Wasser für Selzen
0.1.Die Geschichte des Wasserwerk Selzen in Schwabsburg
Die Gemeindevertreter von Selzen reagierten einfallsreich und einzigartig auf den bedrohlichen Wassermangel am Ende des 19. Jahrhunderts. Letzlich schlugen sie dann aber doch einen unglücklichen Sonderweg für die Zukunft ein.
Die ersten "Selzer" fanden damals beste Voraussetzungen für eine dauerhafte Besiedlung. Ein fruchtbarer und leicht zu bearbeitender Boden und eine gesicherte Wasserversorgung durch die Selz, kleine Bäche und Quellen.
Dies änderte sich im Laufe der Jahrhunderte, Bäche und Quellen versiegten oder konnten den Bedarf durch die zunehmende Bevölkerung und Tierhaltung nicht mehr befriedigen. Auch das Wasser der Selz war durch seine Trägheit, Verschlammung, menschliche Einflüsse und Tierhaltung nicht bedenkenlos zu nutzen. Zudem befand sich nicht jeder Hof an einer Wasserentnahmestelle und so musste das Wasser mit Eimern oder Fässern täglich mühsam von Quellen herbeigeschafft werden.
0.1.1.Dem Nachbar das Wasser abgegraben
Etwas Abhilfe brachten die Haus- und Hofbrunnen, die durch Grundwasser gespeist wurden. Allerdings war die Ergiebigkeit der wasserführenden Schichten in Selzen sehr gering und wenn die Brunnen nahe beieinander lagen, dann grub man sich gegenseitig das Wasser ab.
Tatsächlich sind die Selz-Orte wie zum Beispiel Framersheim, Gau-Köngernheim, Gau-Odernheim, Bechtolsheim, Friesenheim, Köngernheim, Hahnheim und auch Selzen von Natur aus arm an Wasser, denn das Selzbachtal besitzt keine Ablagerungen entlang der Selz. Es fehlen daher Kiese und Sande, in denen sich ein Grundwasserstrom bilden und fortbewegen könnte [Anm. 1].
0.1.2.Das Wasser bis zum Hals
Und so war die kritische Wasserversorgung auch immer ein Thema in Selzen. Am 18.03.1863 beschloss die Selzer Gemeindevertretung unter dem Bürgermeister Balthasar Binzel III. den Bau der ersten Wasserleitung [Anm. 2]. Hierzu wurde ein Brunnenhaus über einer höhergelegenen und etwas ergiebigeren Quelle gebaut. Über ein Wasserrohr wurde dann mittels Gefälle ein zentraler und öffentlicher Brunnen versorgt. Hierbei handelte es sich wohl um den alten zugemauerten Dorfbrunnen seitlich der L425 zwischen Selzen und Mommenheim.
Dieser speiste einst unterirdisch die „Gussebump“, eine öffentliche Wasserentnahmestelle, an der Gaustraße /Ecke Tränkgasse.
Aber das war natürlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wieviel Wasser brauchte Selzen? Bei Berechnungen zur zukünftigen Wasserversorgung wurde am Ende des 19. Jahrhunderts ein sehr großzügig gerechneter Maximaltagesbedarf von 50 Liter je Einwohner, 50 Liter je Großvieh und 10 Liter je Kleinvieh zugrunde gelegt [Anm. 3]. Selzen hatte um das Jahr 1900 etwa 900 Einwohner. Nimmt man die Zahlen vergleichbarer Dörfer in Rheinhessen mussten in Selzen - vorsichtig geschätzt - in etwa 450 Stück Großvieh und 500 Kleintiere mitversorgt werden. Nach dieser Berechnung hätte Selzen am Tag maximal bis zu 72.500 Liter Wasser benötigt!
0.1.3.Nah am Wasser gebaut
Für die rheinhessischen Orte direkt am Rhein war die Wasserversorgung nie ein Problem. Aber im Hinterland der damaligen großherzoglich-hessischen Provinz Rheinhessen herrschte bedrohlicher Wassermangel in den Gemeinden. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hatten Bevölkerung und Wirtschaft der damaligen Provinz Rheinhessen deutlich zugenommen. Infolge geringer örtlicher Wasservorkommen und einer Reihe ungewöhnlich trockener Jahre konnte die Wasserversorgung den Bedarf nicht mehr decken [Anm. 4]. Allmählich geriet sie in einen sehr kritischen Zustand mit existenz- und gesundheitsbedrohlichen Auswirkungen.
