbekämpfer, arbeiten sollte.
Letzte jüdische Besitzer des Hauses Langgasse 19 waren Heinrich und Hermine Haas geb. Strauß. Der Handelsmann Heinrich Haas hat Mina (Hermine) geb. Strauß aus Hahnheim am 05.10.1893 geheiratet. Im Heiratsregister von Stadecken gibt es nur einen Registereintrag, keine Urkunde. [Anm. 27] Das bedeutet, dass die Hochzeit auswärts, vermutlich in Hahnheim stattgefunden hat, dem Geburtsort der Ehefrau. Eine Grundbuchnotiz nennt das genaue Hochzeitsdatum. Dort wird festgehalten, dass der Metzger, Weinhändler und Weinkommissionär Heinrich Haas das Haus, in dem die Familie wohnte, am 08.11.1892 gekauft [Anm. 28] und mit in die Ehe gebracht hat, die Hofreite Flur l Nr. 316. [Anm. 29]
Heinrich Haas starb im Alter von 66 Jahren am 20. März 1931.[Anm. 32]Sein Grab ist in Jugenheim. Er hatte mit seiner Frau Hermine mehrere Kinder. Die Tochter Lina war bei ihrem Tod erst zwei Monate alt. Ihr Grabstein ist einer der wenigen Grabsteinen, die auf identifizierten Kindergräbern des Jugenheimer Bezirksfriedhof stehen. [Anm. 33]
Die besondere Bedeutung des Hauses Langgasse 19 wird dem Besucher sofort bewusst. Vor der Haustür im Hof ist, mit schwarzen und weißen Basalt-Pflastersteinen, ein Davidstern verlegt. Der sehr große, repräsentative Hausflur zeigt in seinem gut erhaltenen Terrazzoboden das farbige Mosaik eines Davidsterns.
Der Betraum im ersten Stock des großen Gebäudes existiert nicht mehr, nur noch die Treppe, die zu ihm hinaufführte. Das Schlachthaus im Hof wurde abgerissen.
Nach dem Tod ihres Mannes verkaufte seine Witwe Hermine Haas das Gebäude mit Zubehör – das waren u.a. zwei Öfen, ein Herd, ein Kessel, eine Warmwasseranlage – für 6.500 Goldmark. 4.000 Goldmark wurden bar bezahlt, der Rest sollte in 10 gleichen Jahresraten gezahlt werden. Im Kaufvertrag wurde festgehalten, dass sich in der Hofreite die Synagoge befand und dem Rabbiner eine von ihm zu bestimmende Abfindung zu zahlen sei. [Anm. 34] Der Rabbiner bekam 310,- Reichsmark. [Anm. 35] Die Sicherungshypothek von 2.500 Goldmark, die im 3. Reich vom damaligen Käufer nicht mehr abgelöst wurde, wurde 1974 gelöscht. [Anm. 36]
Nach dem Tod ihres Mannes und dem Hausverkauf zog Hermine Haas zu ihrem Sohn Moritz, der als Viehhändler in der Stiegelgasse 40 in Ingelheim lebte. [Anm. 37] Mit seiner Familie war er wegen des Drucks der Nazis, den er für ein lokales Problem hielt, dorthin gezogen. Er kam vom Regen in die Traufe. Das Foto zeigt Moritz Haas auf einer Postkarte aus dem Januar 1915, die er an seinen Stadecker Freund und Nachbarn Peter Axt schrieb. Moritz Haas gelang mit seiner Ehefrau Klara und den Töchtern Hannah und Ruth 1936 die Flucht in die USA. Die beiden Mädchen, die auf dem Schoß von anderen Stadecker Mädchen sitzen, sind Ruth und Hannah Haas. Auf der Rückseite des Fotos Moritz Haas im 1. Weltkrieg steht: Freundinnen in der Frankreichsgasse. Moritz Haas wohnte mit seiner Familie nach 1945 in New York. [Anm. 38] Heinrichs Sohn Siegfried Haas, der in Ingelheim Abitur gemacht hatte, ging bereits kurz nach 1920 in die USA, dort starb er 1990.
