Hunsrück

0.8. Dialektalität ("Dialekttiefe")

Dialektwörter variieren häufig in ihrer lautlichen Struktur. So haben wir im Hunsrück beispielsweise die Ausdrücke Drichter, Driichter, Dreechter und Driiter. Ihnen entspricht standarddeutsch Trichter (vgl. Karte 19). Schon ein flüchtiger Blick auf die vier Dialektformen lässt erkennen, dass diese unter­schiedlich stark vom standardsprachlichen Wort abweichen. Drichter steht Trichter lautlich näher als z. B. Dreechter. Man kann sagen, Dreechter klingt „dialektaler“ als Drichter, obwohl beide Varianten jeweils der tiefsten Schicht eines Dialekts (= Basisdialekt) angehören. Daneben gibt es Wörter, die im Dialekt und in der Standardsprache gleichlautend sind, wie z. B. Schnee (vgl. Karte 13), fest (vgl. Karte 30) und Zahn (vgl. Karte 35) in man­chen Teilen des Hunsrücks.

Der phonetische Abstand eines Dialektausdrucks zu seinem standard­sprachlichen Gegenstück lässt sich bestimmen. Hierfür wurde ein spezielles Messverfahren entwickelt, bei dem die Differenzen in Zahlenwerten (Dia­lektalitätspunkten) ausgedrückt werden können (vgl. Herrgen/ Schmidt 1989). Die Messmethode geht folgendermaßen: Verglichen wird ein Dia­lektwort mit dem entsprechenden Wort der Standardsprache. Jede Abwei­chung bei einem lautlichen Merkmal wird mit einem Punkt gezählt. Der Ge­samtwert, das heißt der Dialektalitätswert (= D-Wert) für ein Wort ergibt sich aus der Summe der einzelnen Lautunterschiede. Die folgenden beiden Bei­spiele mögen das Prinzip veranschaulichen. Es muss vorausgeschickt wer­den, dass für die Analyse eine sehr genaue phonetische Umschrift der zu vergleichenden Wörter vorliegen muss. Diese erfolgt mit Hilfe eines spezi­ellen Notationssystems, das die International Phonetic Assosiation entwi­ckelt hat. Der Einfachheit halber werden hier die Beispielwörter nicht in der wissenschaftlichen Transkription wiedergegeben, sondern in der sog. litera­rischen Umschrift mittels unserer „normalen“ Orthographie. Kommen wir nun zu unseren Beispielen und nehmen an, dass in einem Dialekt drischda (typisiert: Drichter) und in einem anderen dreeschda (typisiert: Dreechter) für ʻTrichterʼ gesagt wird, so ergeben sich jeweils folgende Differenzwerte zur Standardsprache:

Beispiel drischda:

DialektStandardphonetische DifferenzD-Wert
dtstimmhaft vs. stimmlos1 Punkt
rrkeine0 Punkte
iikeine0 Punkte
schchZahndamm vs. harter Gaumen1 Punkt
dtstimmhaft vs. stimmlos1 Punkte
aakeine0 Punkte
Dialektalitätswert:3 Punkte

Beispiel dreeschda:

DialektStandardphonetische DifferenzD-Wert
dtstimmhaft vs. stimmlos1 Punkt
rrkeine0 Punkte
eei1. lang vs. kurz
2. offen vs. geschlossen
2 Punkte
schchZahndamm vs. harter Gaumen1 Punkt
dtstimmhaft vs. stimmlos1 Punkt
aakeine0 Punkte
Dialektalitätswert5 Punkte

Der Dialektausdruck drischda weicht vom standarddeutschen trichta bei drei phonetischen Merkmalen ab. Er hat deshalb den Dialektalitätswert 3. Die Dialektform dreeschda hingegen weist fünf phonetische Differenzen auf. Sie erhält folglich den Dialektalitätswert 5. Der niedrigere Dialektalitätswert bei drischda zeigt, dass die Form lautlich näher an der standardsprachlichen Entsprechung liegt als dreeschda mit dem höheren Wert. Anders ausge­drückt: drischda hat weniger „Dialekttiefe“ als dreeschda.

Der Mittelrheinische Sprachatlas (vgl. Kap. 1.) hat für 170 Belegpunkte die Dialektalitätswerte für jeweils 100 Wörter (stets die gleichen) ermittelt. Somit sind statistisch zuverlässige Angaben zur „Tiefe“ eines Ortsdialekts möglich. Karte 8 verzeichnet die Dialektalitätswerte für die 43 untersuchten Orte, die in unserem Gebiet liegen. Um die Raumstrukturen optisch besser hervortreten zu lassen, wer­den aus den ermittelten Zahlen vier Klassen ge­bildet. Klasse 1 rekrutiert sich aus Ortssprachen mit ei­nem Dialektalitäts­wert von 2,21 bis 2,50, das heißt in diesen Dialekten weicht ein Wort in durch­schnittlich 2,21 bis 2,50 phonetischen Merkmalen von der Standardsprache ab. Klasse 2 umfasst die Dialektalitätswerte von 2,51 bis 2,80, Klasse 3 von 2,81 bis 3,10 und Klasse 4 von 3,11 bis 3,40. Der Karte ist zu entnehmen, dass die „Dialekttiefe“ in unserem Gebiet von Ost nach West zunimmt. Man kann es auch anders sagen: Die rheinfränkischen Hunsrücker Dialekte ha­ben eine relativ geringe Dialektalität. Diese nimmt im Übergangsareal zum Moselfränkischen zu und erreicht im Moselfränki­schen, besonders um Trier die höchsten Werte im Untersuchungsraum.


Mit der größeren „Dialekttiefe“ der moselfränkischen Dialekte hängt zusammen, dass diese weniger gut verstanden werden als die rheinfränki­schen mit ihrer geringeren Dialektalität. Das heißt konkret: Nur-Standard­sprecher und Sprecher entfernter Dialekte (wie z. B. Bairisch, Westfälisch) verstehen Rheinfränkisch besser als Moselfränkisch. Moselfranken verste­hen die standardnäheren, rheinfränkischen Dialekte besser als Rheinfranken die standardferneren, moselfränkischen Dialekte.

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