Die Versorgung konnte dann häufig nur noch gewährleistet werden, indem man das kostbare Gut weit weg aus Quellen und kleinen Gewässern entnahm und auf stundenlangen Wegen mit Ochsenkarren herankarrte [Anm. 5]. Sehr stark von Wassermangel betroffen war zum Beispiel Lörzweiler. In dieser Gemeinde musste fast den größten Teil des Jahres das nötige Wasser, mit Hilfe von Fuhrwerken, aus Harxheim oder Nackenheim herbeigeschafft werden [Anm. 6].
Um diese Missstände zu beheben richtete der Großherzog Ernst Ludwig (1892-1918) am 24. Juni 1895 in seinen Provinzen sogenannte "Kulturinspektionen" ein, die Vorläufer der heutigen Wasserwirtschaftsämter. Deren Ziel war es, die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern [Anm. 7].
Die Gemeinden fern von den wasserführenden Sand- und Kiesschichten des Rheintals wurden in fünf Gruppen zusammengefasst und sollten zentral von großen Pumpenhäusern mit Wasser aus rheinnahen und ergiebigen Quellen versorgt werden. Dem Baurat Bruno von Boehmer gelang es somit, ein fast flächendeckendes Wasserversorgungsnetz für Rheinhessen aufzubauen.
So versorgte seit 1905 die Wasserversorgung Gruppe II mit dem Pumpwerk in Bodenheim unter anderem die Gemeinden Nackenheim, Harxheim, Lörzweiler und Mommenheim [Anm. 8].
Die Wasserversorgung des Rhein-Selz Gebietes (Gruppe V) bildete die umfangreichste Gruppe der rheinhessischen Zentralwasserversorgung. Das Wasserpumpwerk Guntersblum stellte ab 1907, mit einem Grundwasserstrom in der Rheinebene bei Guntersblum als Wasserentnahmestelle, die Versorgung von 26 Gemeinden mit zusammen 26.500 Einwohnern sicher. So auch für Undenheim, Dexheim, Friesenheim, Hahnheim, Köngernheim und Nierstein [Anm. 9].
Allesamt Nachbargemeinden von Selzen. Doch was war mit Selzen selbst?
0.1.4.Mit allen Wassern gewaschen
Selzen war keiner Wasserversorgungsgruppe zugeordnet. Die Gemeinde hatte bereits einige Jahre zuvor einen überaus erstaunlichen und überraschenden Sonderweg eingeschlagen und galt im Jahr 1907 bereits als Selbstversorger.
Wie konnte das dem wasserarmen Selzen gelingen? Bereits fünf Jahre vor Gründung des Wasserverbands Rhein-Selz in Guntersblum suchten die Vertreter der Gemeinde wieder einmal verzweifelt und dringlich nach einer Lösung für die bedrohliche Wasserknappheit in Selzen
Am 24.08.1900 gab es unter dem Bürgermeister Adam Kessel II. eine Beratung zur Anlage einer neuen Gemeindewasserleitung. Am 27.01.1901 entschloss man sich zu Bohrungen in der Gemarkung „Im See“ (Osterberg) [Anm. 10]. Vermutlich erfolglos, denn noch im selben Jahr entschied man sich, einen vollkommen neuen und außergewöhnlichen Plan umzusetzen.
Die Idee könnte im Gemeinderat einmal so formuliert worden sein: „Wenn es in Selzen kein Wasser gibt, warum kaufen wir uns nicht eine Quelle außerhalb von Selzen, bauen ein eigenes Pumpwerk und leiten das Wasser selbst bis nach Selzen?“
Hinter dem Hügelland lag das wasserreichere Rheintal. Und so erwarb die Ortsgemeinde Selzen 1901 in Schwabsburg eine kleine Parzelle auf dem Gelände der Huff’schen Mühle. Dort befand sich eine sehr ergiebige Wasserquelle [Anm. 11].
0.1.5.Wasser aus Schwabsburg
Am 01.05.1902 erfolgte in Selzen unter dem neuen Bürgermeister Martin Ludwig Binzel der Beschluss über die "Verlegung einer Wasserversorgungsanlage" [Anm. 12]. Selzen errichtete sich in Schwabsburg ein eigenes Wasserwerk und erschloss die Quelle mit einem Brunnen von ca. sieben Meter tiefe und drei Meter Durchmesser [Anm. 13].