Der Sohn Alfred Haas studierte nach dem Abitur Jura und wurde promovierter Rechtsanwalt. Dass er konservativ war und 1923 als Referendar in Ingelheim den Rathaussturm durch reichsfeindliche, frankreich-freundliche Separatisten verhinderte, half ihm im 3. Reich nicht. Schon im April 1933 wurde ihm die Zulassung entzogen. Der verheiratete Anwalt bekam Berufsverbot [Anm. 39] und flüchtete im selben Jahr in die USA. [Anm. 40]
Dieses Bild zeigt ihn (links) in Stadecken mit seinem christlichen Freund Peter Ludwig Axt und seiner Ehefrau Edith. Alfred Haas starb 1964 in New York, dort hatte er wieder als Rechtsanwalt gearbeitet.
Auch Hermine Haas, Heinrichs Ehefrau – die Mutter von Alfred und Moritz Haas – flüchtete nach Amerika. Ihre Urenkelin Amy Gorton war vor einem Monat in Stadecken und hat auch den jüdischen Alfred Haas, Peter Ludwig Axt, Edith Haas Friedhof Jugenheim besucht. Ihr und ihrer Mutter Ruth verdanke ich viele Informationen und Fotos.
Es gab in der Gemeinde – wie in der ganzen Region – ein reges jüdisches Leben. Jüdische Feste wurden öffentlich, etwa auf Bällen, und privat gefeiert. Die Namen von Gemeindevorständen, jüdischen Lehrern und Vorbetern sind bekannt. Zentrum des jüdischen Gemeindelebens waren die Synagogen. Waren die Stadecker Juden gläubig? Einige ganz sicher. Als Moses Haas und Samuel Mayer 1863 den Tod von Martha Neumann, geb. Michel, der Witwe von Michael Neumann bezeugen sollten, unterschrieben sie die Sterbeurkunde nicht. Der Bürgermeister hielt fest: "Die Deklaranten erklärten jedoch in Gemäßheit bestehender Verordnungen des israelitischen Kultus, heute, an ihrem Neujahrstage, nicht unterschreiben zu dürfen und verweigerten deswegen ihre Unterschriften." [Anm. 41]
Viele Landjuden dürften ähnlich konservativ gewesen sein, wie ihre christlichen Nachbarn. Die orthodoxe Zeitschrift "Der Israelit" wurde in den jüdischen Familien der Region viel gelesen.
Über die nationalistischen, rassistischen, antisemitischen Übergriffe nach der Reichsgründung 1871 habe ich berichtet. Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg, der Wirtschaftskrise, der Diffamierung der Weimarer Republik und dem damit einhergehenden erstarkenden, aggressiven völkischen Nationalismus, der die Juden als Sündenbock benutzte, muss ich in Stadecken eigentlich nicht berichten. Nur so viel: bereits 1926 bildeten sich NSDAP-Zellen, 1928 formierte sich die Partei offiziell, 1929 gründete sich die SA, im selben Jahr meldete das Kreisamt Mainz an die Landeskriminalpolizei Darmstadt: ganz Stadecken, von wenigen Familien abgesehen, sei nationalsozialistisch geworden. [Anm. 42]
Bei den Wahlen 1930 bekam die NSDAP mehr als über 60 % der Stimmen, bei allen folgenden Wahlen immer über 90%. 1931 hatte die Knüppelgarde der NSDAP in Stadecken, der SA-Sturm 31/117, ca. 12-15 Mitgliedern. Aufgabe: den Parteiwillen mit Gewalt durchsetzen.
1932 sollte Stadecken "Hitlerhausen" heißen. Entsprechende Hinweise waren im Ort unübersehbar. Die Dorfjugend wurde indoktriniert. Von 1933 an wurden jüdische Geschäfte und Geschäftsleute boykottiert, Vereine gleichgeschaltet und jüdische Mitglieder rausgeworfen. Druck wurde gegenüber allen ausgeübt, die gegen Kinder als SA-Nachwuchs die Hitlerpartei waren, auch Christen wurden denunziert. 1935 sorgten die Nürnberger Rasse-Gesetze für eine Ausgrenzung von Juden aus der Gesellschaft. Wer konnte, verkaufte sein Haus – wie die Schwestern Neumann – und flüchtete. Es wurde Juden unmöglich, zu arbeiten und Geld zu verdienen.