Das erworbene Grundstück lag auf dem Anwesen in der Backhausgasse 13–15. Dieses hatte Georg Huff II. um 1900 für seinen Sohn Jakob Huff IV. erworben. Dieser unterhielt dort eine Getreidemühle, die ursprünglich über ein Wasserrad vom Wasser des vom Flügelsbach abgezweigten Mühlarmes angetrieben wurde. Um 1965 wurde der Mühlbetrieb eingestellt. Der letzte Müller war Karl Johann Huff (1921–1996) [Anm. 14].
Die Baumaßnahmen für Brunnen, Pumpwerkshalle, Rohrleitungen und Pumpanlagen erfolgten mit großer Schnelligkeit, sodass die Anlage schon 1902 in Betrieb genommen und Selzen zentral mit Wasser aus Schwabsburg versorgt werden konnte.
Mit der Familie Huff wurde ein Dienstleistungsvertrag über den Betrieb der Anlage geschlossen. Sie stellte die Antriebsmaschinen, zunächst Dampfmaschine und Sauggasmotor. 1921 wurde auf einen elektrischen Antrieb der Wasserpumpen umgestellt [Anm. 15]. Ergänzt wurde die Anlage durch den Selzer Wasserhochbehälter östlich des Ortes im Flur „Auf den oberen Spitzäckern“.
0.1.6.Wasser in den Rhein tragen
Die älteren Einwohner von Selzen kennen den Spruch: „Der Selzer Wein ist nur deshalb so gut, weil er mit Schwabsburger Wasser gemacht wurde.“ Genauso gut könnte man aber auch sagen: „Der Schwabsburger Wein mundet so gut, denn sein Wasser floss durch das Selzer Pumpwerk“. Denn bereits 1905 wurden etliche Haushalte in Schwabsburg an die Selzer Versorgungsleitung angeschlossen. 1933, nach Fertigstellung des Hochbehälters in Schwabsburg, wurde sogar die komplette Ortsgemeinde Schwabsburg ebenfalls aus dem "Selzer" Brunnen bespeist. Hierzu gab es im Pumpwerk Selzen für Schwabsburg eine eigene Pumpe [Anm. 16].
0.1.7.Ein Schlag ins Wasser
Die mutige Entscheidung brachte Selzen gegenüber anderen Gemeinden für wenige Jahre einen Vorsprung in der Wasserversorgung. Ob sich das Abenteuer auch finanziell lohnte, ist schwer zu sagen. Langfristig allerdings, waren mit der Unabhängigkeit große Nachteile verbunden. Immer genügend Wasser in Selzen zu haben sollte tatsächlich bis in die 1980er Jahre keine Selbstverständlichkeit sein.
Wasserleitungen bis zum Hauptzähler stehen grundsätzlich im Eigentum des Wasserversorgungsunternehmens. Hinsichtlich dieser Leitungen obliegt ihm auch eine Kontroll-, Instandhaltungs- und Instandsetzungspflicht. In diesem Fall war das die Ortsgemeinde Selzen selbst. Und schon einige Jahrzehnte später war Selzen im Besitz von unzulänglichen und maroden Wasserleitungen.
Der Wehrführer der Selzer Feuerwehr Klaus Bläser (von 1988 bis 2004) erinnert sich: „Das früher alle Feuerwehrübungen auf dem alten Sportplatz stattfanden, hatte den Grund, dass die Wasserleitungen in Selzen total marode waren. Daher war die Wasserentnahme aus der Selz oder von Hofbrunnen die sicherere und damit auch die zu übende Vorgehensweise.“
Hinter dem Rathaus gab es sogar eine Zeit lang ein ständiges Lager mit Wasserrohren, weil immer wieder Wasserrohrbrüche und Versorgungsprobleme auftraten.
Ein weiteres Problem war die auf Dauer zu geringe Dimensionierung der veralteten Wasserrohre in Selzen und vom Wasserhaus zum Ortseingang [Anm. 17]. Und so kam es, dass an Samstagen, den früher traditionellen Bade- und Autowaschtagen, der Wasserdruck regelmäßig in die Knie ging [Anm. 18]. Anfangs half noch ein Anruf bei der Familie Huff in Schwabsburg, die gelegentlich durch einige Handgriffe an der Anlage etwas Verbesserung erreichte. Aber spätestens nach Bezug der Neubaugebiete war es auch damit vorbei.