Schon lange vor dem offizielles Berufsverbot für jüdische Viehhändler 1937 gab es Ärger, als sich ein Christ, der Landwirt Flohr, traute, bei einem jüdischen Händler eine trächtige Kuh zu kaufen. [Anm. 43]
Aus Stadecken sind keine Berichte darüber bekannt, was in der Pogromnacht 1938 passiert ist. Die Synagoge ist nicht zerstört worden, sie war verkauft, wie auch die ehemals jüdischen Häuser. 1938 wohnten mit höchster Wahrscheinlichkeit keine Juden mehr in Stadecken. Bereits 1931 waren es nur noch elf Personen. Mindestens sechs von ihnen waren vor 1938 entweder gestorben oder wie Max (Markus) Neumann aus der Portstraße 5 ins Ausland geflüchtet. In benachbarten Orten sind Juden spätestens nach den Ereignissen am 09. und 10. Oktober 1938 ins Ausland geflohen – wenn sie das noch konnten.
Emma Friederike Neumann, geborene Gutmann, Bernhard Neumanns Frau, beschrieb nach dem Pogrom in einem Brief an ihre Tochter Gretel die Situation. "... Stühle sind noch genug da. Spiegel keine mehr, aber es ist gut, wenn man sich nicht darin sehen kann... ich lasse alles, wie es steht und liegt, in der Rumpelkammer – (dem) Esszimmer – stehen und liegen. ... ich kann nicht so rasch weg, denn es muss noch vieles geregelt werden. ... Gestern war ein Immobilienagent bei mir – Emma Friederike Neumann geb. Gutmann früher Sparkassendirektor – von dem ich hörte, dass man bis zum 31. Dezember frei verkaufen kann, danach würde anderweitig verfügt." Emma Friederike Neumann konnte nicht mehr flüchten. Am 03. April 1939 hat sie sich in ihrem Haus in der Kaiserstraße 27 in Mainz mit Gift getötet. Von den Jüdinnen und Juden, die nicht flüchten konnten, hat nur eine winzige Minderheit die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt. Zu ihnen gehörte Amalie Marx, die Tochter von Moses und Fanny Neumann.
Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit und habe eine Bitte. Stadecken hat eine Geschichte, die nicht vergessen werden darf. Die Namen der vertrieben und ermordeten ehemaligen jüdischen Mitbürger*innen müssen in Erinnerung bleiben, auch die von Ruth und Hannah Haas aus der Frankreichsgasse.
Ruth Haas, heute Ruth Gorton, ist 92 Jahre alt. Sie lebt in Florida. Ihre Tochter Amy war im September 2022 hier, um ihr Elternhaus zu sehen und um den jüdischen Friedhof in Jugenheim zu besuchen. Auch ihr Vater Moritz war hier, 1958. [Anm. 44]
Bei solchen Besuchen fällt auf: es gibt in Stadecken weder Stolpersteine noch eine Gedenktafel für die Opfer und die Vertriebenen. Auch ist die ehemalige Synagoge nicht zu erkennen. Es ist eine von wenigen, die das 3. Reich überlebt haben. Sie haben es in der Hand. Es liegt an Ihnen, auch öffentlich an das Unrecht und seine Opfer zu erinnern, damit es sich nicht wiederholt.
Ich verdanke Ruth Gorton-Haas dieses Bild aus der Synagoge in der Langgasse 19. Ihre Mutter hat es auf der Flucht mitgenommen. Es hing an der östlichen Wand, der Wand mit dem Tora-Schrein, der Wand, in deren Richtung gebetet wurde. Heute hängt es in ihrem Wohnzimmer und erinnert sie jeden Tag an den Ort, in dem sie geboren und aus dem sie und ihre Familie vertrieben wurde.