0.1.8.Sich über Wasser halten
Ab etwa Mitte der 60er Jahre wurden Zug um Zug die Wasserleitungen in den Straßen ausgetauscht. Etwa 70 Jahre später als unsere Nachbargemeinden erfolgte am 29.05.1974 unter Bürgermeister Hubert Geil dann doch der Anschluss des Wasserversorgungsnetzes der Gemeinde Selzen an die Hauptwasserleitung des Wasserversorgungsverbands Guntersblum [Anm. 19]. Eine erste schnelle Maßnahme war 1975 die Verlegung einer Notwasserleitung von Hahnheim nach Selzen.
1982 hatte das Wasserwirtschaftsamt festgestellt, dass das Wasser aus Schwabsburg, welches noch immer Teil der Wasserversorgung von Selzen war, extrem hohe Nitratwerte aufwies. Das Wasserwirtschaftsamt verteilte daraufhin mit einem kleinen Tankwagen kostenlos nitratarmes Wasser in Selzen. Wie früher kamen die Bürger mit Eimer und Kanister an zentrale Stellen, um trinkbares Wasser mühsam nach Hause zu holen [Anm. 20].
Das bedeutete das Ende des Selzer Wasserwerks. Die Wasserförderung in Schwabsburg wurde eingestellt. Die jährliche Förderleistung betrug zuletzt ca. 100.000 Kubikmeter.
Erst 1983 war in Selzen der Wasserdruck durch Austausch der letzten Wasserleitungen konstant und ausreichend. Das verwegene und außergewöhnliche Abenteuer mit einem eigenen Wasserwerk für Selzen war Geschichte.
0.1.9.Nachweise
Verfasser: Stefan Bremler
Redaktionelle Bearbeitung: Stefan Bremler
Verwendete Literatur:
- Boehmer, Bruno von: Wasserversorgung des Rhein-Selz-Gebietes. München 1907,
https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2048807?query=wasserversorgung (Aufruf 19.07.2021). - Boehmer, Bruno von: Wasserversorgung des Bodenheimer Gebietes. Mainz 1905,
https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2047002?query=wasserversorgung (Aufruf 19.07.2021). - Marschall, Bernhard (Bearb.): Selzen - Geschichte und Geschichten einer Selztalgemeinde. Selzen 2007.
- Huff, Walter: Das Wasserwerk. In: 75 Niersteiner Orte, die Geschichte(n) erzählen. Hg von Hans-Peter Hexemer, Nierstein 2017.
- Lamberth, Werner: Der Wasser-Hochbehälter. In 75 Niersteiner Orte, die Geschichte(n) erzählen. Hg von Hans-Peter Hexemer, Nierstein 2017.
- Selzer Ortsschell. Ausgaben Nr. 9 (Mai 1982), Nr. 10 (Oktober 1982), Nr. 12 (April 1983) und Nr. 13 (Juli 1983).
- Wasserversorgung Rheinhessen-Pfalz GmbH: Die Geschichte der wvr.
https://www.wvr.de/unternehmen/historie (Aufruf 19.07.2021)
Aktualisiert: 18.10.2021
Anmerkungen:
- Boehmer 1907, S. 13ff Zurück
- Marschall 2007, S. 130ff Zurück
- Boehmer 1907, S. 13ff Zurück
- wvr, Historie Zurück
- wvr, Historie Zurück
- Boehmer 1905, S. 13ff Zurück
- wvr, Historie Zurück
- Boehmer 1905, S. 15ff Zurück
- Boehmer 1907, S. 13ff Zurück
- Marschall 2007, S. 130ff Zurück
- Huff 2017, S. 146 Zurück
- Marschall 2007, S. 130ff Zurück
- Huff 2017, S. 146 Zurück
- Huff 2017, S. 146 Zurück
- Huff 2017, S. 146 Zurück
- Lamberth 2017, S. 144 Zurück
- Ortsschell 1982, Ausgabe 9 Zurück
- Ortsschell 1982, Ausgabe 10 Zurück
- Marschall, 2007, S. 130ff Zurück
- Ortsschell 1983, Ausgabe 12, 13 Zurück