Nachweise
Autor: Wolfhard Klein
Redaktionelle Bearbeitung: Jonathan Bugert
Aktualisiert am: 20.04.2023
Anmerkungen:
- Löwenstein, Leopold: Beiträge zur Geschichte der Juden in Deutschland, Band 1. Geschichte der Juden in der Kurpfalz, nach gedruckten und ungedruckten Quellen dargestellt, Frankfurt a. M., 1895, Seiten 41,46 und 54. Zurück
- General LA Karlsruhe, Bestand 77, Nr. 3026 Landjudenschaft (1735-1746). Zurück
- LA Speyer, A 24. Zurück
- Die Register der Namen und Vornamen der Juden existieren beispielsweise in Wörrstadt und Vendersheim, in Stadecken sind sie nicht erhalten. Zurück
- Die Familienstandsregister der Gemeinde Stadecken wurden im Archiv des Standesamtes der Verbandsgemeinde Nieder-Olm eingesehen. Zurück
- Ortsbürgerregister der Gemeinde Stadecken 1837. Zurück
- Kreisverwaltung (Hrsg.) Jüdische Grabstädten im Kreis Bad Kreuznach, S. 438. Zurück
- Heiratsurkunden Gemeinde Hellevoetsluis/Niederlande 1828/3 und 1829/9, Sterbeurkunden Hellevoetsluis 1831/7 und 1852/102. Zurück
- Schaab, 1855. Diplomatische Geschichte der Juden im Kanton Nieder-Olm, S. 458. Zurück
- Alemannia Judaica: Synagoge Stadecken. Zurück
- Diese Pläne hat der Heimat- und Geschichtsverein Stadecken gesammelt und zur Verfügung gestellt. Zurück
- Landesadressbuch für das Großherzogtum Hessen, Bd. II, Provinz Rheinhessen, Darmstadt 1906. Zurück
- Heimat- und Geschichtsverein Stadecken. Zurück
- Elisabeth Strippel im Gespräch mit Jürgen Beck, Stadecken. Zurück
- Zeitzeugen-Befragung durch Jürgen Beck, Stadecken. Zurück
- HS 1864, Register. Zurück
- Bürgerverzeichnis Stadecken 1835. Zurück
- Bürgerverzeichnis Stadecken 1835. Zurück
- HMainz 1881/168. Zurück
- SS 1832/5. Zurück
- Privatarchiv Yann Mars, Vitrolles. Zurück
- SS 1860/11. Zurück
- Der Israelit, 06.08.1881. Zurück
- Der Israelit, 16.03.1881. Zurück
- Blatt 115/116, Kreisamt Mainz, 07.02.1881. Zurück
- LA Speyer, A 24, Dokument 3957. Zurück
- Heiratsregister Stadecken/15, Vermerk: S.A. 1. Zurück
- Amtsgericht Mainz, Stadecken, Grundbuchblatt 304, Seite 1 und 2. Zurück
- Amtsgericht Mainz, Stadecken, Grundbuchblatt 304, Notiz vom 19.9.1910 und Brief von Heinrich Haas an das Amtsgericht Nieder Olm vom 6.Februar 1927. Zurück
- LA Speyer, U 176 Nr. 76, Blatt 85, Kreisamt an Bürgermeister. Zurück
- LA Speyer, U 176 Nr. 76, Blatt 89, Kreisamt an Bürgermeister, 1.9.1892. Zurück
- Sterberegister Stadecken 1931/7. Zurück
- Vgl. Grabstein B 2, Ernst Haas. Zurück
- Amtsgericht Mainz, Stadecken, Grundbuchblatt 304, Kaufvertrag vom 9.11.1931. Zurück
- LA Speyer, U 176 Nr. 76, Blatt 133/134. Mitteilung des Kreisamts Mainz an den Stadecker Bürgermeister und den Mainzer Rechtsanwalt Dr. Alfred Haas. Zurück
- Amtsgericht Mainz, Stadecken, Grundbuchblatt 304, Löschungsbewilligung vom 30.9.1974. Zurück
- Meyer, Hans Georg und Gerd Mentgen: Sie sind mitten unter uns, Ingelheim 1998, S. 614. Zurück
- Meyer, Hans Georg und Gerd Mentgen: Sie sind mitten unter uns, Ingelheim 1998, S. 205. Zurück
- Krach, Tillmann: Die Verfolgung und Ermordung der Mainzer Anwälte jüdischer Herkunft, S. 16 - 22 Zurück
- Stadtarchiv Mainz, NL Opp., Auswanderungsliste Mainz, Nachtrag. Zurück
- SS 1863/10. Zurück
- Kreisamt Mainz an Landeskriminalpolizei Darmstadt, 29.10.1929 - LA Speyer H 53, Nr. 314. Zurück
- Telefonat Wolfhard Klein mit der Enkelin im August 2020. Zurück
- Telefonat Wolfhard Klein mit Ruth Haas, 06.10.2022. Zurück